© 2020 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 201/19 Voraussetzungen einer Beschränkung der Verpflichtung zur Leistung von Elternunterhalt Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 201/19 Seite 2 Voraussetzungen einer Beschränkung der Verpflichtung zur Leistung von Elternunterhalt Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 201/19 Abschluss der Arbeit: 07. Januar 2020 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 201/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Tatbestandliche Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs von Eltern gegenüber ihrem Kind 4 2.1. Bedürftigkeit des fordernden Elternteils 4 2.2. Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Kindes 5 2.3. Kein Entfall der Unterhaltspflicht 5 2.3.1. Eintritt der Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden 5 2.3.2. Verletzung der eigenen Unterhaltspflicht 6 2.3.3. Schwere Verfehlung des Unterhaltsberechtigten 6 3. Verfahrensrecht und Beweislast 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 201/19 Seite 4 1. Einleitung § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)1 verpflichtet Verwandte in gerader Linie, einander Unterhalt zu gewähren. Sofern und soweit Kinder gegenüber ihren Eltern unterhaltspflichtig sind, spricht man von Elternunterhalt.2 Nachfolgend soll zunächst ein kurzer Überblick über die tatbestandlichen Voraussetzungen des Elternunterhalts dargestellt werden. Im Anschluss sollen exemplarisch einzelne der in Rechtsprechung und Literatur diskutierten Fallgestaltungen aufgezeigt werden, die zu einem Entfallen der Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern führen können. 2. Tatbestandliche Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs von Eltern gegenüber ihrem Kind Ein Unterhaltsanspruch von Eltern gegenüber ihrem Kind besteht grundsätzlich nur, sofern der fordernde Elternteil seine Bedürftigkeit nachweist (vgl. § 1602 BGB sowie nachstehend 2.1); das in Anspruch genommene Kind leistungsfähig ist (vgl. § 1603 BGB sowie nachstehend 2.2) und die Unterhaltspflicht nicht entfallen ist (vgl. § 1611 BGB sowie nachstehend 2.3). 2.1. Bedürftigkeit des fordernden Elternteils Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 Abs. 1 BGB nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten . Das ist der Fall, wenn die vorhandenen eigenen Mittel nicht ausreichen, um den angemessenen Bedarf (vgl. § 1610 BGB) zu decken.3 Das Maß des Unterhalts wird maßgeblich durch die Lebensstellung des bedürftigen Elternteils bestimmt und besteht mindestens in Höhe des Existenzminimums .4 Der Bedarf des Elternteils richtet sich – anders als etwa beim volljährigen, noch in Ausbildung befindlichen Kind – nicht nach einer abgeleiteten Lebensstellung, sondern ist eigenständig zu bestimmen; der Umstand, dass das unterhaltspflichtige Kind gegebenenfalls selbst in besseren Verhältnissen lebt, beeinflusst den elterlichen Bedarf folglich nicht.5 Der den Anspruch stellende Elternteil hat seine Bedürftigkeit für den Unterhaltszeitraum zu beweisen, wobei sich die Beweislast auch darauf erstreckt, dass diesem weder anrechenbare Einkünfte noch verwertbares eigenes Vermögen zur Verfügung stehen.6 1 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.01.2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Artikel 24 des Gesetzes zur Umsetzung der RL (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die VO (EU) 2016/679 vom 20.11.2019 (BGBl. I S. 1724), abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ (letzter Abruf: 06.01.2020). 2 Vgl. etwa Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1601 BGB, Rn. 10. 3 Vgl. Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1602 BGB, Rn. 2. 4 Vgl. Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1610 BGB, Rn. 134, 135. 5 Vgl. BGH, Urteil vom 19.02.2003, Az.: XII ZR 67/00, NJW 2003, 1660. 6 Vgl. Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1602 BGB, Rn. 121. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 201/19 Seite 5 2.2. Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Kindes Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. § 1603 Abs. 1 BGB folgt damit dem allgemeinen Grundsatz, dass zunächst der eigene angemessene Unterhalt des Schuldners gewährleistet sein muss, bevor eine Inanspruchnahme auf Elternunterhalt in Betracht kommt.7 Sofern das Kind also selbst nicht leistungsfähig ist, ist es auch nicht zum Elternunterhalt verpflichtet.8 Die Leistungsfähigkeit vorausgesetzt, muss das unterhaltspflichtige Kind zum Unterhalt seiner Eltern sowohl das eigene Einkommen als auch das eigene Vermögen einsetzen.9 2.3. Kein Entfall der Unterhaltspflicht Nach § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB kann die Unterhaltspflicht teilweise oder ganz entfallen, wenn der Unterhaltsberechtigte durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden ist, er seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat. Sofern und soweit sich der Unterhaltsberechtigte gegen den Unterhaltsverpflichteten stellt oder in der Vergangenheit gestellt hat, soll dessen eigener Anspruch auf Unterhalt mithin verwirkt sein, wobei das Ausmaß der Verwirkung von der Art und der Schwere des Verstoßes abhängen und in jedem Einzelfall zu bewerten ist.10 Bei § 1611 handelt sich um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die eine unterhaltsrechtliche Sanktion gegen grobes Fehlverhalten des Unterhaltsberechtigten gegenüber dem unterhaltspflichtigen Kind begründet.11 Sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, braucht das zur Leistung von Elternunterhalt verpflichtete Kind mithin nach § 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB nur einen Beitrag zum Unterhalt in der Höhe zu leisten, die der Billigkeit entspricht. Nach § 1611 Abs. 1 Satz 3 BGB kann die Verpflichtung zudem auch vollständig entfallen, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre. § 1611 Abs. 1 stellt keine vom unterhaltspflichtigen Kind zu erhebende Einrede, sondern eine prozessual von Amts wegen zu berücksichtigende Einwendung dar.12 2.3.1. Eintritt der Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden Die Unterhaltspflicht kann entfallen, wenn das Verhalten, welches die Bedürftigkeit herbeigeführt hat, sittliche Missbilligung verdient, der Unterhaltsberechtigte mithin in vorwerfbarer 7 Vgl. Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1603 BGB, Rn. 3. 8 Vgl. Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1603 BGB, Rn. 2. 9 Vgl. Kemper, in: Schulze, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage 2019, § 1603 BGB, Rn. 2. 10 Vgl. Kemper, in: Schulze, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage 2019, § 1611 BGB, Rn. 1. 11 Vgl. Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1611 BGB, Rn. 1. 12 KG Berlin, Urteil vom 18.12.2001, Az.: 18 UF 35/01, BeckRS 2001, 15015. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 201/19 Seite 6 Weise anerkannte Verbote der Sittlichkeit außer Acht gelassen hat.13 Vor dem Hintergrund der Vielzahl der in Rechtsprechung und Literatur diskutierten Fallgestaltungen, ist eine abstrakt generelle Aussage über mögliche Konstellationen des Entfalls der Unterhaltspflicht nicht möglich. Typische Anwendungsfälle des sittlichen Verschuldens des Eintritts der Bedürftigkeit sind jedoch etwa eine belegte Arbeitsscheu des Unterhaltsberechtigten, dessen Spiel-, Trunk- oder Drogensucht sowie ein übermäßiger Rauschgift- und/oder Alkoholkonsum.14 2.3.2. Verletzung der eigenen Unterhaltspflicht Der Unterhaltsberechtigte darf seine gegenüber dem Unterhaltspflichtigen (in der Vergangenheit) bestehende Unterhaltspflicht nicht selbst gröblich vernachlässigt haben.15 Angenommen wurde dies etwa in einem Fall, bei dem ein in einem Alten- und Pflegeheim untergebrachter Elternteil von seinem Kind Unterhalt begehrte, diesem jedoch infolge einer Trunksucht den damals geschuldeten Kindesunterhalt selbst nicht geleistet hatte.16 2.3.3. Schwere Verfehlung des Unterhaltsberechtigten Der Verwirkungsgrund der schweren Verfehlung setzt einen vorsätzlichen und schuldhaften Verstoß des Unterhaltsberechtigten gegen gewichtige, ihm auferlegte Pflichten und/oder Rechte des Unterhaltspflichtigen selbst oder seines nahen Angehörigen voraus.17 Hierzu genügt nicht bereits jede einfache Verfehlung, sondern diese muss vielmehr schwer wiegen und eine tiefgreifende Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Unterhaltspflichtigen begründen. 18 Nach der Rechtsprechung ist dies etwa dann der Fall, wenn ein Elternteil ihr Kind im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen und sich in der Folgezeit nicht mehr in nennenswertem Umfang um dieses gekümmert hat.19 Als weitere Beispiele werden in der Rechtsprechung tätliche Angriffe20, ständige grobe Beleidigungen und Bedrohungen21 vorsätzliche Kränkungen, falsche 13 Vgl. Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1611 BGB, Rn. 2. 14 Vgl. etwa die Aufstellung von Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1611 BGB, Rn. 2. m.w.N.). 15 Vgl. Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1611 BGB, Rn. 14. 16 AG Germersheim, Urteil vom 05.04.1990, Az.: 2 C 83/90, BeckRS 1990, 03161. 17 BGH, Urteil vom 15.09.2010, Az.: XII ZR 148/09, NJW 2010, 3714. 18 Vgl. Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1611 BGB, Rn. 4. 19 BGH, Urteil vom 19.05.2004, Az.: XII ZR 304/02, NJW 2004, 3109. 20 OLG Celle, Urteil vom 09.02.1993, Az.: 18 UF 159/92, NJW-RR 1994, 324. 21 OLG Hamm, Urteil vom 18.12.1992, Az.: 13 UF 273/92, FamRZ 1993, 468. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 201/19 Seite 7 Anschuldigungen und Schädigungen des Unterhaltspflichtigen in seiner beruflichen und wirtschaftlichen Stellung22, Verleumdungen sowie das Herbeiführen eines unberechtigten Ermittlungsverfahrens gegen die eigenen Eltern23 angesehen. Auch das Verschweigen von anrechenbaren Einkünften im Unterhaltsverfahren kann als versuchter Prozessbetrug bereits die Verwirkung rechtfertigen.24 Die jeweilige Beurteilung hat alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.25 Zu würdigen ist in diesem Zusammenhang sowohl das Verhalten des Unterhaltspflichtigen gegenüber dem Kind wie auch gegenüber dem anderen, die Betreuung leistenden, Elternteil.26 3. Verfahrensrecht und Beweislast Der Unterhaltspflichtige hat in einem auf Unterhalt gerichteten Zivilprozess prozessual darzulegen und zu beweisen, dass die Voraussetzungen für den Ausschlusstatbestand des § 1611 BGB vorliegen.27 Da es sich um eine Einwendung handelt, ist der einen Verwirkungstatbestand ergebende Sachverhalt von Amts wegen zu berücksichtigen, ohne dass ein förmlicher Antrag des unterhaltspflichtigen oder die Erhebung einer Einrede notwendig ist.28 *** 22 OLG Celle, Urteil vom 09.02.1993, Az.: 18 UF 159/92, NJW-RR 1994, 324. 23 OLG Hamm, Urteil vom 21.12.2005, Az.: 11 UF 218/05, NJW-RR 2006, 509. 24 OLG Hamm, Urteil vom 12.01.1995, Az.: 1 UF 355/94, NJW-RR 1996, 198. 25 Vgl. Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1611 BGB, Rn. 4. 26 BGH, Urteil vom 25.01.1995, Az.: XII ZR 240/93, NJW 1995, 1215. 27 Vgl. Reinken, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 01.11.2019, § 1611 BGB, Rn. 9. 28 Vgl. Langeheine, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1611 BGB, Rn. 55.