Deutscher Bundestag Erweiterung der verwaltungsprozessualen Klagerechte von Umweltverbänden Gesetzgeberischer Handlungsbedarf nach dem EuGH-Urteil vom 12. Mai 2011 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 7 – 3000 – 201/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 201/11 Seite 2 Erweiterung der verwaltungsprozessualen Klagerechte von Umweltverbänden Gesetzgeberischer Handlungsbedarf nach dem EuGH-Urteil vom 12. Mai 2011, Rechtssache C-115/09 Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 7 – 3000 – 201/11 Abschluss der Arbeit: 26. September 2011 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 201/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Das Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 zum Trianel Kohlekraftwerk Lünen 5 3. Handlungsbedarf des deutschen Gesetzgebers 6 3.1. Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung 6 3.2. Änderung des § 2 UmwRG 6 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 201/11 Seite 4 1. Fragestellung Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 12. Mai 2011 im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen Folgendes festgestellt: „Art. 10a Richtlinie 85/337/EWG steht Rechtsvorschriften entgegen, die einer Nichtregierungsorganisation im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Richtlinie 85/337/EWG, die sich für den Umweltschutz einsetzt, nicht die Möglichkeit zuerkennen, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der Projekte, die im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG ‚möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben‘, genehmigt werden, vor Gericht die Verletzung einer Vorschrift geltend zu machen, die aus dem Unionsrecht hervorgegangen ist und den Umweltschutz bezweckt, weil diese Vorschrift nur die Interessen der Allgemeinheit und nicht die Rechtsgüter Einzelner schützt.“1 Dieses Urteil des EuGH könnte Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber auslösen, denn der Gerichtshof urteilte darin, dass es Umweltverbänden nicht nur möglich sein soll, subjektive Rechte geltend zu machen, sondern auch solche Rechtspositionen, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen. Das deutsche Verwaltungsprozessrecht geht im Grundsatz, soweit nichts anderes bestimmt ist, von einer Klagebefugnis aus, wenn die Verletzung eigener subjektiver Rechte behauptet wird, § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)2. § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Umwelt- Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG)3 normiert die spezifische Klagebefugnis von Vereinigungen im Umweltrecht. Danach ist eine Vereinigung auch dann klagebefugt, wenn sie eine Rechtsverletzung subjektiver, aber nicht notwendig eigener Rechte geltend macht. § 61 des Gesetzes über Naturschutz und Landschaftspflege a.F. (BNatSchG)4, der einen engen Anwendungsbereich hat, verzichtet vollends auf das Erfordernis subjektiver Rechte für die Bejahung einer Klagebefugnis.5 1 EuGH, Rs. C-115/09 vom 12.05.2011, erster Leitsatz (EuZW 2011, 510); die Richtlinie, auf die sich der EuGH bezieht ist die sog. „UVP-Richtline“, Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 175, 40 in der durch die Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 geänderten Fassung, ABl. L 156, 17. 2 Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März 1991, BGBl. I, 686, die zuletzt durch Artikel 9 des Gesetzes vom 22. Dezember 2010, BGBl. I, 2248, geändert worden ist. 3 BGBl. I 2006, 2816. 4 BGBl. I 2002, 1193. 5 Dieser lautet: „(1) Ein (…) anerkannter Verein kann, ohne in seinen Rechten verletzt zu sein, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung einlegen gegen 1. Befreiungen von Verboten und Geboten zum Schutz von Naturschutzgebieten, Nationalparken und sonstigen Schutzgebieten im Rahmen des § 33 Abs. 2 sowie 2. Planfeststellungsbeschlüsse über Vorhaben, die mit Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden sind, sowie Plangenehmigungen, soweit eine Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen ist.“Nunmehr § 64 BNatSchG, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege vom 29. Juli 2009, BGBl. I, 2542; Inkrafttreten gem. Art. 27 dieses Gesetzes am 1. März 2010; vgl. auch Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz: Phänomenologie und Systematik, 161 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 201/11 Seite 5 2. Das Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 zum Trianel Kohlekraftwerk Lünen In dem Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Geltendmachung eines Verstoßes gegen wasser - und naturschutzrechtliche Vorgaben der Habitatrichtlinie6 durch einen Umweltverband.7 Das Oberverwaltungsgericht sah sich auf Grund der Rechtslage außer Stande, eine Klagebefugnis zu Gunsten des Verbands wegen des Verstoßes gegen objektive Rechtsvorschriften zu bejahen. So bestimmt § 2 Abs. 1 Nr. 1 des UmwRG, dass ein Umweltverband dann zur Einlegung eines Rechtsbehelfs befugt ist, wenn die Maßnahme die Rechte Einzelner betrifft. Die Vorschriften, deren Verletzung behauptet wurde, betreffen jedoch den Schutz der Allgemeinheit und begründen keine Rechte Einzelner. § 61 BNatSchG war für die Konstellation nicht anwendbar. Da die Vorschriften, deren Verletzung die Kläger rügten, durch die Habitatrichtlinie vorgeprägt wurden, könnte die Unzulässigkeit der Klage die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigen . Dazu tritt, dass sowohl das Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus)8, dessen Vertragspartei die Europäische Gemeinschaft , nunmehr Europäische Union,9 ist und auch die Richtlinie 85/337/EWG (UVP-Richtlinie)10 das Ziel haben, eine möglichst breite Öffentlichkeit an derartigen Vorhaben zu beteiligen. Das Oberverwaltungsgericht legte dem EuGH daher die Rechtsfrage vor, ob eine Beschränkung der Rechte von Umweltverbänden wie dies von § 2 UmwRG vorgesehen werde, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.11 6 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 1992, 206, 7, in der durch die Richtlinie 2006/105/EG des Rates geänderten Fassung, ABl. L 2006, 363, 368. 7 Vor dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen klagte der Landesverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gegen einen Vorbescheid und eine Teilgenehmigung für die Errichtung und den Betrieb des Steinkohlekraftwerks „Trianel“; dazu Derksen/Atanasova, Aktueller Begriff – Europa vom 08. September 2011; Meitz, Entscheidung des EuGH zum deutschen Umweltrechtsbehelfsgesetz, NUR 2011, 420 ff.; Durner/Paus, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-115/09 vom 12. Mai 2011, DVBl 2011, 759 ff.; Henning, Erweiterung der Klagerechte anerkannter Umweltverbände – Chance auf mehr Umweltschutz oder Investitionshindernis?, NJW 2011, 2765 ff. 8 Das Abkommen wurde am 25. Juni 1998 unterzeichnet und durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 über den Abschluss des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt, ABl. L 124, 1. 9 Die Europäische Union ist gemäß Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EU Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft. Art. 216 Abs. 2 AEUV lautet: „Die von der Union geschlossenen Übereinkünfte binden die Organe der Union und die Mitgliedstaaten.“ 10 Vgl. dazu Fn. 1. 11 EuGH, Rs. C-115/09 vom 12.05.2011, Rn. 34 (EuZW 2011, 510). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 201/11 Seite 6 Der EuGH urteilte, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten sei, „die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten der Rechtsbehelfe zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“12. Diese nationalen Modalitäten dürften jedoch weder gegen den Äquivalenz- noch gegen den Effektivitätsgrundsatz verstoßen. Eine Beschränkung auf subjektiv-öffentliche Rechte wie die des deutschen Rechts missachte das Ziel des Art. 10a der Richtlinie 85/337. Eine Nichtregierungsorganisation, die sich für den Umweltschutz einsetze, könne folglich im Wege der unmittelbaren Anwendung des Art. 10a Abs. 3 Satz 3 der Richtlinie 85/337 das Recht herleiten, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung der Behörden vor Gericht die Verletzung der aus der Habitatrichtlinie hervorgegangenen nationalen Rechtsvorschriften geltend zu machen.13 3. Handlungsbedarf des deutschen Gesetzgebers Auf Grund europäischer Vorgaben könnte daher die Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers bestehen, die bestehende Rechtsschutzlücke zu schließen. 3.1. Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung Ein Handlungsbedarf des Gesetzgebers bestünde dann nicht, wenn das nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann. Der EuGH hat in den Randnummern 51 ff. des Urteils allerdings nur Stellung zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 10a der Richtlinie 85/337 bezogen. Anders als die Generalanwältin Eleanor Sharpston ging der Gerichtshof nicht auf die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung ein, was dafür spricht, dass das Gericht der Auffassung ist, eine solche käme für eine Norm wie § 2 UmwRG nicht in Betracht.14 Es ist daher, wie dies im Ergebnis auch von der Generalanwältin vertreten wurde, anzunehmen, dass § 2 UmwRG einer solchen nicht zugänglich ist. 3.2. Änderung des § 2 UmwRG Um der unionsrechtlichen Verpflichtung gerecht zu werden, muss der deutsche Gesetzgeber nunmehr im Bereich der gerichtlichen Beurteilung der Rechtmäßigkeit für UVP-pflichtige Vorhaben solche Umweltverbände als klagebefugt anerkennen, die sich nicht auf die Verletzung subjektiv -rechtlicher Normen stützen, sondern auch dann die Klagebefugnis bejahen, wenn die Verletzung objektiv-rechtlicher Normen behauptet wird.15 Hierzu gibt es in der Literatur Überlegungen. So schlägt beispielsweise Sabine Schlacke folgende Reformansätze für den nationalen Gesetzgeber vor: 12 EuGH, Rs. C-115/09 vom 12.05.2011, Rn. 43 (EuZW 2011, 510). 13 EuGH, Rs. C-115/09 vom 12.05.2011, Rn. 59 (EuZW 2011, 510). 14 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston, Rs. 115/09, Rn. 84; Wegener, EuGH-Verfahren zum Umweltrechtsbehelfsgesetz , ZUR 2011, 84 (85) verweist auf die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston, die die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Vorschriften in Betracht zieht. 15 Hellriegel, Anm. zu EuGH, Rs. C-115/09 vom 12.05.2011, EuZW 2011, 512 (513). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 201/11 Seite 7 „Er könnte insofern in beiden Vorschriften den Satzteil ‚Rechte Einzelner begründen‘ streichen. Der Gesetzgeber ist nach der Entscheidung des EuGH freilich nicht verpflichtet , eine Rügebefugnis auch für nicht durch Unionsrecht begründete Umweltvorschriften zu eröffnen. Eine schlichte Streichung der unionsrechtswidrigen Begrifflichkeiten würde allerdings eine Zweigleisigkeit von rügefähigen, auf Unionsrecht beruhenden und nicht rügefähigen, nationalen Umweltvorschriften vermeiden, Auslegungs - und Abgrenzungsunsicherheiten verhindern und systematische Ungereimtheiten unterbinden. Eine darüber hinaus reichende Beseitigung des Individualrechtsschutzsystems und damit einhergehend eine Änderung des § 42 Abs. 2 Halbs. 2 VwGO fordert die vorliegende Entscheidung nicht. Vielmehr stützt sie ein – neben dem Individualrechtsschutz entstehendes – System überindividuellen Rechtsschutzes, dem der Gesetzgeber systematisch -harmonisch durch Einfügung eines § 42a VwGO an zentraler Stelle Ausdruck verleihen könnte.“16 Am 20. Juli 2011 hat der Staatssekretär Jürgen Becker auf eine Anfrage der Abgeordneten Dorothea Steiner (Bündnis ‘90/DIE GRÜNEN) geantwortet, dass die Bundesregierung die Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens für den Herbst vorgesehen hat, um die Vorgaben des Gerichtshofs binnen Jahresfrist umzusetzen.17 16 Schlacke, EuGH: Recht von Umweltverbänden auf Zugang zu einem Überprüfungsverfahren, Anm. zu EuGH Rs. C-115/09, NVwZ 2011, 804 (805). 17 BT Drs. 17/6658, 80.