WD 7 - 3000 - 196/19 (11.12.2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Der vorliegende Kurzinformation befasst sich mit der Frage, ob Kandidaten für ein Mandat im Europäischen Parlament, die sich zum Zeitpunkt ihrer Wahl in Haft befinden, bei Erlangung des Mandats aufgrund von Immunität aus der Haft entlassen werden müssen. Nach Art. 9 lit. a) ProtVB steht den Mitgliedern des Europäischen Parlamentes im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die gleiche Unverletzlichkeit zu wie den nationalen Parlamentsmitgliedern, vgl. Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ProtVB), abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?uri=CELEX%3A12012E%2FPRO%2F07 (zuletzt abgerufen am: 09.12.2019). Der hierdurch gewährleistete Schutz ist folglich abhängig von der Reichweite der Immunität im nationalen Recht, vgl. Urteil des EuGH vom 16.09.2011, C-163/10, abrufbar unter: http://curia.europa.eu/juris /document/document.jsf;jsessionid =18F25E08ED95EEA7E118EEFB2C02159F?text=&docid=109142&pageIndex=0&doclang =DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=6346161 (zuletzt abgerufen am: 09.12.2019). Für die Parlamentsmitglieder der Bundesrepublik Deutschland wird damit auf Art. 46 Abs. 2-4 des Grundgesetzes (GG) Bezug genommen, vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr, Art. 343 AEUV Rn. 83. Nach Art. 46 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung grundsätzlich nur mit Genehmigung des Parlaments zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden. Art. 46 Abs. 3 GG setzt die Genehmigung des Parlaments auch für sonstige Beschränkungen der persönlichen Freiheit wie z.B. jegliche Formen der Haft voraus. Nach Art. 46 Abs. 4 GG besteht die Möglichkeit, die Immunität auch nachträglich, also trotz ggf. vorher erteilter Genehmigung, wiederherzustellen. Beabsichtigt die deutsche Staatsanwaltschaft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen ein Mitglied des Europäischen Parlamentes, so muss sie gem. Art. 192b Abs. 3 RiStBV einen Antrag Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Die Reichweite der Immunität von Abgeordneten des Europäischen Parlaments bei der Vollstreckung von Haft in Deutschland Kurzinformation Die Reichweite der Immunität von Abgeordneten des Europäischen Parlaments bei der Vollstreckung von Haft in Deutschland Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 auf Aufhebung der Immunität beim Europäischen Parlament stellen. In zeitlicher Hinsicht gilt der Schutz nach Art. 9 ProtVB für die Dauer der Sitzungsperiode. Die Immunität gilt nach herrschender Auffassung auch für sog. mitgebrachte Verfahren, also solche, die bereits zu einem Zeitpunkt anhängig waren, als der Betroffene noch nicht Mitglied des Parlaments war und bei Eintritt in das Parlament noch nicht abgeschlossen sind, vgl. BeckOK Grundgesetz/Butzer, Art. 46 GG Rn. 21; Maunz/Dürig/Klein, 88. EL August 2019, Art. 46 GG Rn. 71; Dreier GG/Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2015, Art. 46 GG Rn. 26. Zweifelhaft ist die Reichweite dieser Immunität, wenn bereits vor Erlangung des Mandats mit der Vollstreckung einer Haftstrafe begonnen wurde. Nach dem Wortlaut des Art. 192b Abs. 3 RiStBV muss von der Staatsanwaltschaft für eine beabsichtigte Vollstreckung die Aufhebung der Immunität beantragt werden, vgl. Art. 129b der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) vom 1. Januar 1977 (BAnz. Nr. 245 S. 2), zuletzt geändert durch die Bekanntmachung vom 26.11.2018 (BAnz AT 30.11.2018), abrufbar unter: http://www.verwaltungsvorschriftenim -internet.de/bsvwvbund_01011977_420821R5902002.htm (zuletzt abgerufen am: 09.12.2019). Die Frage, ob die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, die Aufhebung der Immunität zu beantragen hat, wenn die Vollstreckung der Haftstrafe aufrecht erhalten bleibt, ist in den RiStBV nicht geregelt und auch von der Rechtsprechung bisher nicht entschieden worden. Gründe der Rechtssicherheit dürften eher für eine derartige Verpflichtung der Staatsanwaltschaft sprechen. Die praktische Relevanz hierzu wird dadurch entschärft, dass die Wählbarkeit zum Europäischen Parlament gemäß § 6b Abs. 3, 4 Europawahlgesetz (EuWG) in Verbindung mit § 45 Abs. 1 StGB insbesondere dann ausgeschlossen ist, wenn eine Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vorliegt, vgl. § 6b des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz – EuWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. März 1994 (BGBl. I S. 423, 555, 852), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes v. 18. Juni 2019 (BGBl. I S. 834), abrufbar unter: https://www.bundeswahlleiter .de/dam/jcr/8681a209-6823-43d4-9165-cbd5b64b4043/europawahlgesetz.pdf (zuletzt abgerufen am: 11.12.2019). Eine andere Frage ist es hingegen, ob die Mitgliedstaaten im Einzelfall ein Verlassen der Vollzugsanstalt ermöglichen müssen, wenn die mitgliedstaatlichen Vorschriften für die Erlangung des Mandats besondere Voraussetzungen wie das persönliche Ableisten eines Amtseides vorsehen , vgl. dazu die Ausarbeitung des Fachbereichs PE 6 - 3000 - 49/19 „Zu den unionsrechtlichen Vorgaben für den Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament und der parlamentarischen Unverletzlichkeit seiner Mitglieder“ v. 14.06.2019, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/652546/efd5a6c96804208140fc0a10f285642e/PE-6-049-19-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am: 10.12.2019). ***