© 2017 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 191/16 Auswirkungen auf den Strafprozess bei einer möglicherweise bestehenden Unvereinbarkeit des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten mit dem Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2016 zur Vorratsdatenspeicherung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Auswirkungen auf laufende Ermittlungsverfahren 7 3.1. Beweisverbote 8 3.1.1. Beweiserhebungsverbote 8 3.1.2. Beweisverwertungsverbote 9 3.2. Fernwirkung 12 3.3. Beachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe 12 4. Auswirkungen auf laufende Zwischen- und Hauptverfahren 13 4.1. Folgen für das Zwischenverfahren 13 4.2. Folgen für das Hauptverfahren 14 5. Folgen für nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren 15 5.1. Berufung 15 5.2. Revision 15 5.2.1. Absolute Revisionsgründe 16 5.2.2. Relative Revisionsgründe 16 6. Folgen für rechtskräftige Urteile 17 6.1. Durchbrechung der Rechtskraft 17 6.1.1. Wiedereinsetzung 18 6.1.2. Wiederaufnahme nach § 359 StPO 18 6.1.3. Wiederaufnahmegrund nach § 79 Abs. 1 BVerfGG 19 6.2. Zwischenergebnis 21 7. Entschädigung / Staatshaftung 21 7.1. Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen 21 7.2. Staatshaftung 21 8. Vorlagepflicht der deutschen Gerichte 22 9. Handlungsbedarf des Gesetzgebers 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 4 1. Einleitung An die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurde folgende Fragestellung herangetragen: „Inwieweit ist das am 16.10.2015 vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten mit dem heutigen Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-203/15, Tele2 Sverige AB/Post- och telestyrelsen, und C-698/15, Secretary of State for the Home Department / Tom Watson u. a. (….) vereinbar und welche Folgen würde eine vollständige oder teilweise Unvereinbarkeit jeweils nach sich ziehen?“ Bei dem in der Fragestellung angesprochenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) handelt es sich um das Urteil vom 21. Dezember 20161, in dem der EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)2 entschieden hat, inwieweit Anordnungen, die auf der Grundlage des schwedischen Gesetzes über die elektronische Kommunikation von der schwedischen Überwachungsbehörde für Post- und Telekommunikation zur Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten ihrer Teilnehmer und registrierten Nutzer ergangen sind, mit dem Unionsrecht zu vereinbaren sind. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens waren auch Ermittlungsbefugnisse des Vereinigten Königreichs, die aufgrund des britischen Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung von 2014 ergangen waren. In dieser Entscheidung hat der EuGH bestimmte Anforderungen aufgestellt , die eine unionskonforme Vorratsdatenspeicherung haben muss. Nach der dieser Ausarbeitung zugrundeliegenden Anfrage soll zweierlei geklärt werden: Zum einen soll untersucht werden, ob das im Dezember 2015 vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten 3 (im Folgenden: Vorratsdatenspeichergesetz) diesen Vorgaben des EuGH genügt . Diese Frage ist vom Fachbereich Europa PE 6 untersucht worden4. Die Ausarbeitung 1 Verbundene Rechtssachen C‑203/15 und C‑698/15, abrufbar unter: http://curia.europa.eu/Juris /document/document.jsf?text=&docid=186492&pageIndex=0&doclang =DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=192727 [Letzter Abruf: 17. Januar 2017]. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, (Konsolidierte Fassung bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 47), zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. EU L 112/21 vom 24.4.2012). 3 Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10.12.2015; Bundesgesetzblatt I 2015, S. 2218 ff. 4 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung, Zur Vereinbarkeit des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten mit dem EuGH-Urteil vom 21. Dezember 2016 zur Vorratsdatenspeicherung, PE 6-3000-167/16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 5 ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das Vorratsdatenspeichergesetz5 nicht die Vorgabe des EuGH erfüllt, dass6 „bereits die Speicherung von Vorratsdaten nur bei Vorliegen einer schweren Straftat zulässig ist, nur Vorratsdaten solcher Personen gespeichert werden, die Anlass zur Strafverfolgung geben, die Vorratsdatenspeicherung sich nicht auf geografisch eingegrenzte Gebiete beschränkt, die Vorratsdaten solcher Personen nicht gespeichert werden dürfen, deren davon betroffene Kommunikationsvorgänge nach den nationalen Rechtsvorschriften dem Berufsgeheimnis unterliegen, grundsätzlich nur Zugang zu den Daten von Personen gewährt wird, die im Verdacht stehen, eine schwere Straftat zu planen, zu begehen oder begangen zu haben oder auf irgendeine Weise in eine solche Straftat verwickelt zu sein oder dass in besonderen Situationen, in denen vitale Interessen der nationalen Sicherheit, der Landesverteidigung oder der öffentlichen Sicherheit durch terroristische Aktivitäten bedroht sind, Zugang zu Daten anderer Personen nur gewährt wird, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Daten in einem konkreten Fall einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung solcher Aktivitäten leisten können.“ Dabei wird in der Ausarbeitung darauf hingewiesen, dass es jedoch letztlich der Entscheidung des EuGH vorbehalten bleiben muss, ob und in welchem Umfang das Vorratsdatenspeichergesetz mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Zum anderen soll die Frage geklärt werden, welche Folgen eine vollständige oder teilweise Unvereinbarkeit des deutschen Vorratsdatenspeichergesetzes jeweils nach sich ziehen würde. Diese Frage wird vom hiesigen Fachbereich WD 7 im Folgenden beantwortet. Bei dieser Fragestellung geht es darum, welche Auswirkungen eine solche vollständige oder teilweise Unvereinbarkeit auf das Strafverfahren hätte. In der anschließenden Untersuchung wird zunächst geprüft, welche Auswirkungen eine solche Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht auf laufende Ermittlungsverfahren, laufende Zwischen- und Hauptverfahren, nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren sowie auf rechtskräftige Urteile hat. 5 Zum Inhalt des Vorratsdatenspeichergesetzes vgl. die Ausführungen in der genannten Ausarbeitung von PE 6, S. 4 ff. 6 So das Ergebnis der genannten Ausarbeitung von PE 6, S. 24. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 6 2. Das „Mehrebenensytem“ Zu beachten ist, dass Grundlage des EuGH-Urteils für das Vorabentscheidungsverfahren die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation7 im Lichte von Art. 7 und 8 sowie des Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der europäischen Union8 war. Auf dieser Grundlage ist der EuGH zu der oben skizzierten Unvereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung (im Folgenden: VDS) des schwedischen und britischen Gesetzes gekommen. Wie in dem Gutachten von PE 6 aufgezeigt , muss auch für das deutsche Vorratsdatenspeichergesetz von einer entsprechenden Unvereinbarkeit ausgegangen werden, insbesondere soweit es die anlasslose Speicherung zulässt. Allerdings hat der EUGH bisher zum deutschen Vorratsdatenspeichergesetz noch keine Entscheidung getroffen. Sofern ein Gericht mit der Frage befasst würde, müsste es bei Zweifeln über die Vereinbarkeit ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV stellen. Hat das Gericht sowohl europarechts-, also auch verfassungsrechtsbezogene Zweifel, ob das Vorratsdatenspeichergesetz angewendet werden darf, so besteht zwischen dem Verfahren der konkreten Normenkontrolle vor dem BVerfG gemäß Artikel 100 Absatz 1 Grundgesetz (GG)9 und dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH gemäß Artikel 267 AEUV kein Vorrangverhältnis;10 beide Zwischenverfahren stehen gleichberechtigt nebeneinander. Zwar kann es ohne eine Prüfung durch das jeweils andere Gericht dazu kommen, dass ein ohnehin aufgrund seiner Unionsrechtswidrigkeit nicht anwendbares oder aufgrund seiner Verfassungswidrigkeit ungültiges und damit nicht im Sinne von Artikel 267 AEUV bzw. Artikel 100 Absatz 1 GG entscheidungserhebliches Gesetz geprüft wird; dies ist jedoch durch das vorlegende Gericht nicht vorhersehbar, so dass es nach eigenem Ermessen entscheidet, welches Zwischenverfahren durchgeführt wird.11 7 Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation, Amtsblatt der Europäischen Union 2002, L 201, S. 37 in der Fassung der Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, der Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation und der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz, ABl. EG Nr. L 337 vom 18. Dezember 2009, S. 11. 8 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh), Amtsblatt der EU vom 18. Dezember 2000/C 364, S. 1 ff.; abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf [letzter Abruf: 17. Januar 2017]. 9 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.12.2014, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32002L0058&from=DE, [letzter Abruf: 12.01.2017]. 10 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006, Az. 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202, Juris-Rn. 51f. 11 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006, Az. 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202, Juris-Rn. 52. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 7 Angesichts dieser Parallelität der Verfahren könnte es sogar zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich des Vorratsdatenspeichergesetzes kommen. Denn während der EuGH seine Prüfung anhand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgenommen hat, ist nicht sicher, dass das BVerfG den gleichen Prüfungsmaßstab anlegen würde. Zweifel daran ergeben sich zum einen aus dem Urteil des BVerfG zur Antiterrordatei, wo das Bundesverfassungsgericht ein Vorabentscheidungsverfahren und eine Überprüfung anhand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nur dann für geboten hielt, wenn die angegriffenen nationalen Vorschriften durch das Unionsrecht determiniert seien. Demzufolge liege dann kein Fall der Durchführung des Rechts der Europäischen Union vor, die allein die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Grundrechte-Charta nach sich ziehen könne.12 Zum anderen wurden gegen das Vorratsdatenspeichergesetz Verfassungsbeschwerden erhoben und das BVerfG hat bereits in einem Eilverfahren die Aussetzung des Vollzugs der Regelungen des Vorratsdatenspeichergesetzes abgelehnt . In der Begründung dieses Beschlusses hat das BVerfG angemerkt, die Frage, inwieweit die Europäische Grundrechtecharta zur Anwendung komme, sei erst im Hauptverfahren zu entscheiden 13. Dementsprechend hat das BVerfG seine Eilentscheidung an Art. 10 GG ausgerichtet. Berücksichtigt man diese beiden Ebenen, lässt sich nicht ausschließen, dass über das deutsche Vorratsdatenspeichergesetz unterschiedliche Bewertungen getroffen werden, je nachdem, ob der EuGH oder das BVerfG die Überprüfung vornimmt. Für die vorliegende Frage soll jedoch unterstellt werden, dass das deutsche Vorratsdatenspeichergesetz insoweit mit dem EuGH-Urteil vom Dezember 2016 unvereinbar ist, als dies in der Ausarbeitung von PE 6 dargetan wird. Wie sich das BVerfG zu der angedeuteten Problematik verhalten wird, kann dagegen nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung sein. 3. Auswirkungen auf laufende Ermittlungsverfahren Fraglich ist, wie sich eine Unvereinbarkeit des Gesetzes auf noch laufende Ermittlungsverfahren auswirken würde. Unionsrechtswidrige Normen sind nicht automatisch nichtig. Der EuGH hat keine Verwerfungskompetenz bezüglich des nationalen Rechts, sondern nur bezüglich des Unionsrechts . Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Art. 267 sowie Art. 263, 264 AEUV, wonach der EuGH lediglich bezüglich Handlungen von Unionsorganen über Gültigkeit bzw. Nichtigkeit entscheidet. Der Durchsetzung des Unionsrechts wird Rechnung getragen, in dem aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Normen, die dem Unionsrecht widersprechen, keine Anwendung finden. Die nationalen Gerichte lassen die betroffenen Vorschriften folglich unangewendet und auch die Behörden sind zur Vermeidung von Staatshaftungsansprüchen zu 12 BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2013, 1499 (1501) Anm. 90; Juris Rn. 90. 13 BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 2016 – 1 BvQ 42/15, Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht – Rechtsprechungsdienst (ZUM-RD) 2016, 706 (710), Anm. 26; Juris, Rn. 26. Auch das BVerfG ist grundsätzlich vorlagepflichtig, soweit es um die abschließende Beurteilung des EU-Rechts geht, vgl. Wegener, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV, Rn. 27; BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 1979 - 2 BvL 6/77, NJW 1980, 519 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 8 einer unionsrechtskonformen Anwendung nationaler Vorschriften angehalten.14 Folglich muss auch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren bei ihren Entscheidungen die nationalen Vorschriften unionskonform anwenden. Der hypothetische Wegfall der Möglichkeit, Verkehrsdaten zu erheben oder abzufragen, hat Auswirkungen auf das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren. In Bezug auf die Erhebung und die Verwertung von Beweisen ist das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH zu berücksichtigen . 3.1. Beweisverbote Im Rahmen der VDS und ihrer Höchstspeicherfrist sowie deren Einbringung als Beweismittel in ein Strafverfahren stellt sich die Frage nach einem möglichen Beweisverbot. Bei den Beweisverboten wird begrifflich zwischen den Beweiserhebungs- und den Beweisverwertungsverboten unterschieden .15 3.1.1. Beweiserhebungsverbote Liegt ein Beweiserhebungsverbot vor, so ist die Einführung des Beweismittels in den Prozess untersagt , da die Beweiserhebung als solche oder die Art und Weise der Erhebung verboten ist – ein Beweisantrag ist daher zwingend gemäß § 244 Absatz 3 Satz 1 Strafprozessordnung (StPO)16 vom Gericht abzulehnen.17 Hat noch keine Datenerhebung nach § 100a ff. StPO stattgefunden, so ist diese aufgrund der hier unterstellten Unvereinbarkeit der anlasslosen Speicherung von Vorratsdaten mit den Grundrechten der EU-Grundrechtecharta unzulässig. Zwar besteht nach dem nationalen Recht weiterhin eine Rechtsgrundlage; diese ist jedoch aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anzuwenden.18 Eine anlasslose Erhebung von Vorratsdaten im Ermittlungsverfahren ist damit nicht mehr möglich. Grundsätzlich ist eine Datenerhebung aber nicht ausgeschlossen – ohne Probleme ist diese jedenfalls in dem Zeitraum ab Erhalt eines richterlichen Beschlusses möglich. Probleme ergeben sich 14 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. 1: EUV/AEUV, 59. Ergänzungslieferung 2016, AEUV Art. 267, Rn. 106. 15 Finger, Prozessuale Beweisverbote – Eine Darstellung ausgewählter Fallgruppen, Juristische Arbeitsblätter (JA) 2006, 529 (530). 16 Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), zuletzt geändert durch Artikel 3 Absatz 5 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3346); abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/BJNR006290950.html [letzter Abruf: 13. Januar 2017]. 17 Kudlich. in: Münchner Kommentar zur StPO, Hrsg.: Knauer/Kudlich/Schneider, Band 1, 1. Auflage 2014, Einleitung , Rn. 440; Finger, JA 2006, 529 (530). 18 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta - Kommentar, 5. Auflage 2016, Art. 1, Rn. 21. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 9 lediglich im Hinblick auf den Zugriff auf bereits gespeicherte Daten, die nicht im Rahmen des jeweiligen Strafverfahrens erhoben worden sind. Ferner sind Zugriffe auf Daten problematisch, die länger als zehn Wochen gespeichert sind. Ein Zugriff auf diese ist gemäß §§ 113c Telekommunikationsgesetz (TKG)19 in Verbindung mit § 113b TKG nicht zulässig und sollte auch nicht mehr möglich sein, da die Daten gemäß § 113b Abs. 1 Nr. 4 TKG nicht länger als zehn Wochen gespeichert werden dürfen. Standortdaten dürfen sogar nur vier Wochen gespeichert werden, § 113b Abs. 1 Nr. 2 TKG. 3.1.2. Beweisverwertungsverbote Besteht ein Verstoß gegen Beweiserhebungsverbote, so stellt sich die Frage, ob infolgedessen auch die Beweisverwertung rechtsfehlerhaft ist. Sollte sich bei einer Überprüfung herausstellen, dass das Gericht oder die Ermittlungsbehörden eine Verfahrensvorschrift bei der Erhebung von Beweisen verletzt haben, könnte dies ein Beweisverwertungsverbot im späteren Verlauf des Verfahrens nach sich ziehen, weshalb dieser Beweis nicht dem Urteil zugrunde gelegt werden könnte. Jedoch ist zu beachten, dass nicht jede Gesetzesverletzung im Rahmen der Beweiserhebung zwangsläufig ein Verwertungsverbot nach sich zieht. Beweisverwertungsverbote widersprechen einem zentralen Grundsatz des deutschen Strafverfahrensrechts, nämlich dem Grundsatz der Amtsermittlung und der Sachverhaltsaufklärung.20 Die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren bzw. das Gericht im Hauptverfahren ist nach § 244 Abs. 2 StPO zur lückenlosen Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet, soweit diese möglich ist. Um diese Anforderungen zu erfüllen, werden Beweisverwertungsverbote durch die Rechtsprechung äußerst restriktiv gehandhabt.21 Ein Beweiserhebungsverbot führt zum einen zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn ein solches gesetzlich vorgesehen ist, wie z.B. das absolute Beweisverwertungsverbot in § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO. Zum anderen zieht ein Beweiserhebungsverbot nur dann ein Beweisverwertungsverbot nach sich, wenn das Beweiserhebungsverbot überhaupt dem Schutz des Beschuldigten dient 19 Telekommunikationsgesetz vom 22. Juni 2004 (BGBl. I S. 1190), das durch Artikel 2 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3346) geändert, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/tkg_2004/BJNR119000004.html [letzter Abruf: 16. Januar 2017]. 20 Exemplarisch: Trüg/Habetha. in: Münchener Kommentar zur StPO, Band 2, 1. Auflage 2016, § 244, Rn. 47. 21 BGH, Urteil vom 11. November 1998 – 3 StR 181-98, NJW 1999, 959 (960), Juris, Rn 10; BGH, Beschluss vom 27 Februar 1992 - 5 StR 190/91, NJW 1992, 1463 (1464), BGHSt 38, 214 (219ff.), Juris, Rn. 17 ff.; BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, NJW 1993, 338, BGHSt 38, 372 (373–374), Juris, Rn. 7 ff.; BGH, Urteil vom 6. August 1987 - 4 StR 333/87, NJW 1988, 1223 (1224), BGHSt 35, 32 (34f.), Juris, Rn. 9 ff. ebenso: Trüg/Habetha, Beweisverwertung trotz rechtswidriger Beweisgewinnung – insbesondere mit Blick auf die „Liechtensteiner Steueraffäre”, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2008, 481 (491). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 10 („Rechtskreistheorie“).22 Allerdings legen sowohl der Bundesgerichtshof (BGH) als auch Teile des Schrifttums die „Rechtskreistheorie“23 nicht als alleinigen Maßstab für ein Beweisverwertungsverbot zugrunde. Vielmehr soll die Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen ist, von einer Abwägung im Einzelfall abhängen.24 Es soll also zwischen dem Schutz der Allgemeinheit und dem rechtsstaatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung einerseits und dem Grundsatz eines fairen Verfahrens sowie weiterer Rechte des Beschuldigten andererseits eine Abwägung vorgenommen werden.25 Bei der Abwägung sollen insbesondere die Schwere des dem Angeklagten vorgeworfenen Delikts als auch das Gewicht des Verfahrensverstoßes mit einbezogen werden. Ebenso sollen der Schutzweck der verletzten Verfahrensvorschrift als auch die Grundrechte des Angeklagten bei der Abwägung Beachtung finden.26 War die Beweiserhebung tatsächlich fehlerhaft und ergibt die beschriebene Prüfung, dass der Verfahrensverstoß ausreichend schwerwiegend ist, zieht selbst das nicht zwingend ein Beweisverwertungserbot nach sich. Vielmehr verlangt die ständige Rechtsprechung, dass der Angeklagte der Verwertung des fehlerhaft erhobenen Beweises auch ausdrücklich widersprechen soll.27 Dazu hat der Angeklagte bis zum Schluss der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung die Möglichkeit . Bleibt ein solcher Widerspruch aus, ist ein fehlerhaft erlangtes Beweismittel grundsätzlich verwertbar.28 Zu beachten ist hierbei, dass der Angeklagte, sofern er nicht anwaltlich vertreten wird, vom Gericht aufzuklären und darauf hinzuweisen ist, dass er einer Verwertung explizit widersprechen muss. Für eine möglicherweise bestehende fehlerhafte VDS im Sinne des Urteils des EuGH, insbesondere weil sie zum Beispiel anlasslos erfolgt ist, bedeutet dies Folgendes: Zunächst ist festzustellen , dass bezüglich der Erhebung und Verwendung von Vorratsdaten keine gesetzlichen Verwertungsverbote bestehen. Zu klären ist darum, ob das Verwertungsverbot aus den sonstigen Prüfungskriterien (Rechtskreistheorie, Abwägung und Widerspruch) anzunehmen ist. Dann müsste 22 BGH, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 StR 691/08 – BGHSt 53, 191ff., NJW 2016, 1619 (1621), Juris, Rn. 14 ff.; Grdl. BGH Großer Senat für Strafsachen. Urteil vom 21. Januar 1958, GSSt 4/57, BGHSt-GS 11, 215 ff., Juris, Rn. 12 ff.; angelegt jedoch bereits in BGH, Urteil vom 27. 2. 1951 - 1 StR 14/51 - BGHSt 1, 39(40); die Bezeichnung Rechtskreistheorie entstammt dem Schrifttum; Hombrecher, Die Prüfung der Begründetheit im strafprozessualen Revisionsgutachten, JA 2015, 140 (142); Paul, Unselbständige Beweisverwertungsverbote in der Rechtsprechung, NStZ 2013, 489 (490). 23 Zur Rechtskreistheorie vgl.: Finger, JA 2006 529 (532); Hauf, Ist die “Rechtskreistheorie” noch zu halten? Eine neue Konzeption zur Frage von Verfahrensfehlern und Beweisverwertungsverboten, NStZ 1993, 457 (458). 24 Finger, JA 2006, 529 (532), vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 1964, 4 StR 519/63, BGHSt 19, 325, (332), NJW 1964, 1139 (1142), Juris, Rn. 23 ff. 25 BGH, Urteil vom 29. April 2009, 1 StR 701/08, BGHSt 53, 294 ff.; Juris, Rn.21 ff. Paul, NStZ 2013, 489 (491 ff.), Hombrecher, JA 2015, 140 (142). 26 Finger, JA 2006 529 (532). 27 Hombrecher, JA 2015, 140 (143). BGH, Urteil vom 17. Februar 2016 − 2 StR 25/15, NStZ 2016, 551, 552, Juris, Rn.7 f.; BGH, Urteil vom 18. April 2007 – 5 StR 546/06, BGHSt 51, 285, 296 f., Juris, Rn. 31. 28 Hombrecher, JA 2015, 140 (143). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 11 das verletzte Erhebungsverbot zumindest auch dem Schutz des Beschuldigten dienen. Die Richtlinie 2002/58/EG dient dem Schutz der Grundrechte aus Art. 7 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wonach jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation hat, und aus Art. 8 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wonach jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten hat.29 Das Vorratsdatenspeichergesetz soll zwar einerseits die VDS ermöglichen, legt aber andererseits auch die Schutzvorkehrungen für die Betroffenen fest. Auch hier geht es darum, die Kommunikation zwischen Personen sowie deren Daten zu schützen. Insbesondere geht es auch darum, die Grundrechte des Betroffenen, also das Recht auf informationelle Selbstbestimmung , Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG sowie das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG30, in ein angemessenes Verhältnis zum Strafverfolgungsinteresse des Staates zu setzen. Damit haben sowohl die nationalen als auch die unionsrechtlichen Vorschriften eine ähnliche Schutzwirkung 31. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass ein geheimes Erheben von Kommunikation bei einem Verdächtigen / Beschuldigten mit dem Grundsatz kollidiert, sich nicht selbst belasten zu müssen, vgl. §§ 136, 136a, 55 StPO32. Damit wirkt die fehlerhafte VDS gravierend auf die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten ein, so dass unter Abwägungsgesichtspunkten ein Verwertungsverbot nahe liegen könnte. Dies gilt umso mehr, als die strafprozessualen Rechte sich in diesem Bereich mit den Grundrechten auf informationelle Selbstbestimmung und dem Fernmeldegeheimnis decken. Im Hinblick auf Letzteres könnte sogar fraglich sein, ob das Verwertungsverbot hier überhaupt von einem Widerspruch des Beschuldigten abhängt. Denn analog zu der Regelung in § 136a Abs. 3 Satz 1 StPO, der die Verwertung ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Betroffenen verbietet, ließe sich hier entsprechend argumentieren. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Betroffene sich zwar nicht selbst belasten muss, aber selbst belasten darf, wenn man nur die Möglichkeit eines Geständnisses berücksichtigt. Bei der Abwägung geht es jedoch nicht nur um die Rechte des Beschuldigten, sondern auf der Gegenseite sind der Schutz der Allgemeinheit sowie das rechtsstaatliche Interesse an einer effektiven Strafverfolgung zu berücksichtigen. Es 29 Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), Gründe (1), (2). 30 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 9. Juni 2015, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten, BT-Dr. 18/5088, S. 2, 31f. 31 Hier wird davon abgesehen, das „Mehrebenensystem“, also das Verhältnis der Unionsnormen zu den nationalen Normen, insbesondere der Unions-Grundrechte zu den Grundrechten aus dem GG, näher zu beleuchten. Denn für die hier anstehende strafprozessuale Frage, inwieweit aus einer – hier unterstellten! - fehlerhaften Beweiserhebung (hier z.B. anlasslose VDS) ein Beweisverwertungsverbot folgt, kommt es nur darauf an, dass eine Norm, die dem Schutz des Beschuldigten dient, verletzt ist und dass diese Verletzung gravierend ist (Abwägung) sowie dass der Beschuldigte der Verwertung widerspricht (Widerspruchslösung). Deshalb kann hier dahinstehen, wie sich die Rechtsprechung des BVerfG zur Geltung und Prüfungskompetenz der Grundrechte und zur Rechtsprechung des EuGH verhält, vgl. die Ausführungen unter Gliederungspunkt 2. 32 Zu dem Grundsatz, dass der Beschuldigte sich nicht selbst belasten muss: Schuhr, in: Münchener Kommentar zur StPO, Vorbemerk. zu den §§ 133 ff., Rn. 79 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 12 hängt daher immer vom Einzelfall ab, ob ein Beweiserhebungsverbot zu einem Beweisverwertungsverbot führt. 3.2. Fernwirkung Grundsätzlich kennt das deutsche Strafprozessrecht im Gegensatz beispielsweise zum System der USA keine Fernwirkung auf andere Verfahren (gegen andere Personen oder denselben Beschuldigten ) in Form eines generellen Beweisverwertungsverbots in Folge eines Beweiserhebungsverbotes .33 Nach dieser sogenannten „fruit of the poisonous tree - doctrine“ wäre eine Verwertung unrechtmäßig erlangter Beweismittel stets verboten und dürfte auch nicht in anderen Verfahren zur Ermittlungsgrundlage gemacht werden.34 In Deutschland muss demgegenüber eine Abwägung aufgrund des Schutzziels der verletzten Vorschrift , der Intensität der Rechtsverletzung, möglicher legaler Alternativen der Beweiserlangung, der Bedeutung für die Strafverfolgung sowie der Schwere der Straftat vorgenommen werden, wobei jeweils auf den konkreten Einzelfall abzustellen ist.35 Sollten bei der Auswertung von Daten, die einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, also Zufallsfunde auftreten, die beispielsweise den Verdacht einer weiteren Straftat gegen den Angeschuldigten bzw. weitere Personen begründen , so dürfen zwar die erhobenen Daten nicht unmittelbar als Beweismittel diesbezüglich herangezogen werden. Die gewonnenen Erkenntnisse können jedoch zur Grundlage weitergehender Ermittlungen gemacht werden. Dieses Ergebnis wird damit begründet, dass nicht ein einzelner Verfahrensverstoß weitere Strafverfolgung lähmen soll. In der Literatur wird diese Argumentation als ergebnisorientiert und sachgerecht bewertet.36 3.3. Beachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe Es stellt sich die Frage, ob die hypothetische Annahme, dass die Ermittlungsbehörden auch bei einem rechtmäßigen Verhalten dasselbe Ergebnis erzielt hätten, eine rechtswidrige Beweisverwertung rechtfertigen kann.37 In der Rechtsprechung wird von der Annahme eines Verwertungsverbots Abstand genommen, wenn es abstrakt eine rechtmäßige Möglichkeit zur Erlangung des Beweismittels gegeben hätte, dieses also bei einem abweichenden hypothetischen Kausalverlauf 33 Peters, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 2, § 152, Rn. 46-48; Ellbogen, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 2, § 252, Rn. 46; Finger, JA 2006, 529 (538). 34 Peters, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 2, § 152, Rn. 46; Peters, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 2, § 152 Rn. 46-48; Hoven, Die Vernehmung des Beschuldigten – Klausurschwerpunkte in der strafrechtlichen Assessorklausur, JA 2013, 368 (373); BGH, Urteil vom 23. Mai 1984, 1 StR 148/84, BGHSt 32, 345 (356). 35 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 05. November 2013 – 2 BvR 1579/11; BGH, Urteil vom 22. 2. 1978 - 2 StR 334/77, BGHSt 27, 355, Juris Rn. 4. 36 Finger, JA 2006, 529 (539) m.w. Nachw. 37 Finger, JA 2006, 529 (539). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 13 hätte rechtmäßig erlangt werden können.38 Diese Frage lässt sich wiederum nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung des entsprechenden Schutzzwecks der verletzten Verfahrensvorschrift beantworten.39 Angesichts des umfassenden Katalogs von Straftaten in § 100g StPO, wonach eine Erhebung von Verkehrsdaten möglich ist, ist es bei der VDS durchaus möglich, dass diese zunächst anlasslos erfolgt, sich im Nachhinein aber herausstellt, dass eine Katalogtat i.S.d. § 100g StPO doch eine anlassbezogene VDS erlaubt hätte. Dem Grunde nach könnten die Daten dann jeweils über eine anlassbezogene Speicherungsanordnung nach dem TKG erlangt werden,40 so dass auch ein rechtmäßiger Alternativverlauf denkbar ist und es grundsätzlich nicht zu einem Beweisverwertungsverbot kommen muss. Wollte man hier im Hinblick auf eine Verletzung der Rechte aus Artikel 7 und Artikel 8 Charta der Grundrechte der Europäischen Union daran festhalten, dass die Beweisverwertung rechtswidrig , ist, so würde eine derartige Sanktionierung der anlasslosen Speicherung aber in erster Linie die Strafverfolgung verhindern und nicht dem Unionsrecht zu seiner Durchsetzung verhelfen. Denn auch nach den Vorgaben des EuGH zur anlassbezogenen Speicherung würde ein hypothetischer Kausalverlauf u.U. zu einer rechtmäßigen Datenerhebung führen können. 4. Auswirkungen auf laufende Zwischen- und Hauptverfahren 4.1. Folgen für das Zwischenverfahren Das Zwischenverfahren wird mit der Erhebung der öffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft eröffnet und dient als Überprüfungsinstanz.41 Sollte sich innerhalb der gerichtlichen Untersuchung herauskristallisieren, dass Beweismittel im Hauptverfahren nicht verwertet werden dürfen, so ergeht gemäß § 204 StPO ein Nichteröffnungsbeschluss, aus dem hervorgehen muss, ob er auf tatsächlichen oder rechtlichen Gründen beruht. Sollte eine Verurteilung nach vorläufiger Bewertung durch das Gericht wahrscheinlich sein, beschließt es anhand des gesamten bisherigen Akteninhalts die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 203 StPO.42 38 BGH, Urteil vom 28. März 1973, 3 StR 385/72, BGHSt 25, 168, Juris Rn. 8; Trüg/Habetha, NStZ 2008, 481 (487). 39 Finger, JA 2006, 529 (539) m.w.Nachw. 40 Vgl. § 100g StPO. 41 Mavany, „Hidden champion“ des Strafverfahrens – das Zwischenverfahren, JA 2015, 488 (490). 42 Schneider, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, mit GVG EGGVG, und EMRK, Hrsg.: Hannich, 7. Auflage, 2013, § 203, Rn. 1; Ritscher, in: Beck-OK StPO, § 203, Rn. 3, 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 14 Die Konstellation der oben bereits erörterten Widerspruchslösung gestaltet sich im Rahmen des Zwischenverfahrens eher schwierig. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kann ein Angeschuldigter nicht bereits im Zwischenverfahren einer Beweisverwertung widersprechen. Erst in der Hauptverhandlung kann der Angeklagte wirksam widersprechen.43 Problematisch ist der Fall, wenn bereits im Zwischenverfahren vor dem Eröffnungs- bzw. Nichteröffnungsbeschluss ein Verwertungsverbot erkennbar vorliegt, dieses jedoch nur dann greift, wenn nach der Widerspruchslösung des BGH durch den Angeschuldigten Widerspruch eingelegt wird. Ein solcher Widerspruch kann erst in der Hauptverhandlung erfolgen, was dazu führen würde, dass bei streng dogmatischer Vorgehensweise die Hauptverhandlung eröffnet werden müsste, auch wenn ein Widerspruch als sicher erscheint, beispielsweise weil der Angeschuldigte diesen angekündigt hat. Aus prozessökonomischen Gründen und der hierauf bezogenen Schutzfunktion des Zwischenverfahrens wäre dies nicht praxisgerecht, so dass im Ergebnis das Hauptverfahren nur bei Unsicherheiten bezüglich des Widerspruchs eröffnet werden und im Übrigen ein Nichteröffnungsbeschluss ergehen sollte. Ferner könnte das Gericht bereits im Zwischenverfahren dem EuGH einen Vorlagebeschluss unterbreiten.44 4.2. Folgen für das Hauptverfahren Stellt sich innerhalb des Hauptverfahrens heraus, dass Beweismittel einem Beweiserhebungsverbot oder einem Beweisverwertungsverbot unterliegen45, so ist das Verfahren entweder gemäß §§ 153 f. StPO einzustellen oder – und das ist wahrscheinlicher – der Angeklagte freizusprechen .46 Denn entfällt das vom Verwertungsverbot umfasste Beweismittel, darf es nicht für die Urteilsfindung herangezogen und gewürdigt werden. Verbleiben grobe Zweifel an der Strafbarkeit des Angeklagten, wäre eine Verurteilung nicht möglich.47 Bei einer Einstellung gemäß §§ 153 Absatz 2, 153a Absatz 2 StPO innerhalb des Hauptverfahrens muss der Angeschuldigte dieser zustimmen . Mit dem Rechtsmittel der Beschwerde können gemäß § 305 StPO vor allem Entscheidungen zur Vorbereitung der Beweisaufnahme sowie deren Durchführung oder zur Gestaltung der Hauptverhandlung nicht angegriffen werden.48 Dem Betroffenen droht dadurch keine Präklusion, weil die 43 BGH, Beschluss vom 17. Juni 1997 – 4 StR 243/97, NStZ 1997, 502 (503); Wenske, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 2, § 203, Rn. 30. 44 Dannecker/Müller, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes der Europäischen Union, 3. Auflage, 2014, § 39 Strafgerichtsbarkeit, Rn. 50. 45 Bzgl. der Beweiserhebungs- und der Verwertungsverbote wird auf die Ausführungen innerhalb der Erörterungen zum Ermittlungsverfahren (2.1.) verwiesen. 46 Beukelmann, in: Beck-OK StPO, § 153 Rn. 32. 47 Eschelbach, in: Beck-OK StPO, § 261, Rn. 42. 48 Cirener, in: Beck-OK StPO, § 305 Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 15 gerichtliche Entscheidung ihren Niederschlag im Urteil findet und gleichzeitig mit diesem überprüft werden kann.49 Eine Ablehnung von Beweisanträgen muss im Urteil begründet werden und wird daher Bestandteil desselben. Über eine Berufung oder eine Revision ist das Urteil dann insgesamt anfechtbar, weshalb der Beschwerdeantrag inzident überprüft wird. 5. Folgen für nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren Ist bereits ein Urteil in einer Sache ergangen, welches noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist, so bleibt die Möglichkeit, dieses mit einem Rechtsmittel in Form der Berufung oder Revision anzugreifen . Der Eintritt der Rechtskraft richtet sich auch in Fällen mit unionsrechtlichem Bezug nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedsstaates der Europäischen Union; eine abweichende unionsrechtliche Regelung existiert nicht.50 Die Rechtskraft tritt also mit Ablauf der Fristen ein, innerhalb derer die Entscheidung mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann.51 Ein Verstoß gegen ein aus dem Unionsrecht resultierendes Beweisverwertungsverbot kann einen Grund für eine Urteilsaufhebung im Wege von Berufung oder Revision gemäß §§ 312 ff StPO bzw. §§ 333 ff StPO darstellen. 5.1. Berufung Die Berufung stellt eine zweite Tatsacheninstanz dar und hat ebenso wie die Revision einen Suspensiveffekt .52 Das heißt, das erstinstanzliche Urteil kann nicht in Rechtskraft erwachsen.53 In der Berufungsinstanz wird die Strafsache sowohl auf rechtlicher als auch auf tatsächlicher Ebene überprüft. Wenn in der ersten Instanz gegen ein Beweisverwertungsverbot verstoßen wurde, wird die Beweisaufnahme unter Berücksichtigung dieses Aspekts erneut durchgeführt. Das Berufungsgericht wird dann in der Sache ein neues Urteil fällen. 5.2. Revision In der Revisionsinstanz wird das Urteil lediglich auf Rechtsfehler überprüft; es erfolgt keine erneute Beweisaufnahme.54 49 Cirener, in: Beck-OK StPO, § 305 Rn. 4. 50 Siehe auch: Dannecker/Müller, in: Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, Hrsg.: Rengeling /Middeke/Gellermann:,3. Aufl. 2014, § 39: Strafgerichtsbarkeit, Rn. 80. 51 U.a. Wenske, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 2, § 267 Rn 448. 52 Eschelbach, in: BeckOK-StPO, § 312 Rn. 5. 53 Eschelbach, in: BeckOK StPO § 316 Rn. 1; Paul, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 312, Rn. 1. 54 Schmitt, in: Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO, § 337 Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 16 Das Revisionsgericht prüft von Amts wegen, ob Verfahrenshindernisse vorliegen. Eine mögliche vollständige oder teilweise Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit Unionsrecht stellt per se kein Verfahrenshindernis dar.55 5.2.1. Absolute Revisionsgründe § 338 StPO enthält einen abschließenden Katalog von absoluten Revisionsgründen, bei deren Vorliegen vermutet wird, dass das Urteil auf einer Verletzung der in den Nummern 1 bis 7 aufgeführten Verfahrensbestimmungen beruht. Liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, hebt das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf.56 Ein Vorliegen wird nicht von Amts wegen geprüft und setzt eine wirksam erhobene und begründete Verfahrensrüge sowie die Selbstbetroffenheit und Beschwer des Revisionsführers voraus.57 Für die Beurteilung der vorliegenden Frage findet sich im Katalog des § 338 StPO kein Ansatz. 5.2.2. Relative Revisionsgründe Jedoch kann hier auf die relativen Revisionsgründe des § 337 StPO zurückgegriffen werden. Nach § 337 Absatz 1 StPO kann eine Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe; gemäß Absatz 2 ist ein Gesetz verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Es stellt sich die Frage, was darunter zu verstehen ist. Grundsätzlich wird zwischen Verfahrensund Sachrügen unterschieden. Mit der Sachrüge kann die fehlerhafte Anwendung sachlichen Rechts gerügt werden. Hinsichtlich der vorliegenden Problematik steht allerdings vor allem die Verfahrensrüge im Fokus. Mit der Verfahrensrüge werden Vorschriften, die das Verfahren als solches betreffen, also keine materiell-rechtlichen Vorschriften, angegriffen. Dabei gelten als Vorschriften über das Verfahren alle Rechtsnormen (nicht nur solche der StPO), die den Weg regeln, auf dem das Gericht zu seiner Entscheidungsfindung gelangt.58 Gemäß § 336 StPO ist es die Aufgabe des Revisionsgerichts lediglich die gerichtliche Entscheidung auf rechtlicher Ebene zu untersuchen. Wurde bei den Ermittlungen gegen Verfahrensvorschriften verstoßen und resultiert dieser Verstoß in einem Beweisverwertungsverbot, so stellt dies nicht automatisch einen Revisionsgrund dar.59 Vielmehr muss das Gericht das unverwertbare Beweismittel seiner Urteilsfindung zugrunde gelegt haben. Im vorliegenden Fall kommt durch die Verletzung eines Beweisverwertungsverbots ein Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorgaben, also formelle Vorschriften in Betracht. Die Frage, ob das angefochtene Urteil hierauf 55 Hombrecher, JA 2015, 140 (141). 56 Schmitt, in: Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO, § 338 Rn. 1. 57 Gericke, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 338, Rn. 4. 58 Hombrecher, JA 2015, 140 (142). 59 Hombrecher, JA 2015, 140 (142). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 17 beruht, kann nicht ohne Kenntnis des konkreten Einzelfalls beurteilt werden, da sie von der konkreten Beweissituation und –gewichtung sowie der Beurteilung des Beweisverwertungsverbots im Einzelfall abhängig ist. Gemäß den Vorschriften über die freie Beweiswürdigung im Sinne des § 261 StPO, sind Beweismittel , die einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, im Rahmen der gerichtlichen Beweiswürdigung nicht zu berücksichtigen.60 Das bloße Vorhandensein bzw. die rechtswidrige Erhebung von Vorratsdaten stellt also für sich allein genommen keinen Revisionsgrund dar, solange diese nicht zur Grundlage des Urteils gemacht werden. Das Urteil darf nicht hauptsächlich auf dem vom Verwertungsverbot umfassten Beweis beruhen. 6. Folgen für rechtskräftige Urteile Es könnten sich zudem Folgen für bereits rechtskräftig durch Urteil oder Strafbefehl abgeschlossene Verfahren ergeben. 6.1. Durchbrechung der Rechtskraft Grundsätzlich dient das Institut der Rechtskraft, wie es in der deutschen Strafprozessordnung ausgestaltet ist, der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden, so dass eine Durchbrechung nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt. Dem Rechtsfrieden wird dabei Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt, so dass die Rechtskraft auch bei inhaltlich unrichtigen Entscheidungen eintritt.61 Eine Ausnahme besteht lediglich, wenn ein schlechthin unerträglicher Verstoß gegen die rechtsstaatliche Ordnung vorliegt, nach dem das Urteil schon offensichtlich als nichtig anzusehen ist.62 Die in Rede stehende Anwendung eines unionsrechtswidrigen Gesetzes erfüllt die hierbei notwendigen hohen Voraussetzungen allerdings nicht. Zwar bestehen ein Interesse der Union an der Durchsetzung ihres Rechts und auch ein solches des Angeklagten, nicht aufgrund unionsrechtswidriger Vorschriften verurteilt zu werden. Jedoch steht auch der unionsrechtliche Effizienz- und Gleichbehandlungsgrundsatz dem Eintritt der Rechtskraft nicht entgegen. Die Gleichbehandlung ist insoweit gewahrt, als alle Urteile, ob mit Unionsrechtsbezug oder ohne, der Rechtskraft unterliegen, während das Urteil als solches nicht die Anwendung des Unionsrechts darstellt, sondern lediglich das Ergebnis eines Prozesses, in dem dieses anzuwenden war.63 60 Hombrecher, JA 2015, 140 (142). 61 Dannecker/Müller, in:, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, Hrsg. Rengeling/Middeke /Gellermann, § 39, Rn. 81. 62 Zu nichtigen Urteilen vgl. Kudlich, NJW 2013, 3216 ff. 63 Dannecker/Müller, in:, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, Hrsg. Rengeling/Middeke /Gellermann, § 39, Rn. 83. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 18 Die Rechtskraft kann jedoch in bestimmten gesetzlich vorgesehenen Fällen ausnahmsweise durchbrochen werden. So ist bei unverschuldeter Versäumnis einer Rechtsmittelfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe von § 44 StPO möglich; ebenfalls kommt aus verschiedenen Gründen gemäß § 359 StPO und § 79 Absatz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)64 eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Betracht. Zudem können rechtskräftige Entscheidungen nach § 95 Absatz 3 BVerfGG auf eine Verfassungsbeschwerde hin aufgehoben werden . 6.1.1. Wiedereinsetzung Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 StPO ist möglich, wenn unverschuldet eine Frist versäumt wurde. Hier könnte eine Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfristen in Betracht kommen. Jedoch stellt die Unkenntnis eines möglichen Revisionsgrundes keinen Wiedereinsetzungsgrund dar, so dass eine Wiedereinsetzung von vornherein nicht in Betracht kommt.65 6.1.2. Wiederaufnahme nach § 359 StPO Es kommt allerdings die Möglichkeit einer Wiederaufnahme gemäß einer der Varianten des § 359 StPO in Frage. Es könnte sich bei der in Folge der Unvereinbarkeit mit Unionsrecht eingetretenen Unanwendbarkeit des Gesetzes um eine Änderung von Tatsachen im Sinne von. § 359 Nr. 5 StPO handeln. Grundsätzlich soll eine Wiederaufnahme nur zu einer Überprüfung der tatsächlichen Grundlage des Urteils erfolgen, allerdings nicht zur Überprüfung von Rechtsfehlern.66 Wird jedoch das Recht vorsätzlich falsch angewendet (§ 359 Nr. 3 StPO), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)67 verletzt (§ 359 Nr. 6 StPO) oder ein Verfahren nach Nichtigerklärung eines Gesetzes wiederaufgenommen, wird ein rechtlicher Mangel des ergangenen Urteils als Ursache für die Durchbrechung der Rechtskraft angesehen.68 Hieraus ergibt sich, dass weder eine fehlerhafte rechtliche Beurteilung, noch ein Wegfall oder eine Änderung des angewandten Gesetzes oder ein 64 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt geändert durch Artikel 8 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474); abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bverfgg/BJNR002430951.html [letzter Abruf: 17. Januar 2017]. 65 Vgl. Cirener, in: Beck-OK StPO, § 44 Rn. 6a. 66 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts – Eine Untersuchung zum Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Strafrecht, 2001, S. 674; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht: Ein Studienbuch, 28. Auflage 2014, § 55, Rn. 7. 67 Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten), vom 04.11.1950, zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 14 vom 13.5.2004; abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/Documents/Convention_DEU.pdf [letzter Abruf: 17. Januar 2017]. 68 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 674. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 19 Wandel der Rechtsprechung als eine neue Tatsache oder neues Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO angesehen werden kann.69 Auch ist die Anwendung geltenden Rechts dem Richter nicht als Straftat im Sinne von. § 359 Nr. 3 StPO vorwerfbar.70 Der Variante des § 359 Nr. 6 StPO, der eine Wiederaufnahme bei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellten Verstößen gegen die EMRK ermöglicht, kommt im Übrigen nur eine Bedeutung im Einzelfall zu, wenn ein allein aufgrund der Anwendung des unionsrechtswidrigen Gesetzes Verurteilter erfolgreich Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einlegt.71 Diese Erfolgsaussichten können ohne Betrachtung des Einzelfalls nicht beurteilt werden und können daher nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung sein. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf Entscheidungen des EuGH wird – im Gegensatz zu einer Analogie zu § 79 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)72 – in der einschlägigen Literatur nicht diskutiert.73 Der Katalog der Wiederaufnahmegründe des § 359 StPO hat abschließenden Charakter74, weshalb ein Verstoß gegen Unionsrecht zunächst keinen Wiederaufnahmegrund darstellt. 6.1.3. Wiederaufnahmegrund nach § 79 Abs. 1 BVerfGG Eine Wiederaufnahme wird in der Literatur lediglich unter dem Gesichtspunkt einer analogen Anwendung des § 79 Absatz 1 BVerfGG diskutiert. 75 Dieser erlaubt eine Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, wenn das Urteil auf einer durch das Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder für nichtig erklärten Norm oder deren Auslegung beruht. 69 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO, § 359 Rn. 24; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts , S. 674. 70 Vgl. die aufgeführten Strafgesetze bei Singelnstein, in: Beck-OK StPO, § 359, Rn.15. 71 U.a. Singelnstein, in: Beck-OK StPO, § 359, Rn.35a, mit weiteren Nachweisen. 72 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt geändert durch Artikel 8 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474); abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bverfgg/BJNR002430951.html [letzter Abruf: 13. Januar 2017]. 73 Siehe Bajohr: Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, 2008, Seite 105 ff. 74 So auch Fußnoten bei Satzger, Seite 674. 75 Dannecker/Müller, in:, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, Hrsg.: Rengeling/Middeke /Gellermann, § 39, Rn. 88; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, Seite 208ff.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, Seite 681ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 20 Grundsätzlich findet diese Vorschrift nur Anwendung bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Vereinbarkeit von Normen mit dem Grundgesetz und ist damit im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar. Es kommt lediglich eine entsprechende Anwendung in Betracht, welche das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage voraussetzt.76 Eine vergleichbare Interessenlage kann insoweit angenommen werden, als eine Verurteilung aufgrund eines unionsrechtswidrigen Gesetzes einen ähnlich schweren Eingriff in die Rechte des Verurteilten darstellt wie eine solche aufgrund eines grundrechtswidrigen Gesetzes. Der Zweck der Vorschrift des § 79 Absatz 1 BVerfGG, den Makel der strafrechtlichen Verurteilung aufgrund eines verfassungswidrigen Strafgesetzes zu beseitigen,77 kann ohne weiteres auf Verstöße gegen das Unionsrecht übertragen werden. Zwar steht das Unionsrecht nicht auf demselben Rang wie das Grundgesetz, es genießt jedoch Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht, so dass auch hier Vergleichbarkeit besteht.78 Die durch die unterlassene Schaffung eines Wiederaufnahmegrundes bei Verstoß gegen das Unionsrecht bestehende Regelungslücke müsste aber auch planwidrig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber die Regelung nicht bewusst unterlassen hat.79 Hiergegen spricht vor allem, dass im Jahr 1996 ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion,80 der die Wiederaufnahme gerade um Rechtsanwendungsfehler erweitern sollte, eine Regelung in Bezug auf das Unionsrecht enthielt, die allerdings , anders als die Einführung des § 359 Nummer 6 StPO bezüglich der Rechtsprechung des EGMR,81 nicht umgesetzt wurde.82 Während im Schrifttum die analoge Anwendung teilweise für sinnvoll und notwendig erachtet wird, hat eine solche in der Praxis bisher nicht stattgefunden, so dass nicht davon auszugehen ist, dass es in der Folge der Unvereinbarkeit zu Wiederaufnahmeverfahren kommen wird. 76 V. Heintschel-Heinegg, in: Beck'scher Online Kommentar StGB, Hrsg.: v. Heintschel-Heinegg, 32. Edition, Stand: 01.09.2016, § 1, Rn. 12. 77 Plenarprotokoll Nr.: 01/112 der 112. Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn vom 18. Januar 1951, Seiten 4228 (A), 4234(C). 78 Dannecker/Müller, in:, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, Hrsg.: Rengeling/Middeke /Gellermann, § 39, Rn. 88. 79 Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch - Kommentar, 29. Auflage 2014, § 1, Rn. 35. 80 Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier und weiterer Abgeordneter der SPD und der Fraktion der SPD vom 29. Januar 1996, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 13/3594, Art. 1 Nummer 1. 81 Gesetz zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 09. Juli 1998, BGBl. 1998, S. 1802. 82 Vgl. hierzu auch Maur, Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten als neuer Wiederaufnahmegrund im Strafverfahren, NJW 2000, 338ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 21 6.2. Zwischenergebnis Auswirkungen auf bereits abgeschlossene Verfahren unabhängig vom jeweiligen Einzelfall bestehen nicht. Eine Durchbrechung der Rechtkraft im Wege von Wiedereinsetzung oder Wiederaufnahme scheidet nach den vorangegangenen Erwägungen aus. Eine entsprechende gesetzliche Regelung, die eine solche ermöglichen würde, existiert derzeit nicht, so dass direkte Auswirkungen auf rechtskräftig abgeschlossene Verfahren nicht zu erwarten sind. 7. Entschädigung / Staatshaftung Es könnte sich ein Anspruch auf Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG)83 oder ein Anspruch nach den Grundsätzen der Staatshaftung ergeben. 7.1. Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen dient der Entschädigung für u.a. Urteilsfolgen. Diese Rechtsfolge ist jedoch nach § 1 StrEG an eine Aufhebung des Urteils im Wege der Wiederaufnahme geknüpft,84 die im vorliegenden Fall, wie bereits dargestellt, ausscheidet . Es kommt allerdings bei einem Freispruch, einer Einstellung des Verfahrens oder der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens ein Anspruch auf Entschädigung nach § 2 StrEG in Betracht, wenn der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen wurde oder er eine andere Strafverfolgungsmaßnahme nach § 2 Absatz 2 oder 3 StrEG erlitten hat. 7.2. Staatshaftung Es kommt ein Anspruch auf Schadensersatz oder Folgenbeseitigung gegen den Staat in Betracht. Voraussetzung ist jedoch stets ein Verschulden eines Amtsträgers oder ein qualifizierter Verstoß 83 Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom08.03.1971 (BGBl. I S. 157); zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.07.2015 (BGBl. I S. 1332) m.W.v. 25.07.2015; abrufbar unter: https://www.gesetze-iminternet .de/streg/index.html [letzter Abruf: 13. Januar 2017]. 84 Vgl. § 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom08.03.1971 (BGBl. I S. 157); zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.07.2015 (BGBl. I S. 1332) m.W.v. 25.07.2015. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 22 gegen geltendes Recht. So erfordert der Staatshaftungsanspruch nach § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)85 in Verbindung mit Artikel 34 Absatz 1 GG ein Verschulden.86 Ein Verschulden ist ebenso für die vom EuGH entwickelte gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung erforderlich, wenn es um einen qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht geht.87 Ob bei der Anwendung des Vorratsdatenspeichergesetzes ein Verschulden angenommen werden kann, erscheint indessen zweifelhaft. Denn für das neue Vorratsdatenspeichergesetz ist nicht offensichtlich , dass ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt. Denn der EuGH hat in seinem Urteil vom 8. April 2014 die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht ausdrücklich ausgeschlossen.88 Im neuen Vorratsdatenspeichergesetz sind die Speicherfristen kurz, und es besteht ein hohes Schutzniveau bezüglich der gespeicherten Daten. Deshalb erscheint es nicht per se unvertretbar anzunehmen, das neue Vorratsdatenspeichergesetz sei unionsrechtskonform . Für einen Staatshaftungsanspruch bzw. einem Anspruch aus gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung dürfte es daher an einem Verschulden fehlen. Ein haftungsbegründendes Verhalten kann daher weder in dem Erlass des Gesetzes, noch in dessen Anwendung durch die Gerichte gesehen werden. 8. Vorlagepflicht der deutschen Gerichte Das Gericht im Hauptverfahren ist verpflichtet, der Rechtsauffassung des EuGH zu folgen, mithin eine hypothetisch von diesem angenommene Unvereinbarkeit von nationalem Recht mit dem Unionsrecht zu beachten.89 Will das Gericht von der Auffassung des EuGH abweichen, so ist es verpflichtet, die Rechtsfrage nach Artikel 267 AEUV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen .90 85 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 24. Mai 2016 (BGBl. I S. 1190); abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/BJNR001950896.html [letzter Abruf: 13. Januar 2017]. 86 Vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 78. EL, September 2016, Art. 34, Rn. 27. 87 Frenz/Götzkes: Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, JA 2009, 759 (760); EuGH, Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. 88 EuGH, Urteil vom 8.4.2014 - C-293/12, C-594/12, Juris, abrufbar unter: https://www.Juris.de/jportal/portal /t/12rx/page/Jurisw.psml?doc.hl=1&doc.id=KVRE415141603&documentnumber=1&numberofresults =2&doctyp=Juris-r&showdoccase=1&doc.part=K¶mfromHL=true#focuspoint; [letzter Abruf: 13. Januar 2017]. 89 EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987 - 314/85, Juris, 1. Leitsatz, abrufbar unter: https://www.Juris.de/jportal/portal /t/12w8/page/Jurisw.psml?doc.hl=1&doc.id=STRE987001690&documentnumber=1&numberofresults =2&doctyp=Juris-r&showdoccase=1&doc.part=K¶mfromHL=true#focuspoint; [letzter Abruf: 13. Januar 2017]. 90 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016. Art. 267, Rn. 29,51. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 191/16 Seite 23 Solange der EuGH keine auf das deutsche Recht bezogene Entscheidung getroffen hat, kann das Gericht der jeweiligen Instanz bei Zweifeln über die Vereinbarkeit ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 267 AEUV stellen. Hat das Gericht sowohl europarechts-, also auch verfassungsrechtsbezogene Zweifel, ob das Vorratsdatenspeichergesetz angewendet werden darf, so besteht zwischen dem Verfahren der konkreten Normenkontrolle vor dem BVerfG gemäß Artikel 100 Absatz 1 GG und dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH gemäß Artikel 267 AEUV kein Vorrangverhältnis;91 beide Zwischenverfahren stehen gleichberechtigt nebeneinander.92 9. Handlungsbedarf des Gesetzgebers Es könnte für den Gesetzgeber Handlungsbedarf bestehen, beispielsweise in der Form, dass das Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten aufzuheben sein könnte. Eine solche Entscheidung ist abhängig von einer konkreten, auf die deutsche Rechtslage bezogenen Entscheidung des EuGH. Unionsrechtswidrige Normen sind nicht automatisch nichtig; der EuGH hat keine Verwerfungskompetenz bezüglich des nationalen Rechts, sondern nur bezüglich des Unionsrechts. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Art. 267 sowie Art. 263, 264 AEUV, wonach der EuGH lediglich bezüglich Handlungen von Unionsorganen über Gültigkeit bzw. Nichtigkeit entscheidet. Der Durchsetzung des Unionsrechts wird Rechnung getragen, in dem aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Normen, die diesem widersprechen, keine Anwendung finden. Die nationalen Gerichte lassen die betroffenen Vorschriften folglich unangewendet und auch die Behörden sind zur Vermeidung von Staatshaftungsansprüchen zu einer unionsrechtskonformen Anwendung nationaler Vorschriften angehalten.93 Im Übrigen sollen innerstaatliche Organe, auch Legislativorgane, dafür Sorge tragen, dass „das nationale Recht so schnell wie möglich mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht und den Rechten , die dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsen, die volle Wirksamkeit verschafft wird.“94 Ob tatsächlich Handlungsbedarf besteht, richtet sich danach, ob und inwieweit der EuGH die deutsche Regelung tatsächlich für mit dem Unionsrecht unvereinbar befindet. *** 91 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006, 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202, Juris-Rn. 51f. 92 Zu diesen Folgen vgl. die Ausführungen oben unter Gliederungspunkt 2. 93 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. 1: EUV/AEUV, 59. Ergänzungslieferung 2016, AEUV Art. 267, Rn. 106. 94 EuGH, Urteil vom 21. Juni 2007, C-231/06, Juris-Rn. 38-41.