© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 185/19 Das Haager Kindesentführungsübereinkommen und die Istanbul-Konvention in der deutschen Rechtspraxis Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Gefragt wird nach Unterschieden zwischen dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ)1 und dem Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (Istanbul -Konvention)2. Von Interesse ist, welche rechtliche Relevanz den Übereinkommen in der Rechtsanwendung in der Bundesrepublik Deutschland zukommt und insbesondere ob es zwischen den Übereinkommen ein Rangverhältnis gebe. Weiterhin wird gefragt, ob die Übereinkommen inhaltliche Anwendungsspielräume eröffneten und ob es gegebenenfalls Hinweise darauf gebe, dass diese von den Staaten unterschiedlich genutzt würden. 2. Haager Kindesentführungsübereinkommen 2.1. Regelungsgegenstand Zentraler Gegenstand des HKÜ ist die Rückführung widerrechtlich über eine Staatsgrenze entführter oder zurückgehaltener Kinder (Artikel 1 lit. a HKÜ).3 In präventiver Hinsicht soll durch die zu erwartende Rückführung des Kindes der Anreiz zu einer Entführung entfallen.4 Das HKÜ ist dabei ein Rechtshilfeübereinkommen mit einheitlichen Sachnormen, die unmittelbar den fraglichen Sachverhalt regeln, ohne dass es insofern auf nationales Recht ankäme.5 Das HKÜ gilt nur zwischen Vertragsstaaten und kommt damit nur zur Anwendung, wenn sich das betreffende Kind in einem Vertragsstaat befindet – die Entführung selbst muss nicht zwangsläufig aus einem Vertragsstaat erfolgt sein.6 2.2. Durchführung in Deutschland Das HKÜ ist für Deutschland am 1.12.1990 in Kraft getreten und gilt daher für alle ab diesem Tag erfolgten Entführungen, insoweit das Übereinkommen auch im anderen betroffenen Staat am Tag der Entführung bereits in Kraft getreten war.7 Innerhalb der Rechtsordnung der Bundesrepublik 1 Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (BGBl. 1990 II S. 206). 2 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (BGBl. 2017 II S. 1026, 1027). 3 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 1. 4 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 4. 5 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 34. 6 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 27, 30. 7 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 22. Eine aktuelle Staatenliste wird vom Bundesamt für Justiz (BfJ) bereitgestellt: https://www.bundesjustizamt .de/DE/Themen/Buergerdienste/HKUE/Staatenliste/Staatenliste.html?nn=3452888. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 185/19 Seite 5 gilt die HKÜ im Range eines einfachen Bundesgesetzes und bindet damit sowohl die vollziehende Gewalt als auch die Rechtsprechung (Artikel 20 Absatz 3 GG8).9 Gemäß Artikel 6 HKÜ hat jeder Vertragsstaat eine „zentrale Behörde“ zu bestimmen, welche die ihr durch das HKÜ übertragenen Aufgaben wahrnimmt. Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Bundesamt für Justiz (BfJ) die zentrale Behörde. Die zentralen Behörden der anderen Vertragsstaaten sind auf der Internetpräsenz der Haager Konferenz aufgeführt.10 Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich gemäß Artikel 8 HKÜ entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen. Alternativ kann auch direkt der Rechtsweg beschritten werden (Artikel 29 HKÜ). Wird letztere Vorgehensweise gewählt, ist zu beachten, dass die Zuständigkeit für HKÜ-Fälle in Deutschland bei bestimmten Familiengerichten konzentriert ist.11 2.3. Anwendungsspielraum Zwar ist das HKÜ für alle Vertragsstaaten bindend. Allerdings räumt das HKÜ an verschiedenen Stellen den handelnden Behörden ein Ermessen ein („kann“) oder weist normative Begriffe auf, die den Normadressaten ebenfalls einen gewissen Spielraum eröffnen. So bestimmt etwa Artikel 10 HKÜ, dass die zentrale Behörde des Staates, in dem sich das Kind befindet, alle „geeigneten“ Maßnahmen zu treffen oder zu veranlassen hat, um die freiwillige Rückgabe des Kindes zu bewirken. Gemäß Artikel 11 HKÜ haben in Verfahren auf Rückgabe von Kindern die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines jeden Vertragsstaats mit der „gebotenen“ Eile zu handeln. Nach Artikel 12 HKÜ „kann“ das Verfahren ausgesetzt oder der Antrag auf Rückgabe des Kindes abgelehnt werden, wenn das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates Grund zu der Annahme haben, dass das Kind in einen anderen Staat verbracht worden ist. Für die Anwendung von Artikel 13 HKÜ ist erheblich, ob die Rückgabe mit der „schwerwiegenden“ Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine „unzumutbare“ Lage bringt. 8 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15. November 2019 (BGBl. I S. 1546) geändert worden ist. 9 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Zur Geltung und Wirkung völkerrechtlicher Verträge in Deutschland, WD 2 - 3000 - 136/19 vom 29. November 2019, S. 5 f. 10 https://www.hcch.net/en/instruments/conventions/authorities1/?cid=24. 11 Vgl. hierzu die Angaben des BfJ unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/HKUE/Gerichte /Gerichte.html?nn=3452888 sowie die dort unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen /HKUE/Familiengerichte.pdf?__blob=publicationFile&v=19 abrufbare Liste der einzelnen Gerichte. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 185/19 Seite 6 Es kann aufgrund dessen nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Verfahrensweisen der Behörden in den verschiedenen Staaten im Einzelfall voneinander abweichen. Einschlägige Hinweise sind der zur Verfügung stehenden juristischen Literatur jedoch nicht zu entnehmen . Praxisorientierte Übersichten über die Anwendung des HKÜ in den einzelnen Staaten sind auf der Internetpräsenz der Haager Konferenz einsehbar.12 Dort finden sich auch Berichte über die letzte Zusammenkunft des Speziellen Ausschusses für die praktische Durchführung des Übereinkommens im Oktober 2017.13 3. Istanbul-Konvention 3.1. Regelungsgegenstand Die 81 Artikel umfassende Istanbul-Konvention verfolgt in einem breiten Ansatz das Ziel, alle Formen von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie körperliche, seelische und sexuelle Gewalt zu erfassen und zu bekämpfen.14 Die Konvention besteht aus zwölf Kapiteln, die in einer großen Bandbreite unterschiedlichste Maßnahmen der verpflichteten Staaten fordern. So sieht die Konvention etwa Präventionsmaßnahmen vor (Kapitel III), Verpflichtungen zum Schutz und zur Unterstützung Betroffener (Kapitel IV) sowie vor allem auch Anforderungen an die Ausgestaltung des nationalen materiellen Zivil- und Strafrechts (Kapitel V) sowie entsprechender verfahrensrechtlicher Regelungen (Kapitel VI). 3.2. Durchführung in Deutschland Die Istanbul-Konvention ist für Deutschland zum 01.02.2018 in Kraft getreten.15 Innerhalb der deutschen Rechtsordnung gilt sie wie die HKÜ im Range eines einfachen Bundesgesetzes und bindet damit sowohl die vollziehende Gewalt als auch die Rechtsprechung (Artikel 20 Absatz 3 GG).16 Die Konvention sieht vor allem bestimmte Anforderungen an die Ausgestaltung und Anwendung der eigenen Rechtsordnung der Staaten vor. Es kommt hierbei nicht auf eine Gegenseitigkeit an. Verschiedene Forderungen der Istanbul-Konvention hatte der deutsche Gesetzgeber bereits zuvor 12 Unter https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/publications1/?dtid=42&cid=24. 13 Unter https://www.hcch.net/de/publications-and-studies/details4/?pid=6545&dtid=57. 14 Kempe, Lückenhaftigkeit und Reform des deutschen Sexualstrafrechts vor dem Hintergrund der Istanbul-Konvention , 2018, S. 39. 15 Rabe/Leisering, Die Istanbul-Konvention – Neue Impulse für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, 2018, S. 7. 16 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Zur Geltung und Wirkung völkerrechtlicher Verträge in Deutschland, WD 2 - 3000 - 136/19 vom 29. November 2019, S. 5 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 185/19 Seite 7 erfüllt – etwa die strafrechtliche Verfolgung von Stalking, Körperverletzung oder Genitalverstümmelung .17 Die Konvention war zudem bereits vor ihrem Inkrafttreten Anlass für den deutschen Gesetzgeber, verschiedene Regelungen zu erlassen, um eine konventionskonforme Gesetzeslage herbeizuführen – zu nennen ist hier etwa die Reform des § 177 StGB18.19 Inwieweit weiterer Anpassungsbedarf besteht, ist unklar: „Ob über die bestehende Gesetzeslage hinaus weitere gesetzgeberische Maßnahmen zur Umsetzung im Zivilrecht erforderlich sind, ist derzeit – auch nach Sicht der Bundesregierung – noch unklar: Inwieweit in der Praxis Familiengerichte häusliche Gewalt regelmäßig in sorgeund umgangsrechtliche Entscheidungen im Sinne von Artikel 31 berücksichtigen, soll eine aktuelle Studie erst noch zeigen.“20 3.3. Anwendungsspielraum Auch die Istanbul-Konvention enthält im Rahmen der Verpflichtungen oftmals normative Begriffe , wodurch den Staaten bei der Umsetzung ein Wertungsspielraum eröffnet wird. So verpflichtet beispielsweise Artikel 29 Absatz 1 der Konvention die Vertragsparteien dazu, die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen zu treffen, um Opfer mit „angemessenen “ zivilrechtlichen Rechtsbehelfen gegenüber dem Täter beziehungsweise der Täterin auszustatten . Auch Artikel 30 stellt darauf ab, dass eine „angemessene“ staatliche Entschädigung zu gewähren und die Sicherheit des Opfers „gebührend“ zu berücksichtigen sei. Es kann aufgrund dessen nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Umsetzung in den verschiedenen Staaten im Einzelfall voneinander abweicht. Um die Durchführung und Anwendung der Konvention sicherzustellen, wird in Kapitel IX der Konvention ein Überwachungsmechanismus etabliert. Als Teil desselben sieht Artikel 66 insbesondere die Einrichtung einer 10- bis 15-köpfigen „Expertengruppe für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – GREVIO – vor. Auf der Internetpräsenz des Euro parats zur Istanbul-Konvention können zu den einzelnen Ländern die ggf. vorliegenden ausführlichen Berichte über die Anwendung der Konvention eingesehen werden.21 17 Rabe/Leisering, Die Istanbul-Konvention – Neue Impulse für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, 2018, S. 13. 18 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 62 des Gesetzes vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1626) geändert worden ist. 19 Rabe/Leisering, Die Istanbul-Konvention – Neue Impulse für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, 2018, S. 13. 20 Rabe/Leisering, Die Istanbul-Konvention – Neue Impulse für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, 2018, S. 13 f. 21 Unter https://www.coe.int/en/web/istanbul-convention/country-monitoring-work. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 185/19 Seite 8 4. Gegenüberstellung und Verhältnis zueinander Das Haager Kindesentführungsübereinkommen und die Istanbul-Konvention gelten im Inland wie gesehen gleichrangig nebeneinander.22 Während die Istanbul-Konvention umfassend und weiträumig ein gesellschaftlich umrissenes Problem – Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt – regelt und die Staaten zu zahlreichen Anpassungen ihres materiellen Rechts sowie der Anwendung desselben verpflichtet, regelt das HKÜ in einem eher formellen Ansatz die zivilrechtliche Zusammenarbeit bezüglich eines eng umrissenen Lebenssachverhalts und enthält unmittelbar anwendbare Sachnormen.23 Es verhält sich insbesondere nicht zur Frage des materiellen Sorgerechts .24 Dem entsprechend wird zum HKÜ festgestellt, dass es aufgrund seines besonderen Regelungsgegenstands nicht von anderen Übereinkommen verdrängt werde.25 Dem entspricht, dass nach Artikel 71 der Istanbul-Konvention Pflichten aus anderen völkerrechtlichen Übereinkommen unberührt bleiben und Artikel 34 HKÜ regelt, dass andere Übereinkommen – nur – dann unberührt bleiben, wenn sie die Kindesrückführung bezwecken. * * * 22 Vgl. oben unter Gliederungspunkt 2.2 und 3.2. 23 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 2. 24 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Artikel 34 KindEntfÜbk Rn. 5. 25 Heiderhoff, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2018, Vorbemerkung zum KindEntfÜbk Rn. 9.