© 2014 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 164/14 Einzelfragen zur Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 2 Einzelfragen zur Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 164/14 Abschluss der Arbeit: 20. August 2014 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Schaffung eines eigenen Straftatbestandes außerhalb der §§ 1, 7 VStGB? 4 2.1. Auffassung der Bundesregierung 5 2.2. Bemerkungen des CED 5 2.3. Stellungnahme von Nichtregierungsorganisationen 6 2.4. Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur 7 2.4.1. Ansicht von von Braun/Diehl 7 2.4.2. Ansicht von Grammer 9 2.4.3. Ansicht von Weiß 10 3. Verfolgung von Auslandstaten nach Artikel 9 Absatz 2 des Übereinkommens 10 3.1. Auffassung der Bundesregierung 11 3.2. Bemerkungen des CED 11 3.3. Stellungnahme von Nichtregierungsorganisationen 11 3.4. Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur 12 4. Anwendbarkeit des Übereinkommens auf Fälle der Vergangenheit? 12 4.1. Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur 13 4.2. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot 13 4.2.1. Grundlagen des Rückwirkungsverbots 13 4.2.2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 4 1. Fragestellung Das Internationale Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen1 (im Folgenden: „Übereinkommen“), dem die Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 31. Juli 2009 beigetreten ist2, ist am 23. Dezember 2010 in Kraft getreten3. Gegenstand des vorliegenden Sachstands ist die Fragestellung, ob es im Hinblick auf das Übereinkommen in Bezug auf Fälle, die nicht „im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung“ erfolgen, bei denen es sich um Auslandstaten handelt (Artikel 9 Absatz 2 des Übereinkommens) oder die schon lange zurückliegen, Lücken im deutschen Strafrecht oder Völkerstrafrecht gibt, die geschlossen werden müssen, um das Übereinkommen vollständig umzusetzen. Im Weiteren werden die hierzu von der Bundesregierung, dem Fachausschuss des Übereinkommens (Comittee on Enforced Disappearance - im Folgenden CED)4, von Nichtregierungsorganisationen und in der rechtswissenschaftlichen Literatur vertretenen Auffassungen vorgestellt5. 2. Schaffung eines eigenen Straftatbestandes außerhalb der §§ 1, 7 VStGB? Gemäß Artikel 4 des Übereinkommens trifft die Vertragsstaaten die Verpflichtung, den in Artikel 2 des Übereinkommens definierten Tatbestand des Verschwindenlassens von Personen nach ihrem Strafrecht unter Strafe zu stellen. Artikel 5 des Übereinkommens bestimmt, dass die ausgedehnte und systematische Praxis des Verschwindenlassens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des anwendbaren Völkerrechts darstellt und die nach diesem Recht vorgehenden Konsequenzen nach sich zieht6. Im 1 International Convention for the Protection of all Persons from Enforced Disappearance, Resolution der Generalversammlung – 61/177; Textfassung in deutscher Sprache abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html. 2 Gesetz zu dem Internationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 30. Juli 2009, BGBl. II S. 932. 3 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Internationalen Übereinkommens über den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 12. Mai 2011, BGBl. 2011 II S. 639. 4 Fachausschuss des Übereinkommens (Treaty Body), siehe unter http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CED/Pages/CEDIndex.aspx. 5 Zur Schaffung eines selbständigen Straftatbestandes des Verschwindenlassens im Rahmen der Umsetzung des Übereinkommens in anderen europäischen Staaten siehe Sachstand „Bestrafung des Verschwindenlassens in europäischen Staaten“ (WD 7-3000-059/14). 6 Vgl. Heinz, „Das neue internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“, 2008, S. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 5 deutschen Recht ist die angemessene Strafbarkeit der Begehung im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung durch die Umsetzung des Tatbestandes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Römischen Status zum Internationalen Strafgerichtshof 7 nach übereinstimmender Auffassung der Bundesregierung und des rechtswissenschaftlichen Schrifttums in § 7 Abs. 1 Nr. 7 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) gewährleistet8. Unterschiedliche Auffassungen werden bezüglich der Frage der Notwendigkeit der Verabschiedung eines selbständigen Straftatbestandes für die Fälle vertreten, die nicht im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erfolgen und keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne dieser Vorschriften darstellen. 2.1. Auffassung der Bundesregierung Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass keine rechtliche Notwendigkeit bestehe für diese Fälle einen neuen selbständigen Straftatbestand im Strafgesetzbuch (StGB) zu schaffen9. Die vorhandenen Vorschriften seien ausreichend. Im Rahmen einer Denkschrift begründet die Bundesregierung ihre Auffassung wie folgt: „Im deutschen Recht existiert zwar kein eigener Straftatbestand des „Verschwindenlassens“, der die Definition des Artikels 2 umfassend aufgreift. Jedoch ist sichergestellt, dass die verschiedenen Begehungsformen strafrechtlich sanktioniert sind. Einschlägig sind insbesondere § 239 StGB (Freiheitsberaubung), § 257 StGB (Begünstigung ), § 258 StGB (Strafvereitelung), § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) und § 357 StGB (Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat). Es gibt daher keine rechtliche Notwendigkeit, einen neuen Straftatbestand zu schaffen.“10 2.2. Bemerkungen des CED Das CED vertritt in seinen abschließenden Bemerkungen11 zu dem von Deutschland nach Artikel 29 Absatz 1 des Übereinkommens vorgelegten Bericht12 die Auffassung, dass die Bezugnahme auf bestehende Straftatbestände nicht ausreiche, um sämtliche in Artikel 2 des Übereinkommens 7 Amtliche Übersetzung des Römischen Status des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, abrufbar unter: http://www.un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html. 8 Von Braun/Diehl, „Die Umsetzung der Konvention gegen das Verschwindenlassen in Deutschland“, ZIS 2011, S. 214, 225; siehe auch BT-Drucksache 16/12592, S. 33; Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 5 Rn. 1. 9 BT-Drucksache 16/12592, S. 33. 10 BT-Drucksache 16/12592, S. 33. 11 Textfassung in Deutscher Sprache abrufbar unter: http://www.bmjv.de/DE/Ministerium/Abteilungen/OeffentlichesRecht/Menschenrechte/VereinteNationen/_doc /Berichtsverfahren_doc.html?nn=1695012. 12 Der Staatenbericht ist abrufbar unter: http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/TreatyBodyExternal/SessionsList.aspx?Treaty=CED. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 6 definierten Tatbestandsmerkmale und Modalitäten des Verschwindenlassens adäquat zu erfassen . Die Straftat des Verschwindenlassens sei keine Abfolge verschiedener Straftaten, sondern stelle eine komplexe und eigene Straftat dar. In diesem Zusammenhang würde die Normierung des Verschwindenlassens als eigenen Straftatbestand es dem Vertragsstaat ermöglichen, die Verpflichtung aus Artikel 4 des Übereinkommens zu erfüllen, die in engem Zusammenhang mit anderen Vertragsverpflichtungen zur Gesetzgebung stünden, etwa den Verpflichtungen in den Artikeln 6, 7 und 8 des Übereinkommens. Vor diesem Hintergrund regt der CED im Wortlaut an: „Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, die erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um das Verschwindenlassen in Übereinstimmung mit der Definition in Artikel 2 des Übereinkommens zu einem eigenständigen Straftatbestand zu machen; der Ausschuss empfiehlt ferner, die Straftat mit angemessenen Strafen zu bedrohen, die ihre außerordentliche Schwere berücksichtigen, und in Übereinstimmung mit Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a des Übereinkommens den Versuch des Verschwindenlassens unter Strafe zu stellen.“13 2.3. Stellungnahme von Nichtregierungsorganisationen Amnesty International (im Folgenden AI) und das European Center for Constitutional and Human Rights (im Folgenden ECCHR) kritisieren in ihrer gemeinsamen Stellungnahme aus dem Monat September 201314 insbesondere die für den Gehilfen in § 27 Absatz 2 Satz 2 StGB vorgesehene zwingende Strafrahmenmilderung für den Fall, dass eine Zurechnung über die Grundsätze der Mittäterschaft gemäß § 25 Absatz 2 StGB nicht möglich sei15. Aus diesem Grunde fordern sie, die Strafbarkeit auch von denjenigen im Rahmen der unmittelbaren Täterschaft ausdrücklich zu regeln, die nicht unmittelbar an dem Verschwindenlassen des Opfers beteiligt sind16. 13 Abschließende Bemerkungen zu dem von Deutschland nach Artikel 29 Absatz 1 des Übereikommens vorgelegten Bericht, S. 3 - Textfassung in Deutscher Sprache abrufbar unter: http://www.bmjv.de/DE/Ministerium/Abteilungen/OeffentlichesRecht/Menschenrechte/VereinteNationen/_doc /Berichtsverfahren_doc.html?nn=1695012. 14 Abrufbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereintenationen /menschenrechtsabkommen/konvention-gegen-verschwindenlassen-cped.html#c10004. 15 S. 5 f. der Stellungnahme, abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html#c10004. 16 S. 5 f. der Stellungnahme, abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html#c10004. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 7 2.4. Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird von einigen Stimmen die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes des Verschwindenlassens zur Umsetzung des Übereinkommens gefordert17. 2.4.1. Ansicht von von Braun/Diehl In ihrer Stellungnahme setzen sich die Autoren von Braun und Diehl für die Schaffung eines eigenen Straftatbestands ein18. Sie betonen insbesondere die Notwendigkeit der vollständigen Erfassung des spezifischen Unrechtsgehalts des Verschwindenlassens im nationalen Strafrecht. Dabei unterscheiden sie zwischen dem Unrechtsgehalt gegenüber dem Verschwundenen, dem Unrechtsgehalt gegenüber den Angehörigen und dem Unrechtsgehalt gegenüber der Allgemeinheit . Bezüglich des Unrechtsgehalts gegenüber dem Verschwundenen zeigen von Braun/Diehl das Bedürfnis nach Schaffung eines selbstständigen Straftatbestandes des Verschwindenlassens anhand der Vorschrift des § 239 StGB (Freiheitsberaubung) auf. An dieser Stelle sei zunächst der Straftatbestand der Freiheitsberaubung kurz erläutert. Gemäß § 239 Absatz 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bestraft, wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt. Zu diesem Grundtatbestand enthält § 239 Absatz 3 StGB zwei Qualifikationstatbestände. Nach der Nummer 1 des § 239 Absatz 3 StGB ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen, wenn der Täter das Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt. Nach § 239 Absatz 3 Nummer 2 StGB gilt dies auch, wenn der Täter durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht. Es handelt sich dabei um eine Erfolgsqualifikation zum Grundtatbestand des § 239 Absatz 1 StGB. Vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten weisen von Braun/Diehl darauf hin, dass die Erfolgsqualifikation des § 239 Absatz 3 Nummer 2 StGB eine schwere Gesundheitsschädigung oder Tötung des Opfers erfordere19. Während der Haft eines Opfers seien diese weitergehenden Erfolgseintritte allerdings regelmäßig nicht nachweisbar, so dass auf die Strafbarkeit wegen des Ergreifens , also der Freiheitsberaubung nach § 239 Absatz 1 StGB beziehungsweise, wenn diese - wie in der Regel - länger als eine Woche dauere, nach der Qualifikation des § 239 Absatz 3 Nummer 1 StGB, zurückgegriffen werden müsse20. 17 Von Braun/Diehl, (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (224); Grammer, „Der Tatbestand des Verschwindenlassens einer Person, Transposition einer völkerrechtlichen Figur ins Strafrecht“, 2005, S. 97 ff.; Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 4 Rn. 3. 18 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (225). 19 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (225). 20 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (225). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 8 Damit werde aber das nach ihrer Ansicht eigentliche spezifische Unrecht der Tat, das Versetzen des Verschwundenen in einen völlig schutzlosen Zustand, in welchem er seinen Peinigern völlig wehrlos ausgeliefert sei, und diese aufgrund der Ungewissheit über den Verbleib der Person keine Strafverfolgung zu befürchten haben, nicht erfasst21. Durch das Verschwindenlassen bestehe eine andauernde Gefahr für alle Rechtsgüter des Verschwundenen, die durch den Tatbestand der Freiheitsberaubung nicht angemessen sanktioniert werde22. Hinsichtlich des Unrechtsgehalts gegenüber den Angehörigen erfasse das deutsche Strafrecht die durch das Verschwindenlassen hervorgerufenen Leiden bislang nicht23. Durch die Erweiterung des Opferbegriffs habe das Übereinkommen zu Recht anerkannt, dass auch das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit in Form psychischer Integrität der Angehörigen durch das Verschwindenlassen tangiert sei24. Zwar stellten im deutschen Strafrecht § 239a StGB (Menschenraub ) und § 239b StGB (Geiselnahme) auf die „Sorge um das Wohl“ der entführten Person ab, jedoch verlange das Verschwindenlassen im Sinne des Übereinkommens - im Gegensatz zu § 239a StGB (Menschenraub) und § 239b StGB (Geiselnahme) - nicht, dass die Angehörigen der in Haft gehaltenen Person zu einem bestimmten Verhalten genötigt werden, so dass eine Strafbarkeit nach diesen Vorschriften entfalle25. Ebenfalls werde das Verhalten der Behörden, die gegenüber den Angehörigen den Verbleib und das Schicksal des Verschwundenen verschleiern, welches von dem Übereinkommen ebenfalls als tatbestandsmäßige Handlung gewertet werde, nach jetzigem deutschen Strafrecht nicht erfasst26. Denn die Vorschriften der § 257 StGB (Begünstigung), § 258 StGB (Strafvereitelung) und § 258a StGB (Strafvereitelung im Amt) dienten vor allem dem Schutz der Rechtspflege und weniger den Individualinteressen27. Zumindest größtenteils durch das deutsche Strafrecht erfasst - hier seien insbesondere § 257 StGB (Begünstigung), § 258 StGB (Strafvereitelung) und § 258a StGB (Strafvereitelung im Amt) genannt - werde der Unrechtsgehalt des Verschwindenlassens gegenüber der Allgemeinheit28. Auch die Grundsätze über die Täterschaft und Teilnahme des deutschen Strafrechts entsprächen nicht den Vorstellungen des Übereinkommens. Denn nach diesem gelte nicht nur derjenige als unmittelbarer Täter des Verschwindenlassens, der das Opfer selbst ergriffen oder während der 21 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (225). 22 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (225). 23 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (225). 24 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). 25 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). 26 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). 27 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). 28 von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 9 Haft gefoltert oder getötet habe, sondern auch derjenige, der wider besseren Wissens keine oder falsche Angeben über den Verbleib und das Schicksal des Opfers gemacht habe, um die Handlungen des anderen zu verschleiern29. Vor diesem Hintergrund sei für eine Strafbarkeit desjenigen , der nicht am Ergreifen, Foltern und beziehungsweise oder der Tötung des Opfers beteiligt war, erforderlich, dass diesem das Verhalten der anderen nach den Regeln der Mittäterschaft gemäß § 25 Absatz 2 StGB zugerechnet werde. Der dazu erforderliche Nachweis eines gemeinsamen Tatentschlusses sei jedoch äußerst problematisch30. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn sich die verschiedenen Täter untereinander nicht einmal kennen und nur vage Vorstellungen davon haben, was dem Verschwundenen durch wen und wo widerfahre31. Dies führe im Ergebnis dazu, dass die Täter der zweiten Begehungsvariante des Verschwindenlassens (Artikel 6 Nummer 1 Buchstabe b des Übereinkommens) nicht einmal nach den Straftatbeständen des StGB bestraft werden können, die dem Unrechtsgehalt ihrer Verbrechen noch am nächsten kämen. Sie würden stattdessen eher als unbedeutende Helfer eingeordnet32. 2.4.2. Ansicht von Grammer In seiner Dissertation erörtert Grammer im Rahmen der Feststellung der Existenzberechtigung eines eigenen Straftatbestandes zunächst den spezifischen Unrechtsgehalt des Verschwindenlassens33. Das spezifische Unrecht beschreibt er im Ergebnis wie folgt: „Durch das Verschwindenlassen einer Person werden mehrere Rechtsgüter unterschiedlicher Rechtsgutsträger verletzt. Beim Verschwundenen kommt es neben der Freiheitsverletzung zu einer umfassenden, erheblichen Gefährdung seiner Person, bei den Angehörigen zu einer Verletzung ihres engen, persönlichen Verhältnisses zum Verschwundenen und auf überindividueller Ebene zu einer Verletzung der öffentlichen Sicherheit und des Rechtsstaats. Diese Rechtsgutsbeeinträchtigungen stellen in ihrer Verbindung das spezifische Unrecht der Tat dar, ein Unrechtsplus, das sich von der Summe des Unrechts der Einzelakte des Verschwindenlassens deutlich unterscheidet und dieses wesentlich übersteigt.“34 Anschließend arbeitet Grammer die im Rahmen des Verschwindenlassens auftretenden prozessualen Beweisschwierigkeiten35 sowie die kriminalpolitische Bedeutung36 einer selbständigen Vorschrift als Rechtfertigungen zur Schaffung eines eigenen Straftatbestandes heraus. 29 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). 30 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226). 31 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (226 f.). 32 Von Braun/Diehl (siehe Fn. 8), ZIS 2011, S. 214 (227). 33 Grammer (siehe Fn. 17), S. 97 ff. 34 Grammer (siehe Fn. 17), S. 130. 35 Grammer (siehe Fn. 17), S. 136 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 10 Als Gesamtergebnis zieht er die Schlussfolgerung: „Es gibt überzeugende Gründe für die Schaffung beziehungsweise die Existenz eines eigenständigen Tatbestandes des Verschwindenlassens. An erster Stelle ist dessen spezifischer Unrechtsgehalt zu nennen, der (…) über das bestehende Strafrecht nicht in befriedigender Weise erfasst werden kann. In prozessualer Hinsicht spricht für einen Tatbestand, dass sich damit die bei der aktuellen Rechtslage teilweise unlösbaren Beweisschwierigkeiten meistern lassen. Zu guter Letzt liefert die weltweite, parallel zur Entwicklung rechtsstaatlichen Schutzes zunehmende und diesen Schutz umgehende Verbreitung dieser Unterdrückungsmethode ein kriminalpolitisches Argument für einen eigenständigen Tatbestand.“37 2.4.3. Ansicht von Weiß Weiß vertritt die Auffassung, dass im Ergebnis die Umsetzung des Übereinkommens erst mit der Schaffung eines eigenständigen Straftatbestandes vollständig erfüllt sei38. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers sei nicht wirklich verständlich, weil die Schaffung eines eigenständigen Straftatbestandes einerseits nicht automatisch ein Eingeständnis sei, dass solche Taten vorkämen und andererseits ein eigener Straftatbestand als Signal nach außen wirke, dass auch die Bundesrepublik mit der Umsetzung Ernst mache39. 3. Verfolgung von Auslandstaten nach Artikel 9 Absatz 2 des Übereinkommens Regelungen zum Strafanwendungsrecht trifft Artikel 9 des Übereinkommens. Artikel 9 Absatz 2 des Übereinkommens hat folgenden Wortlaut: „Ebenso trifft jeder Vertragsstaat die erforderlichen Maßnahmen, um seine Zuständigkeit zur Ausübung der Gerichtsbarkeit über die Straftat des Verschwindenlassens dann zu begründen, wenn der Verdächtige sich in einem der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet befindet und dieser ihn nicht im Einklang mit seinen internationalen Verpflichtungen an einen anderen Staat ausliefert oder übergibt oder an ein internationales Strafgericht überstellt, dessen Gerichtsbarkeit er anerkannt hat.“ Bezüglich der Umsetzung des Artikels 9 Absatz 2 des Übereinkommens in das deutsche Strafrecht werden verschiedene Auffassungen vertreten. 36 Grammer (siehe Fn. 17), S. 138 ff. 37 Grammer (siehe Fn. 17), S. 140. 38 Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 4 Rn. 3. 39 Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 4 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 11 3.1. Auffassung der Bundesregierung Die Bundesregierung sieht eine hinreichende Umsetzung des Übereinkommens durch das Strafanwendungsrecht der §§ 3 ff. StGB40. Wörtlich nimmt die Bundesregierung zu Artikel 9 Absatz 2 wie folgt Stellung: „Dieser Artikel trifft Regelungen zum Strafanwendungsrecht. Um eine effektive Verfolgung der Täter sicherzustellen, legt Artikel 9 relativ weite Zuständigkeiten der Vertragsstaaten für die Strafgewalt fest. Nach Absatz 1 gilt nicht nur das Territorialprinzip (Buchstabe a), sondern auch das aktive (Buchstabe b) und passive (Buchstabe c) Personalitätsprinzip. Außerdem wird die Zuständigkeit im Rahmen der deutschen Hoheitsgewalt durch Absatz 2 auch nach dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege begründet. Die Geltung des deutschen Strafrechts ist insoweit durch §§ 3 ff. StGB gewährleistet. Für die im VStGB geregelten Verbrechen gilt das Weltrechtsprinzip (§ 1 VStGB).“41 3.2. Bemerkungen des CED Hinsichtlich der Umsetzung des Artikels 9 Absatz 2 des Übereinkommens vertritt der CED in seinen abschließenden Bemerkungen zu dem von Deutschland nach Artikel 29 Absatz 1 des Übereikommens vorgelegten Bericht folgende Auffassung: „Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen , um sicherzustellen, dass die Ausübung der Gerichtsbarkeit über die Straftat des Verschwindenlassens in Übereinstimmung mit den sich aus Artikel 9 des Übereinkommens ergebenden Verpflichtungen, insbesondere dem in diesem Artikel festgeschriebenen Grundsatz aut dedere aut judicare, vollständig gewährleistet ist. Der Vertragsstaat sollte diesbezüglich sicherstellen, dass - in Übereinstimmung mit Artikel 9 - Bedingungen, die in dem Übereinkommen nicht vorgesehen sind, die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch die deutschen Gerichte nicht berühren.“42 3.3. Stellungnahme von Nichtregierungsorganisationen Hinsichtlich des Problems begangener Auslandstaten sehen AI und das ECCHR entsprechend ihrer gemeinsamen Stellungnahme aus dem Monat September 201343 die Regelungen in §§ 1, 7 VStGB als nicht ausreichend an, weil das in diesen Vorschriften verankerte Weltrechtsprinzip 40 BT-Drucksache 16/12592, S. 33. 41 BT-Drucksache 16/12592, S. 33. 42 Siehe Fn. 13, Seite 4; Textfassung in Deutscher Sprache abrufbar unter: http://www.bmjv.de/DE/Ministerium/Abteilungen/OeffentlichesRecht/Menschenrechte/VereinteNationen/_doc /Berichtsverfahren_doc.html?nn=1695012. 43 Siehe Fn. 14, abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html#c10004. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 12 nur die Fälle erfasse, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung erfolgen44. So knüpfe auch die Regelung des § 7 Absatz 2 Nummer 2 StGB die strafrechtliche Verfolgung - rekurriert auf das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege - entweder daran, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht sei oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliege. In Fällen, in denen andere Staaten nicht über vergleichbare Regelungsmechanismen verfügen, könne dies erhebliche Probleme bei der Strafverfolgung mit sich bringen45. Unter Berücksichtigung des zuvor Gesagten schlagen AI und das ECCHR deshalb vor, auf § 6 Nummer 9 StGB zurückzugreifen, um das dort verankerte Weltrechtsprinzip zum Tragen kommen zu lassen 46. 3.4. Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur Im Rahmen seiner Kommentierung vertritt Weiß die Auffassung, dass das deutsche Recht mit §§ 3 ff. StGB den Anforderungen des Artikels 9 Absatz 1 des Übereinkommens entspreche47. Für Straftaten, die auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen unter deutscher Hoheitsgewalt begangen wurden , greife § 4 StGB48. Bezüglich Artikel 9 Absatz 2 des Übereinkommens führt er im Wortlaut aus: „In den Fällen von Artikel 9 Absatz 2 muss der Vertragsstaat die Gerichtsbarkeit selbst ausüben, wenn er den Verdächtigen nicht an einen anderen Staat ausliefert oder an ein internationales Strafgericht überstellt (stellvertretende Strafrechtspflege). Letzteres setzt voraus, dass die Tat als Völkerrechtsverbrechen zu werten ist.“49 4. Anwendbarkeit des Übereinkommens auf Fälle der Vergangenheit? Abschließend wird die Frage behandelt, ob das deutsche Strafrecht und das Völkerstrafrecht Lücken hinsichtlich solcher Fälle aufweisen, die bereits eine lange Zeit zurückliegen. Das Übereinkommen trifft hierzu keine Aussage. 44 S. 9 der Stellungnahme, abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html#c10004. 45 S. 9 der Stellungnahme, abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html#c10004. 46 S. 9 der Stellungnahme, abrufbar unter: http://www.institut-fuermenschenrechte .de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/konventiongegen -verschwindenlassen-cped.html#c10004. 47 Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 9 Rn. 1. 48 Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 9 Rn. 1. 49 Weiß, Kommentar zum Übereinkommen zum Schutz vor Verschwindenlassen, Artikel 9 Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 13 4.1. Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur Am 25. April 2012 fand in der Bremer Landesvertretung in Berlin eine internationale Fachtagung zum gewaltsamen Verschwindenlassen von Personen statt. An der Konferenz, die das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) in Kooperation mit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und dem Nürnberger Menschenrechtszentrum (NMRZ) veranstaltete und die durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, beleuchtete Prof. Dr. Decaux, Vorsitzender des CED, die Arbeitsweise des 2011 eingesetzten CED. Dabei unterstrich er, dass das Übereinkommen aus seiner Sicht ausschließlich für zukünftige Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens anwendbar sei. Dennoch könne das Übereinkommen ein effektiver Wächter für den Schutz gegen das Verschwindenlassen sein50. Weitere Äußerungen der rechtswissenschaftlichen Literatur, von Nichtregierungsorganisationen oder der Bundesregierung zu dieser Frage liegen - soweit ersichtlich - nicht vor. 4.2. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot Im Zusammenhang mit der Frage der Anwendbarkeit des Übereinkommens auf bereits lange zurückliegende Fälle ist auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot hinzuweisen. 4.2.1. Grundlagen des Rückwirkungsverbots Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz (im Folgenden GG) lautet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Das verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot ist auf einfachgesetzlicher Ebene in § 2 Absatz 1 StGB in Verbindung mit § 1 StGB normiert. § 2 Abs. 1 StGB lautet: „Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.“ § 2 Absatz 1 StGB stellt ausdrücklich klar, dass das „zur Zeit der Tat“ geltende Gesetz hinsichtlich der Frage der Strafbarkeit maßgeblich ist51. Die Vorschrift des § 1 StGB stimmt im Wortlaut mit Artikel 103 Absatz 2 GG überein. 50 Osladil, „Konferenz zum gewaltsamen Verschwinden lassen“, DÖV 2013, 234. 51 BGH , Urteil vom 26.10.2006 - 5 StR 70/06, juris Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 164/14 Seite 14 4.2.2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum Rückwirkungsverbot klargestellt, dass Artikel 103 Absatz 2 GG den Bürger nicht nur davor bewahre, dass ein bisher erlaubtes Verhalten rückwirkend für strafbar erklärt werde; es schütze ihn auch davor, dass der Unrechtsgehalt einer von ihm begangenen Zuwiderhandlung gegen das Strafgesetz bei seiner Verurteilung höher bewertet werde als zur Zeit der Tat52. Erfasst werde also sowohl die rückwirkende Strafbegründung als auch die rückwirkende Strafverschärfung53. 52 BVerfG, Beschluss vom 26.02.1969 - 2 BvL 15/68, 2 BvL 23/68, juris Rn. 78. 53 BVerfG, Beschluss vom 29.11.1989 - 2 BvR 1491/87, 2 BvR 1492/87, juris Rn. 10.