WD 7 - 3000 - 157/19 (8. Oktober 2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Nach § 105 StGB macht sich strafbar, wer ein in den Ziffern 1-3 von § 105 Abs. 1 StGB aufgelistetes Verfassungsorgan rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt nötigt, seine Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben. Sofern beispielsweise eine von den Versammlungsteilnehmern „geforderte Entscheidung nicht getroffen wurde“ kommt lediglich eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht (Müller, Rn 29). Die Möglichkeit zu dessen strafrechtlicher Ahndung ergibt sich aus dem Verbrechenscharakter des § 105 Abs. 1 StGB (§ 12 Abs. 1, § 23 Abs. 1 StGB). Der Versuch kann auch in Mittäterschaft gemäß § 25 Abs. 2 StGB verwirklicht werden. 1. Tatentschluss Für eine Versuchsstrafbarkeit ist ein Tatentschluss der Versammlungsteilnehmer notwendig. Dieser beinhaltet den Vorsatz der Versammlungsteilnehmer hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale und die sonstigen subjektiven Unrechtsmerkmale (Hoffmann-Holland, Rn 35). Insbesondere muss sich der Tatentschluss auf die Nötigungsmittel Gewalt oder Drohung mit Gewalt beziehen. Der Gewaltbegriff im Rahmen von § 105 StGB ist in Anlehnung an den Tatbestand des Hochverrats gegen den Bund (§ 81 StGB) zu bestimmen (BGH, Rn 14). Die Schwelle für die Annahme von Gewalt ist wie bei anderen Staatsschutzdelikten gegenüber den dem Individualschutz dienenden Strafbestimmungen höher anzusetzen (Eser, Rn 6). Dabei ist es nicht ausreichend , „dass der Täter irgendeine mit körperlichen Einwirkungen verbundene Gewalt androht oder anwendet, um das Verfassungsorgan zu dem erstrebten Handeln zu veranlassen“ (BGH, Rn 13). Erfolgt Gewalt gegenüber Dritten oder Sachen und nicht unmittelbar gegenüber dem Verfassungsorgan , stellen diese nach Ansicht des Bundesgerichtshofs nur dann Gewalt im Sinne der Vorschrift dar, wenn der hierdurch „ausgehende Druck unter Berücksichtigung sämtlicher die Nötigungslage kennzeichnender Umstände geeignet erscheint, den dem Täterverlangen entgegenstehenden Willen des Verfassungsorgans zu beugen“ (BGH, Rn. 13). Hierbei könne von Verfassungsorganen erwartet werden, dass sie „auch im Rahmen heftiger politischer Auseinandersetzungen“ in der Lage sind, Drucksituationen standzuhalten (BGH, Rn 24). Erst wenn der Druck im Falle von „Gewalttätigkeiten gegen Dritte oder Sachen“ von solchem Gewicht ist, „dass sich eine ver- Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Versuch der Nötigung von Verfassungsorganen (§ 105 StGB) im Rahmen öffentlicher Versammlungen Kurzinformation Rahmen öffentlicher Versammlungen Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 antwortungsbewusste Regierung zur Kapitulation […] gezwungen sehen kann, um schwerwiegende Schäden für das Gemeinwesen oder einzelne Bürger abzuwenden“, liege Gewalt im Sinne des § 105 StGB vor (BGH, Rn 24). Im Streikfall kann nur dann von Gewalt im Sinne von § 105 StGB ausgegangen werden, „wenn die Auswirkungen des Streiks der Anwendung physischer Gewalt gleichkommen, so z. B. wenn durch Lahmlegung der gesamten Lebensmittel-, Wasser- oder Energieversorgung das physische Leben der Bevölkerung gefährdet ist“ (BT-Drucksache V/2860, S. 3, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/05/028/0502860.pdf, letzter Abruf: 14.10.19). Teilweise wird beispielhaft auch der Ausfall von Verkehrsmitteln (Müller, Rn 14) bzw. der Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrs (Fischer, § 81 Rn 6a) genannt. Dabei wird vertreten, es müsse aber eine „ernstliche Bedrohung von Versorgung oder Gesundheit“ bestehen (Fischer, § 81, Rn 6a). Diese Überlegungen gelten wohl auch für Demonstrationen (BGH; Müller, Rn 14; Fischer, § 81 Rn 6a). Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurde teilweise vertreten, dass sofern ein technischer Notdienst in der Lage ist, die Versorgung der Öffentlichkeit weiterhin zu gewährleisten, keine Gewalt im Sinne der Vorschrift vorliege (BT-Drucksache V/2860, S. 3). Im Rahmen der Drohung mit Gewalt reicht eine psychologische Zwangswirkung auf den Adressaten , wobei „Nachteile in Aussicht gestellt werden“ müssen, die bei Realisierung Gewalt im Sinne des § 105 Abs. 1 StGB darstellen würden (Lampe/Hegmann, in Bezug auf § 81 StGB, § 81 Rn 9; aber auch Kühl, Rn 3, § 81 Rn 6). 2. Unmittelbares Ansetzen Die Versammlungsteilnehmer müssten auch unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestands angesetzt haben (zu den Voraussetzungen des unmittelbaren Ansetzens siehe Hoffmann/Holland, Rn 109-113, 140). 3. Rechtswidrigkeit Sollte der Tatentschluss im Rahmen einer öffentlichen Versammlung in Ausnahmefällen einmal vorliegen und auch das unmittelbare Ansetzen gegeben sein, wird vertreten, dass eine Verwerflichkeitsprüfung entsprechend § 240 Abs. 2 StGB (sofern man überhaupt von einer Anwendbarkeit der Klausel ausgeht) aufgrund der hohen Anforderungen an die Gewalt bzw. Drohung mit Gewalt immer eine Verwerflichkeit ergebe (Kargl, Rn 3, 8). Auch das in Art. 20 Abs. 4 GG verankerte Widerstandsrecht dürfte in der Praxis kaum eine Rechtfertigung begründen (Kühl, Rn 5). Es wird vertreten, das Streikrecht gemäß Art. 9 Abs. 3 GG führe außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 20 Abs. 4 GG ebenfalls nicht zu einer Rechtfertigung (Bauer/Gmel, Rn 19). Ebenso wirke das Demonstrationsrecht sowie das „Recht auf zivilen Ungehorsam“ (unabhängig von der Frage ob letzteres überhaupt einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund darstellen kann) in Bezug auf § 105 StGB nicht rechtfertigend (Bauer/Gmel, Rn 20, 21). 4. Fazit Im Rahmen von öffentlichen Versammlungen durchgeführte Protestaktionen, wie beispielsweise Verkehrsblockaden, stellen im Regelfall keine Gewaltausübung im o.g. Sinne dar. Die zeitweise Behinderung des Straßenverkehrs an zentralen Verkehrsknotenpunkten durch Sitzblockaden o. ä. Kurzinformation Rahmen öffentlicher Versammlungen Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 zielt in der Regel nicht darauf ab, den gesamten öffentlichen Verkehr zusammenbrechen zu lassen oder einen Ausfall der Energie-, Wasser- oder Lebensmittelversorgung herbeizuführen. Die ausgeübten Aktionen führen daher nach der Vorstellung der Versammlungsteilnehmer zumeist nicht die erforderliche gesteigerte Drucksituation herbei. Liegen Tatentschluss und unmittelbares Ansetzen im Einzelfall vor, sind die Anforderungen an eine Rechtfertigung sehr hoch. Quellen: – GG: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 28. März 2019 (BGBl. I S. 404) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html, letzter Abruf : 16.10.2019. – StGB: Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 19. Juni 2019 (BGBl. I S. 844) geändert worden ist, abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/BJNR001270871.html, letzter Abruf: 14.10.2019. – BGH: Bundesgerichtshof, Urteil vom 23.11.1983 - 3 StR 256/83 (S), BGHSt 32, 165, abrufbar unter: https://opinioiuris .de/entscheidung/1244, letzter Abruf: 14.10.2019. – Bauer/Gmel: Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, 12., neu bearbeitete Auflage, 4. Band, Kommentierung zu § 105 StGB. – Eser: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, Kommentierung zu § 105 StGB. – Fischer: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 66. Auflage 2019, so nicht anders vermerkt: Kommentierung zu § 105 StGB. – Hoffmann-Holland: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, Kommentierung zu § 22 StGB. – Kargl: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Auflage 2017, Kommentierung zu § 105 StGB. – Kühl: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 29. Auflage 2018, so nicht anders vermerkt: Kommentierung zu § 105 StGB. – Lampe/Hegmann: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, Kommentierung zu § 81 StGB. – Müller: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, Kommentierung zu § 105 StGB. ***