© 2017 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 150/17 Gerichtsverfahren im Contergan-Fall Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 150/17 Seite 2 Gerichtsverfahren im Contergan-Fall Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 150/17 Abschluss der Arbeit: 20. November 2017 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 150/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Hintergrund des Contergan-Falls 4 3. Strafverfahren gegen die Chemie Grünenthal GmbH 5 4. Schadensersatzansprüche gegen die Chemie Grünenthal GmbH 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 150/17 Seite 4 1. Einleitung Im Jahre 1957 wurde durch die Firma Chemie Grünenthal GmbH das thalidomidhaltige Schlafund Beruhigungsmittel Contergan in den Handel gebracht. Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten, sind mit schweren Fehlbildungen ihrer Gliedmaßen und anderen Körperschäden zur Welt gekommen. In der Bundesrepublik Deutschland sind rund 2.500 Kinder betroffen. In dieser Dokumentation sollen die Gerichtsverfahren im Contergan-Fall zusammengestellt werden . Insoweit kommen sowohl Strafverfahren wegen Körperverletzung als auch Zivilverfahren wegen Schadensersatz in Betracht. Insbesondere sollen die Urteile zusammengestellt werden, in denen sich die Gerichte besonders mit der Schuldfrage auseinandergesetzt haben. Zur Schuldfrage der Mutter ist jedoch anzumerken, dass es kein Urteil gibt, welches sich mit einer Mitschuld dieser beschäftigt. 2. Hintergrund des Contergan-Falls Entscheidend für den Hintergrund des Contergan-Falls ist zunächst der Fakt, dass es damals kein Arzneimittelgesetz gab, welches die Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und ausreichende Qualität von Arzneimitteln regelte. Zudem spielt die lange Zeitspanne zwischen dem ersten Auftreten von Nebenwirkungen des Medikaments bis zu seiner Herausnahme aus dem Markt eine große Rolle. Bei der Markteinführung von Contergan am 01. Oktober 1957 gab es in der Bundesrepublik Deutschland kein einheitliches Arzneimittelgesetz. Es galt das Prinzip der Selbstüberwachung. In der Zeit vor und während der Contergan-Tragödie lag es in der Verantwortung des Arzneimittelherstellers , wie er neue Arzneistoffe testete. Umfassende Gesetze für das wirksame Erfassen der Nebenwirkungen von Arzneimitteln fehlten. Zudem mussten Arzneimittel nicht auf Schädigungen des ungeborenen Lebens geprüft werden. Erst 1961 wurde das erste westdeutsche Arzneimittelgesetz erlassen. Es definierte den Arzneimittelbegriff sowie die Herstellung, Kennzeichnung und Registrierung von Arzneimitteln.1 Nachdem das rezeptfreie Medikament Contergan am 01. Oktober 1957 auf den Markt kam, gingen in den Jahren 1958 und 1959 zunächst einzelne und in den Jahren 1960 und 1961 vermehrte Meldungen über Nebenwirkungen – insbesondere über Nervenschäden – bei der Chemie Grünenthal GmbH ein. Der Hersteller änderte erst 1961 die Gebrauchsinformation und fügte Hinweise auf die Nebenwirkungen ein. Zudem wurde im Mai 1961 aufgrund der Nebenwirkungen die Rezeptpflicht für das Medikament beantragt. Erst am 27. November 1961 wurde das Medikament aus dem Handel gezogen.2 1 Vgl. http://www.contergan.grunenthal.info/grt-ctg/GRT-CTG/Die_Fakten/Das_deutsche_Arzneimittelrecht _vor/149400235.jsp [Stand: 28.02.2013]. 2 Zusammenfassung der Chronik zum Contergan-Fall: http://www.gruenenthal-opfer.de/Conterganhistorie [Stand: 28.02.213]; http://www.contergan.grunenthal.info/grt-ctg/GRT-CTG/Die_Fakten/Chronologie /149400239.jsp [Stand: 28.02.2013]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 150/17 Seite 5 3. Strafverfahren gegen die Chemie Grünenthal GmbH Nach einem sechseinhalb-jährigen Ermittlungsverfahren begann am 27. Mai 1968 der Strafprozess gegen leitende und wissenschaftliche Mitarbeiter von der Chemie Grünenthal GmbH wegen Körperverletzung (§ 223 StGB) und ggf. fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB). Am 18. Dezember 1970 erging der Beschluss des LG Aachen, dass das Strafverfahren gegen die Beschuldigten eingestellt werde. LG Aachen, Beschluss vom 18. Dezember 1970 – Az. 4 KMs 1/68, 15 – 115/67, Juristenzeitung (JZ) 1971, 507ff. Anlage 1 Die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft im Contergan-Prozess, Deutsche Richterzeitung 1971, S. 45 Anlage 2 Das LG Aachen stellt zunächst fest, dass selbst wenn das Contergan vor dem Inverkehrbringen in den Handel nicht ausreichend pharmakologisch und klinisch geprüft worden wäre, dem Hersteller hierin kein Verschulden zuzuschreiben wäre, da auch eine ordentliche und gewissenhafte pharmakologische Prüfung das Auftreten von Polyneuritiden - Entzündung mehrerer Nerven - nicht notwendigerweise hätte erkennen lassen.3 Das LG Aachen stellt jedoch Grundsätze auf, wie sich Arzneimittelhersteller zu verhalten haben, wenn bei ihm Meldungen eingehen, in denen ein von ihm vertriebenes Präparat verdächtigt wird, schädliche Nebenwirkungen zu haben. Insoweit liegt ein „Schwebezustand“ vor, wenn noch nicht wissenschaftlich bewiesen ist, dass diese Nebenwirkungen tatsächlich von dem jeweiligen Medikament ausgehen. Zur Schuldfrage in einem solchen Fall äußert sich das Gericht wie folgt:4 „Es gibt, wie sämtliche Sachverständige nahezu übereinstimmend dargelegt haben, kein Arzneimittel, das nicht irgendwelche unerwünschten schädlichen Nebenwirkungen hat. Der Arzneimittelhersteller, der ein Arzneimittel auf den Markt bringt, schafft daher neben dem Nutzen, den sein Präparat hat, auch eine gewisse Gefahrenquelle. Es ist anerkanntes Recht, dass derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft, auch die Pflicht hat, den Eintritt von Schäden zu verhindern. […] Es kann nach Auffassung der Kammer keinem Zweifel unterliegen, dass das Interesse des Verbrauchers, sich durch die Einnahme eines Arzneimittels keiner Schädigung seiner Gesundheit auszusetzen, dem Interesse des Arzneimittelherstellers an einem uneingeschränkten Vertrieb seines Präparats vorzugehen hat. […] 3 Contergan-Beschluss, JZ 1971, 507 (514). 4 Contergan-Beschluss, JZ 1971, 507 (515-517). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 150/17 Seite 6 Der Verbraucher, der über etwaige Nebenwirkungen eines Präparats nicht unterrichtet ist, kennt die Gefahr, in die er sich möglicherweise mit der Einnahme eines Arzneimittels begibt , überhaupt nicht. Er hat deshalb keine Möglichkeit, sich vor etwaigen Gesundheitsschäden zu schützen. […] Alle diese Gründe lassen es nach Auffassung der Kammer zwingend geboten erscheinen, während des aufgezeigten Schwebezustandes das Risiko dem Arzneimittelhersteller aufzuerlegen . […] Eine Risikoverteilung zu Lasten des Arzneimittelherstellers, wie sie die Kammer nach den vorstehenden Ausführungen für geboten hält, hat zwingend zur Folge, dass der Arzneimittelhersteller immer dann tätig werden muss, wenn es der Schutz des Verbrauchers erfordert . Das wird aus den genannten Gründen in der Regel nicht erst dann der Fall sein, wenn der gegen sein Präparat erhobene Verdacht wissenschaftlich begründet ist. Vielmehr wird grundsätzlich schon bei einem geringen Grad an Verdacht ein Handeln des Arzneimittelherstellers notwendig sein. […] Wendet man die vorstehend skizzierten Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall an, so ergibt sich, dass Ärzte und Verbraucher über den gegen Contergan geäußerten Verdacht, das Mittel könne bei längerer Medikation zu Polyneuritiden führen, und die sich hieraus ergebenden Bedenken und Konsequenzen nicht rechtzeitig und nach Form und Inhalt nicht ausreichend informiert worden sind.“ Das LG Aachen sieht die Schuld der Contergan-Schäden damit beim Arzneimittelhersteller, der die Verbraucher und Ärzte nicht rechtzeitig und ordnungsgemäß über die Nebenwirkungen unterrichtet hat. Den Ärzten und Müttern wird in einem solchen Schwebezustand, bei dem noch nicht wissenschaftlich feststeht, dass von einem Arzneimittel schädliche Wirkungen ausgehen, keine Mitschuld an den Schäden der Kinder gegeben, da diese im Contergan-Fall nicht über die möglichen Nebenwirkungen von der Chemie Grünenthal GmbH informiert wurden. Kritisiert wird im Urteil zudem das Verhalten der Behörden im Contergan-Fall (es wird im Urteil jedoch nicht von einer Mitschuld der Behörden gesprochen). So führt das Gericht hierzu aus:5 „Auch die zuständigen Gesundheitsbehörden des Bundes und der Länder haben es gegenüber den Angeklagten an dem nötigen Nachdruck fehlen lassen. Das mag teilweise an dem Fehlen einer gesetzlichen Grundlage gelegen haben, zum Teil mögen auch personelle Besetzungsschwierigkeiten sowie mangelnde Kenntnis über das volle Ausmaß der Probleme um Contergan eine Rolle gespielt haben. Doch ist das Verhalten der Behörden sicherlich auch von einer gewissen Unentschlossenheit und allzu großem Zögern geprägt. Selbst als sich einige Länder schließlich dazu durchgerungen hatten, die Rezeptpflicht einzuführen, hielten es andere Länder immer noch nicht für nötig, entsprechend zu verfahren. Allzu großes Zögern kennzeichnet auch das Verhalten der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Zwar mag auch sie durch die Firma Chemie-Grünenthal über die mit Contergan zusammenhängenden Fragen nicht vollständig informiert gewesen sein; dennoch hat sie teilweise unverständlich zaghaft reagiert. Die Kammer verkennt zwar nicht, 5 Contergan-Beschluss, JZ 1971, 507 (519). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 150/17 Seite 7 dass die Arzneimittelkommission keine hoheitlichen Befugnisse hat. Man hätte aber gleichwohl beispielsweise erwarten können, dass sie angesichts der unzureichenden Informierung der Ärzte durch die Firma Chemie-Grünenthal selbst die Ärzte schnell und ausführlich über den gegen Contergan bestehenden Verdacht unterrichtete…“ 4. Schadensersatzansprüche gegen die Chemie Grünenthal GmbH Es stellt sich zudem die Frage nach Entschädigungsansprüchen der Contergangeschädigten gegen die Chemie Grünenthal GmbH. Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass Ansprüche gegen das Unternehmen selbst oder seiner Leiter und Angestellten nicht bestehen. Zwar bestehen diese Ansprüche grundsätzlich nach § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)6 jedoch ist dieser Anspruch aufgrund des § 23 des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ (BehKiStiftG)7 ausgeschlossen.8 Entschädigungsansprüche bestehen seit Inkrafttreten des BehKiStiftG nur noch gegen die Stiftung. Mit der Verfassungsmäßigkeit des BehKiStiftG hatte sich sowohl der BGH als auch anschließend das BVerfG beschäftigt. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass das BehKiStiftG verfassungsgemäß sei und Entschädigungsansprüche nur noch gegen die Stiftung geltend gemacht werden können. BGH, Urteil vom 13. Februar 1975 – Az. VI ZR 44/74 Anlage 3 BVerfG, Urteil vom 08. Juli 1976 – Az. 1 BvL 19/75, 1 BvL 20/75, 1 BvR 148/75, Entscheidungsname : Contergan Anlage 4 Die Frage der Schuld am Contergan-Fall wird in diesen Urteilen nicht erläutert. Zwar unterstützt die Chemie Grünenthal GmbH die Stiftung bis heute finanziell, jedoch kann in dieser finanziellen Unterstützung kein Schuldeingeständnis gesehen werden, da die Zahlungen der Firma Chemie Grünenthal GmbH ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erfolgen. *** 6 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 02. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013 (BGBl. I S. 277). 7 Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ vom 17. Dezember 1971 (BGBl. I S. 2018), zuletzt geändert/ aufgehoben durch § 25 Satz 2 Conterganstiftungsgesetz vom 13. Oktober 2005 (BGBl. I S. 2967). 8 § 23 Abs. 1 lautet: „Satz 1 Etwa bestehende Ansprüche der in § 13 genannten Personen gegen die Firma Chemie Grünenthal GmbH, deren Gesellschafter, Geschäftsführer und Angestellte wegen eines von diesem Teil des Gesetzes erfassten Schadensfalles erlöschen. Satz 2 Dies gilt auch, soweit etwa bestehende Ansprüche kraft Gesetzes , kraft Überleitung oder durch Rechtsgeschäft auf einen anderen übertragen worden sind. Satz 3 Bei Übertragung auf natürliche Personen und juristische Personen des privaten Rechts gilt zu deren Gunsten § 14 Abs. 5 Satz 1 hinsichtlich der Kapitalentschädigung nicht.“