© 2016 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 149/16 Zur Einführung europaweiter Schadensersatzregeln Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 149/16 Seite 2 Zur Einführung europaweiter Schadensersatzregeln Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 149/16 Abschluss der Arbeit: 7. Oktober 2016 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr , Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 149/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Begriffsbestimmung 4 2.1. Kollektiver Rechtsschutz 4 2.2. Massenschadensereignis / Streuschäden 5 3. Entwicklung des kollektiven Rechtsschutzes in Europa 5 3.1. Kartell- und Wettbewerbsrecht 6 3.2. Rechtsdurchsetzung für Verbraucher 6 3.3. Allgemeine Grundsätze für kollektive Schadensersatzklagen 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 149/16 Seite 4 1. Einleitung Die US-amerikanische Environment Protection Agency (EPA) informierte die Öffentlichkeit bereits im September 2015 darüber, dass sie mehreren deutschen KFZ-Herstellern vorwirft, in verschiedenen Diesel-Pkw eine Software eingesetzt zu haben, die erkenne, wenn das Fahrzeug einem offiziellen Emissions-Test unterzogen wird, und nur dann das Emissionskontrollsystem vollständig aktiviere. Dies hätte zur Folge, dass das System im Normalbetrieb auf der Straße nur eingeschränkt arbeite, so dass es zu einer vielfachen Erhöhung von Stickoxid-Emissionen komme. Nachdem ein Hersteller eine Entschädigung europäischer Kunden im Gegensatz zu Kunden aus den USA ablehnte, setzt sich die europäische Kommission dafür ein, dass nationale Verbraucherorganisationen potentiell Geschädigte dazu ermuntern sollten, Schadensersatz zu verlangen, wenn die nationalen Gesetze das hergäben. Die europäische Verbraucherkommissarin Vera Jourová äußerte sich darüber hinaus dahingehend, dass ein Fall belege, dass im europäischen System im Hinblick auf kollektiven Schadensersatz eine Regelungslücke bestehe, welche die Notwendigkeit „europaweiter Schadensersatzregeln“ erfordere.1 Vor diesem Hintergrund soll die Entwicklung und der derzeitige Stand harmonisierter Schadensersatzregelungen in Europa im Einzelnen aufzeigt werden. 2. Begriffsbestimmung 2.1. Kollektiver Rechtsschutz Die in der erwähnten Presseveröffentlichung gewählte Formulierung „europaweite Schadensersatzregeln “ fußt auf dem langjährigen Bestreben der Kommission, den kollektiven Rechtsschutz sowie die kollektive Rechtsdurchsetzung innerhalb der europäischen Union weiter voran zu treiben .2 Der allgemeine Begriff des kollektiven Rechtsschutzes schließt dabei sämtliche Verfahren ein, mit denen die Unterlassung oder Verhütung unerlaubter Geschäftspraktiken mit nachteiligen Folgen für eine Vielzahl von Klägern oder der Ersatz des durch derartige Praktiken entstandenen Schadens erwirkt werden kann. Die beiden wichtigsten kollektiven Rechtsschutzverfahren stellen somit die Unterlassungsklage und die Schadensersatzklage dar. Ziel dieser kollektiven Verfahren ist die Förderung der Durchsetzung von EU-Recht. Bürger und Unternehmen sollen grundsätzlich die Möglichkeit haben, ein individuelles Verfahren anzustrengen, wenn sie durch 1 Der Tagesspiegel v. 04.10.2016, Seite 15, abrufbar unter: http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/vera-jourovzum -vw-skandal-eu-kommissarin-will-europaweite-schadensersatzregeln/14635112.html [Stand dieser und sämtlicher nachfolgender Online-Quellen: 05. Oktober 2016]. 2 Montag, Kollektiver Rechtsschutz in Europa und der Gesetzentwurf zur Einführung von Gruppenklagen, in: ZRP 2013, 172 (172). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 149/16 Seite 5 die Verletzung geltenden EU-Rechts, das ihnen subjektive Rechte verleiht, geschädigt werden.3 Diese Verfahren könnten, aus Sicht der Kommission, vereinfacht und die Verfahrenskosten gesenkt werden, wenn Bürger und Unternehmen, die durch eine Rechtsverletzung ein und desselben Unternehmens geschädigt werden, ihre Ansprüche in einem einzigen kollektiven Verfahren bündeln könnten oder wenn eine ihre Interessen vertretene Einrichtung oder eine im öffentlichen Interesse handelnde Stelle klageberechtigt wären.4 In Bezug auf Schadensersatzklagen werden kollektive Verfahren vorrangig für zwei Schadensarten diskutiert: Massenschäden und Streuschäden . 2.2. Massenschadensereignis / Streuschäden Massenschäden ist immanent, dass eine Handlung oder mehrere gleichartige Handlungen zu einer Vielzahl gleichartiger Individualschäden führen.5 Sie treten insbesondere bei modernen Massengeschäften sowie im Kapitalmarktrecht auf. Darüber hinaus kommt aber etwa auch bei Unfällen mit großen Personenbeförderungsmitteln, oder bedingt durch moderne Technologien und standardisierte Fertigungen, bei fehlerhaften Produkten ein solches Massenschadensereignis in Betracht. Streuschäden hingegen erfassen Schäden, die bei einer großen Anzahl von Personen entstanden sind, wobei dem Einzelnen jedoch nur ein Schaden im Bagatellbereich verbleibt.6 Bei Streuschäden besteht das Problem, dass nur wenige Betroffene klagen werden, da das Interesse an einem nur geringen Schadensausgleich den mit einem Prozess verbundenen zeitlichen und finanziellen Aufwand häufig nicht übersteigen kann, auch wenn der Schaden insgesamt volkswirtschaftlich erheblich sein mag. Bei einem Massenschadensereignis dagegen wird eine Vielzahl von Verfahren parallel geführt, obwohl sich im Wesentlichen gleichgelagerte Sach- und Rechtsfragen stellen werden. 3. Entwicklung des kollektiven Rechtsschutzes in Europa Kollektive Rechtsschutzinstrumente wurden dabei zunächst im Kartell- und Wettbewerbsrecht (3.1.), später jedoch auch für die Rechtsdurchsetzung für Verbraucher (3.2.) herangezogen. Im Laufe der Entwicklung wurden hierbei einige allgemeine Grundsätze für kollektive Schadensersatzklagen herausgearbeitet (3.3.). 3 Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Öffentliche Konsultation: Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz, SEK(2011)173 endg. vom 4. Februar 2011; dort Seite 3, 1.1.6., abrufbar unter: http://ec.europa.eu/dgs/health_food-safety/dgs_consultations/ca/docs/cr_consultation_paper_de.pdf 4 Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Öffentliche Konsultation: Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz, SEK(2011)173 endg. vom 4. Februar 2011; dort Seite 3, 1.2.7. 5 Frank/Henke/Singbartl, Das Verbraucherstreitbeilegungsgesetz – Auswirkungen auf den kollektiven Rechtsschutz ?, in: Verbraucher und Recht (VuR) 2016, 333 (134) m.w.N in Fn. 6. 6 Wagner, in: Casper/Janssen/Pohlmann/Schulze, Auf dem Weg zu einer europäischen Sammelklage?, 1. Aufl. 2009, S. 51f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 149/16 Seite 6 3.1. Kartell- und Wettbewerbsrecht Die Diskussion über kollektive Rechtsschutzinstrumente geht dabei weit zurück. Im Grünbuch „Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“7 stellte die Kommission im Jahr 2005 erstmals die Frage nach dem Mehrwert kollektiver Anspruchsdurchsetzung. In dem darauffolgenden Weißbuch von 2008 sieht die Kommission einen „eindeutigen Bedarf an Mechanismen kollektiven Rechtsschutzes“8 und schlägt zwei Instrumente vor: Gruppenklagen nach dem opt-in Prinzip und Verbandsklagen durch qualifizierte Einrichtungen. Das opt-in Prinzip bezieht sich dabei auf die Zusammensetzung der Klagepartei. Hiernach könnten nur diejenigen potentiell Betroffenen Partei des Verfahrens werden, die dem ausdrücklich zustimmen. Im Gegensatz dazu wären nach dem opt-out Prinzip all diejenigen Partei des Rechtsstreits, die objektiv von dem geltend gemachten Schaden betroffen sind, wenn sie nicht aktiv aus dem Verfahren ausscheiden . Die Erfahrung aus den anglo-amerikanischen Sammelklagen („class actions“) zeigt, dass zwischen beiden Prinzipien der Faktor 100, 1000 und mehr liegen kann.9 3.2. Rechtsdurchsetzung für Verbraucher Ebenfalls im Jahr 2008 veröffentlichte die Kommission ein Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher.10 Der Problemanalyse folgend, könne die Ausbreitung von Massenmärkten zu Schädigungen einer Vielzahl von Verbrauchern durch gleiche oder vergleichbare Handelspraktiken führen. Zwar sei der individuelle Rechtsschutz des Verbrauchers durchaus gegeben, jedoch hinsichtlich Zugang, Wirksamkeit und Erschwinglichkeit beeinträchtigt . Darauf aufbauend führte die Kommission im Jahr 2011 eine öffentliche Konsultation mit dem Titel "Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz“11 durch. In dieser Konsultation wurde auf Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Initiativen zum kollektiven Rechtsschutz hingewiesen, die die Notwendigkeit eines kohärenten Systems deutlich machten. Die meisten Mitgliedsstaaten sähen zwar für bestimmte Sachverhalte die Möglichkeit einer kollektiven Schadensersatzklage vor. Die Art und Weise, wie eine Gruppe von durch unzu- 7 Grünbuch der Kommission zu Schadensersatzklagen wegen Verletzungen des EU-Wettbewerbsrechts, KOM (2005) 672 endg. vom 19. Dezember 2005, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/ALL/?uri=URISERV:l26120 8 Weißbuch der Kommission zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM (2008) 165 endg. vom 02. April 2008; dort Seite 4, 2.1., abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=COM:2008:0165:FIN:DE:PDF 9 Deutlmoser, Die Büchse der Pandora: Kollektiver Rechtsschutz in Europa, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2013, 652, 654. 10 Grünbuch der Kommission über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher, KOM (2008) 794 end.27. November 2008, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/consumers/archive/redress_cons/greenpaper _de.pdf 11 Mittteilung der Kommission an das europäische Parlament, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Arbeitsprogramm der Kommission für 2010, KOM (2010) 135 endg. vom 31. März 2010; dort Seite 8, 3.1, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/atwork/pdf/cwp2010_de.pdf; SEK (2011) 173 endg. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 149/16 Seite 7 lässigen Geschäftspraktiken Geschädigten zu ihrem Recht kommt, ist in den Mitgliedsstaaten jedoch ganz unterschiedlich geregelt. So fasste die Kommission wie folgt zusammen: „Im Grunde gibt es so viele Formen der Schadensersatzklage wie es Mitgliedsstaaten gibt: es gibt keine zwei nationalen Systeme, die gleich wären.“12 Infolge dieses Befundes hat die Kommission am 11. Juni 2013 eine Empfehlung über gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedsstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten abgegeben.13 3.3. Allgemeine Grundsätze für kollektive Schadensersatzklagen Um einen kohärenten Ansatz zu gewährleisten, empfiehlt die Kommission verschiedene Regelungen . Klagebefugte Vertreterorganisationen etwa sollten gemeinnützig sein. Neben ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen mit juristischem Sachverstand soll zwischen den Satzungszielen und dem Klagegegenstand ein direkter Zusammenhang bestehen. Die Rechtsverfolgungskosten sollten von der unterliegenden Partei zu tragen sein und die Gruppen nach dem opt-in Prinzip gebildet werden. Der Ein-oder Austritt sollte dabei jederzeit möglich sein. In Abgrenzung zum Modell der anglo-amerikanischen Sammelklage („class actions“) sollten Erfolgshonorare , um keinen Anreiz für ein Streitverfahren zu schaffen, unzulässig sein. Um einer missbräuchlichen Rechtsverfolgung vorzubeugen, sollte schließlich insbesondere ein Strafschadensersatz , die Einführung von Geschworenengerichten sowie ausforschende vorprozessuale Beweissammlungen („pre-trial discovery“) vermieden werden. Soweit darüber hinaus eine Behörde ermächtigt ist, die Verletzung von Unionsrecht im Wege der Entscheidung festzustellen, sollten kollektive Folgeklagen erst nach Abschluss des behördlichen Verfahrens eingeleitet werden können . Die Kommission sprach sich für eine Integration dieser Grundsätze in das innerstaatliche System des kollektiven Rechtsschutzes bis zum 26. Juli 2015 aus. Die Umsetzung soll spätestens am 26. Juli 2017 bewertet und weitere Maßnahmen zum Erreichen der Ziele der Empfehlung geprüft werden. Weitergehende, aktuelle Entschließungen sind in Bezug auf einheitliche Schadensersatzregelungen , anders als etwa im Wettbewerbsrecht14, nicht ersichtlich. Ende der Bearbeitung. 12 Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Öffentliche Konsultation: Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz, SEK (2011) 173 endg. vom 04. Februar 2011; dort Seite 4, 1.3.9. 13 Empfehlung der Kommission 2013/396/EU, Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedsstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten vom 11. Juni 2013 (ABl. L 201/60 vom. 26. 7. 2013), abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2013:201:0060:0065:DE:PDF 14 Die Richtlinie 2014/104/EU über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. L 349/1 vom 5. Dezember 2014) dient der Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung durch Folgeklagen Privater im Anschluss an die Feststellung von Kartellrechtsverstößen durch die EU-Kommission oder nationale Kartellbehörden, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=OJ:JOL_2014_349_R_0001&from=EN