© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 141/20 Straßenverkehrsordnungsrechtlicher Rahmen zur Anordnung von Fahrradstraßen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 2 Straßenverkehrsordnungsrechtlicher Rahmen zur Anordnung von Fahrradstraßen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 141/20 Abschluss der Arbeit: 11. Januar 2021 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtlicher Rahmen 5 2.1. Materielle Voraussetzungen 5 2.1.1. Voraussetzungen der Generalklausel des § 45 Abs. 1 S. 1 StVO 6 2.1.2. § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 und 6 StVO 9 2.2. Verfahrensrechtliche Voraussetzungen sowie Rechtsschutz 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 4 1. Einleitung Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht (vgl. § 1 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO)1). Zudem haben sich alle Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar , behindert oder belästigt wird (vgl. § 1 Abs. 2 StVO). Gleichzeitig nimmt der sog. Verkehrsaufwand 2, also die Gesamtfahrleistung im Personen- und Güterverkehr, in der Bundesrepublik Deutschland stetig zu.3 Demnach konkurrieren immer mehr Verkehrsteilnehmer um das nur begrenzt zur Verfügung stehende öffentliche Straßenland. Auch das Fahrrad erfährt dabei als Verkehrsmittel – und mithin als gleichberechtigter Teilnehmer am Straßenverkehr4 – eine immer größere Bedeutung. So nutzen nach Aussagen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) inzwischen über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung regelmäßig das Fahrrad und verzichten insbesondere bei kürzeren Distanzen zunehmend auf den Pkw.5 Zahlreiche Erhebungen gehen zudem davon aus, dass die aktuellen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie diesen Trend noch verstärken.6 Um die Teilhabe der Fahrradfahrer am Verkehrsaufwand zu gewährleisten, sieht die StVO daher zu deren Schutz unter anderem besondere Zeichen und Verkehrseinrichtungen vor. Demnach können insbesondere auch Fahrradstraßen (Verkehrszeichen 244.17) angeordnet werden. Nachfolgend sollen überblicksartig die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anordnung solcher Fahrradstraßen dargestellt werden.8 Da es sich in der verkehrsrechtlichen Praxis hierbei jeweils 1 Straßenverkehrs-Ordnung vom 6. März 2013 (BGBl. I S. 367), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 18. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3047) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/stvo_2013/ (letzter Abruf dieses Links und aller weiteren: 11. Januar 2021). 2 Zum Begriff des Verkehrsaufwands vgl. die Begriffsdefinition des Umweltbundesamts: „Wird die Fahrleistung mit der Zahl der beförderten Personen multipliziert, ergibt das den Verkehrsaufwand gemessen in Personenkilometern (Pkm). Wird die Fahrleistung des Güterverkehrs mit den beförderten Tonnen multipliziert, ergibt sich der Verkehrsaufwand gemessen in Tonnenkilometern (tkm)“, abrufbar unter: https://www.umweltbundesamt .de/service/glossar/v?tag=Verkehrsaufwand#alphabar. 3 Vgl. Erhebung und Datensatz des Umweltbundesamts: „Fahrleistungen, Verkehrsaufwand und Modal Split“, abrufbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/daten/verkehr/fahrleistungen-verkehrsaufwand-modalsplit #fahrleistung-im-personen-und-guterverkehr. 4 Vgl. Schurig, in: Kommentar zur Straßenverkehrsordnung mit VwV-StVO, 16. Auflage 2018, § 45, S. 725. 5 Vgl. etwa online-Artikel des BMVI: „Radverkehr“, abrufbar unter: https://www.bmvi.de/DE/Themen/Mobilitaet /Fahrradverkehr/fahrradverkehr.html. 6 Vgl. so etwa Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V. (ADAC): „Corona und Mobilität: Mehr Homeoffice, weniger Berufsverkehr“, abrufbar unter: https://www.adac.de/verkehr/standpunkte-studien/mobilitaetstrends /corona-mobilitaet/. 7 Vgl. Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO, Abschnitt 5, Nr. 23, Zeichen 244.1. 8 Fahrradstraßen sind nicht gleichzusetzen mit Fahrradzonen i.S.d. § 45 Abs. 1i StVO (Zeichen 244.3). Letztere stellen eine flächenmäßige Erweiterung der nur streckenmäßig anzuordnenden Fahrradstraßen dar und sollen der Sicherheit und Leichtigkeit des Radverkehrs allgemein – und nicht nur örtlich beschränkt – dienen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 5 um einzelfallabhängige Anordnungsmaßnahmen handelt, bleibt die Darstellung auf für die einzelnen Fragen grundsätzliche Aspekte beschränkt. 2. Rechtlicher Rahmen 2.1. Materielle Voraussetzungen Zum besseren Verständnis der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung einer Fahrradstraße ist Ausgangspunkt zunächst die in § 2 StVO geregelte (verpflichtende) Straßenbenutzung durch Fahrzeuge. Zwar ist es nach § 2 Abs. 4 StVO insoweit auch Fahrradfahrern grundsätzlich gestattet , die Fahrbahnen zu nutzen, allerdings steht ihnen insoweit kein ausschließliches Nutzungsrecht zu. Die Anordnung einer Fahrradstraße im Sinne des § 45 Abs. 9 S. 4 Nr. 2 StVO ändert dies. Da es sich hierbei um einen Sonderweg für Radfahrer handelt, dürfen andere Verkehrsteilnehmer , insbesondere Pkw, diesen nicht benutzen, es sei denn, dies ist durch Zusatzzeichen erlaubt .9 Bei einer Fahrradstraße (Zeichen 244.1) handelt es sich nach der in Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO aufgeführten Erläuterung um ein Ge- oder Verbot folgenden Inhalts: „1. Anderer Fahrzeugverkehr als Radverkehr sowie Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der eKFV darf Fahrradstraßen nicht benutzen, es sei denn, dies ist durch Zusatzzeichen erlaubt. Die freigegebenen Verkehrsarten können auch gemeinsam auf einem Zusatzzeichen abgebildet sein. Das Überqueren einer Fahrradstraße durch anderen Fahrzeugverkehr an einer Kreuzung zum Erreichen der weiterführenden Straße ist gestattet. 2. Für den Fahrverkehr gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Der Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Wenn nötig, muss der Kraftfahrzeugverkehr die Geschwindigkeit weiter verringern. 3. Das Nebeneinanderfahren mit Fahrrädern ist erlaubt. 4. Im Übrigen gelten die Vorschriften über die Fahrbahnbenutzung und über die Vorfahrt.“ Materielle Rechtsgrundlage für die Anordnung von Fahrradstraßen ist insbesondere die Generalklausel des § 45 Abs. 1 S. 1 StVO.10 Danach können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten (vgl. dazu nachfolgend Ziffer 2.1.1.). Das gleiche Recht haben sie nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 und 6 StVO unter anderem hinsichtlich der zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen sowie zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen (vgl. dazu nachfolgend Ziffer 2.1.2.). 9 Vgl. Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO, Abschnitt 5, Nr. 23, Zeichen 244.1, Ziffer 1. 10 So auch Koehl, Fahrradstraßen – Unfall Kfz/Rad, SVR 2018, S. 421. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 6 2.1.1. Voraussetzungen der Generalklausel des § 45 Abs. 1 S. 1 StVO Nach § 45 Abs. 1 S. 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. „Maßnahmen aus Gründen der Verkehrssicherheit setzen eine Gefahrenlage voraus, die bei durchschnittlichen Verkehrsverhältnissen die Unfallsituation negativ beeinflussen kann. Nicht erforderlich ist eine unmittelbare (konkrete) Gefahr, vielmehr reicht die (abstrakte) Gefährlichkeit von Verkehrssituationen zu bestimmten Zeiten aus, um Eingriffe der Verkehrsbehörde auszulösen, z.B. durch den Ausbauzustand der Straßen, Kurven, […] erhebliche Verkehrsdichte “.11 Auch das Bundesverwaltungsgericht führt insoweit aus, dass es zur Annahme einer derartigen Gefahrenlage nicht des Nachweises bedarf, „daß jederzeit mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist. Es genügt die Feststellung, die konkrete Situation an einer bestimmten Stelle oder auf einer bestimmten Strecke einer Straße lege die Befürchtung nahe, es könnten - möglicherweise durch Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände - irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle eintreten“.12 Beschränkungen des Verkehrs aus Gründen der Sicherheit des Verkehrs erfordern mithin eine sorgfältige Prüfung in jedem Einzelfall, ob der Eintritt eines schädigenden Ereignisses hinreichend wahrscheinlich ist.13 Erforderlich ist insoweit keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit , sondern genügend ist vielmehr eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit.14 Ob im konkreten Einzelfall eine Gefahrenlage vorliegt, die die Anordnung einer Fahrradstraße rechtfertigt, bestimmt sich nach den besonderen örtlichen Verhältnissen und ist abhängig von einer Vielzahl von verschiedenen Faktoren.15 Zur Ordnung des Verkehrs gehören „der ruhende Verkehr sowie die Flüssigkeit und Leichtigkeit des fließenden Verkehrs. […] Entscheidend ist dabei weniger die Gewährleistung der Schnelligkeit als die Bewältigung des 11 Vgl. Schurig, a.a.O., S. 725. 12 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. September 1995, Az.: 11 B 23.95, NZV 1996, 86. 13 Vgl. etwa Hühnermann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 45 StVO, Rn. 3. 14 Vgl. etwa OVG Koblenz, Urteil vom 25. August 2016, Az.: 7 A 10885/14.OVG, BeckRS 2016, 51816. 15 Vgl. etwa OVG Lüneburg, Beschluss vom 1. Februar 2016, Az.:12 LA 211/14, BeckRS 2016, 41542; Hühnermann , a.a.O., Rn. 7a. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 7 Massenverkehrs. Hierzu gehört vor allem eine homogene Verkehrsregelung in der Weise, dass möglichst viele KFZ den knappen Straßenraum benutzen können. Als Reflex ordnender Maßnahmen wird häufig auch eine Verbesserung der Verkehrssicherheit erreicht.“16 Sofern und soweit die Straßenverkehrsbehörden im konkreten Einzelfall nach Maßgabe der beschriebenen Voraussetzungen zu dem grundsätzlichen Entschluss gelangen, eine Fahrradstraße anzuordnen, ist ermessenskonkretisierend17 hinzukommend die Regelung des § 45 Abs. 9 StVO zu beachten. Denn diese gilt allgemein für die Einführung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen und ist daher auch für die Anordnung einer Fahrradstraße anzuwenden. Danach sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist (§ 45 Abs. 9 S. 1 StVO). Gefahrzeichen dürfen dabei nur dort angeordnet werden, wo es für die Sicherheit des Verkehrs erforderlich ist, weil auch ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig erkennen kann und auch nicht mit ihr rechnen muss (§ 45 Abs. 9 S. 2 StVO). Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in § 45 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt (§ 45 Abs. 9 S. 3 StVO). Die Verwaltungsbehörden haben bei der Anordnung von Verkehrszeichen und anderen Verkehrseinrichtungen mithin sehr restriktiv zu verfahren und dürfen nur dort regelnd eingreifen, wo es aufgrund der besonderen Umstände unbedingt geboten ist und sofern und soweit die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Verordnung für einen sicheren und geordneten Verkehrsablauf nicht ausreichen.18 Von den über die Vorgaben des § 45 Abs. 9 S. 1 StVO hinausgehenden strengen Regelungen19 des § 45 Abs. 9 S. 3 StVO sind Fahrradstraßen indes wiederum ausdrücklich ausgenommen (vgl. § 45 Abs. 9 S. 4 Nr. 2 StVO). Eine entsprechende Anordnung ist dort mithin auch ohne die in § 45 Abs. 9 S. 3 StVO normierte besondere Gefahrenlage mit einem erheblichen Übersteigen des allgemeinen Risikos für von den nach § 45 StVO geschützten Rechtsgütern zulässig.20 Letztlich ist von den zuständigen Behörden bei allen Maßnahmen zur Umsetzung der StVO auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO)21 zu beachten – mithin auch bei der Anordnung von Fahrradstraßen. Die VwV-StVO zu den Zeichen 244.1 und 16 Vgl. Schurig, a.a.O., S. 723. 17 Vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage 2017, § 45, Rn. 28a. 18 Vgl. etwa Hühnermann, a.a.O., Rn. 2. 19 Vgl. insoweit Schurig, a.a.O., S. 716. 20 Nach § 45 Abs. 9 S. 2. StVO ist das abseits der in § 45 Abs. 9 S. 3 StVO genannten Fälle nur dann der Fall, „wenn erstens aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die zweitens das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung des Lebens und der Gesundheit der Verkehrsteilnehmer sowie des privaten und öffentlichen Sacheigentums erheblich übersteigt.“, vgl. Schurig, a.a.O., S. 715 sowie Koehl, Fahrradstraßen – Unfall Kfz/Rad, SVR 2018, S. 421. 21 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung vom 26. Januar 2001 in der Fassung vom 22. Mai 2017 (BAnz AT 29.05.2017 B8), abrufbar unter: http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet .de/bsvwvbund_26012001_S3236420014.htm. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 8 244.2 (Beginn und Ende einer Fahrradstraße), die folglich bei der Ausübung des behördlichen Anordnungsermessens zu beachten ist, lautet: „I. Fahrradstraßen kommen dann in Betracht, wenn der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies alsbald zu erwarten ist. II. Anderer Fahrzeugverkehr als der Radverkehr darf nur ausnahmsweise durch die Anordnung entsprechender Zusatzzeichen zugelassen werden (z. B. Anliegerverkehr). Daher müssen vor der Anordnung die Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs ausreichend berücksichtigt werden (alternative Verkehrsführung).“ Wann der Radverkehr im jeweiligen Einzelfall als vorherrschend anzusehen ist, wird in der Verwaltungsvorschrift nicht dargelegt. Insbesondere wird nicht näher erläutert, ob die Bestimmung der jeweils vorherrschenden Verkehrsform einer Verkehrszählung bedarf. Auch ist nicht beschrieben , wann die Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs im jeweiligen Einzelfall ausreichend Berücksichtigung gefunden haben und welche Untersuchungen hierfür jeweils erforderlich sind. Letztlich bleibt mithin vieles einer gerichtlichen Klärung im Einzelfall vorbehalten. So hat etwa das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 5. Dezember 201822 zur Rechtmäßigkeit einer Fahrradstraße ausdrücklich auf eine dort erfolgte Verkehrszählung23 Bezug genommen , bei der schlicht die Anzahl der Fahrräder mit der Anzahl der KfZ verglichen wurde und zusätzlich eine allgemeine Gefahrenanalyse erfolgte: „Die Verkehrszählung im Mai 2018 habe ergeben, dass die Straße von weitaus mehr Fahrrädern als motorisierten Fahrzeugen genutzt werde. Angesichts des deutlichen Überwiegens des Radverkehrs sei auch in Monaten, in denen erfahrungsgemäß weniger Verkehrsteilnehmer ein Fahrrad nutzten, von einem Übergewicht des nicht motorisierten Verkehrs auszugehen . Das allgemeine Rücksichtnahmegebot im Straßenverkehr und das Abstandsgebot beim Überholen reichten nicht aus, um Fahrradfahrer angemessen zu schützen. Die Gefahrenlage für Radfahrer werde nämlich dadurch verschärft, dass die Fahrbahn der in beiden Richtungen befahrbaren (…) an besonders engen Stellen lediglich 4,60 Meter breit sei. Dies mache Mischverkehr gefährlich.“24 Die konkrete Gefahr und die besonderen Umstände, die eine verkehrsrechtliche Anordnung einer Radverkehrsanlage im Einzelfall rechtfertigen, müssen jedenfalls stets ausreichend dargelegt werden . 22 Vgl. VG Berlin, Urteil vom 5. Dezember 2018, Az.: VG 11 K 298.17, http://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht /presse/pressemitteilungen/2018/pressemitteilung.768940.php. 23 So auch VG Hannover, Urteil vom 17. Juli 2019, Az.: 7 A 7457/17, BeckRS 2019, 17830. 24 Vgl. VG Berlin, Urteil vom 5. Dezember 2018, Az.: VG 11 K 298.17, http://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht /presse/pressemitteilungen/2018/pressemitteilung.768940.php. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 9 Die Annahme, dass die Darlegung einer Gefahrenlage wegen des Eingreifens der Privilegierung des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 3 StVO nicht erforderlich sei, sei nach dem VG Berlin jedenfalls unzutreffend . Diese Vorschrift entbinde zwar von den besonderen Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, ändere aber nichts daran, dass die Anordnung einer Fahrradstraße nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO dennoch zwingend erforderlich sein muss. Denn § 45 Abs. 9 Satz 4 StVO sehe eine entsprechende Ausnahme in Bezug auf die Anforderungen des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO gerade nicht vor.25 Eine Beschränkung der Anordnungsbefugnis auf innerörtliche Straßen ist im Gesetz nicht vorgesehen , also mithin grundsätzlich auch außerorts möglich. Gleichwohl erscheint es vor dem Hintergrund der vorstehend genannten „überwiegenden Nutzung durch Fahrradfahrer“ und dem gleichzeitigen Bedürfnis der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs im Allgemeinen eher atypisch , Fahrstraßen auch außerorts anzuordnen. 2.1.2. § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 und 6 StVO Nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 und 6 StVO können die Straßenverkehrsbehörden den Verkehr zudem beschränken und verbieten, sofern die entsprechenden Maßnahmen zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit erforderlich sind (Nr. 5) oder der Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen dienen (Nr. 6). Wann diese Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen, ist jeweils anhand der konkreten verkehrlichen Situation zu bewerten. Die Sonderermächtigung der Nr. 6, wonach Beschränkungsanordnungen insbesondere auch zu Zwecken der verkehrsdienlichen Forschung und Erprobung verkehrlicher Maßnahmen erfolgen können, ist erforderlich, weil Beschränkungen zu solchen Zwecken nicht unmittelbar der Verkehrssicherheit und/oder Ordnung dienen.26 Hiervon sollen zudem in der Regel insbesondere nur kurz befristete Maßnahmen umfasst sein27, was letztlich gegen eine Anwendung bei der Anordnung von in der Regel permanent angelegten Fahrradstraßen spricht. Eine Verkehrsbeschränkung, die sich sowohl auf § 45 Abs. 1 S. 1 StVO als auch auf § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 oder Nr. 6 StVO stützt, kommt grundsätzlich in Betracht.28 Sofern und soweit eine Anordnung einer Fahrradstraße auf Grundlage der vorstehend genannten Regelungen erfolgen soll, ist § 45 Abs. 9 StVO ebenfalls anzuwenden29. Das hierzu oben unter Ziffer 2.1.1. Gesagte gilt entsprechend. 25 Vgl. VG Berlin, Beschluss vom Beschluss vom 4. September 2020, Az.: VG 11 L 205/20 (zur Rechtmäßigkeit sog. Popup-Radwege), Rn. 21, BeckRS 2020, 21849 mit Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 1. September 2017, Az.: 3 B 50.16, BeckRS 2017, 127653. 26 Vgl. König, a.a.O., Rn. 32. 27 Vgl. König, a.a.O., Rn. 32 m.w.N. 28 Vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 14. September 1988, Az.: 5 S 33/88, NZV 1989, 87. 29 Vgl. Schurig, a.a.O., S. 742. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 141/20 Seite 10 2.2. Verfahrensrechtliche Voraussetzungen sowie Rechtsschutz Sachlich zuständig für die Anordnung von Fahrradstraßen sind gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 StVO grundsätzlich die Straßenverkehrsbehörden30 (vgl. auch § 45 Abs. 3 StVO). Nach Maßgabe des Landesrechts kann die Zuständigkeit der obersten Landesbehörden und der höheren Verwaltungsbehörden im Einzelfall oder allgemein allerdings auch auf eine andere Stelle übertragen werden (vgl. § 44 Abs. 1 S. 2 StVO). Die eigentliche Umsetzung der Anordnung obliegt nach § 45 Abs. 5 StVO dem Baulastträger. Über die Anordnung von Verkehrszeichen – und mithin auch Fahrradstraßen – darf entsprechend Rn. 1 der VwV-StVO zu den §§ 39 bis 43 der StVO nur in jedem Einzelfall und nur nach gründlicher Prüfung (ggf. unter Zuziehung ortsfremder Sachverständiger ) entschieden werden. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach den jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften. Nach VwV-StVO zu § 45 Abs. 1 bis 1e Rn. 1 sind vor jeder Entscheidung die Straßenbaubehörde und die Polizei zu hören. Verkehrsschilder, die – wie hier dargelegt – Ge- oder Verbote enthalten, stellen nach der Rechtsprechung Verwaltungsakte in Form der Allgemeinverfügung gemäß § 35 S. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG)31 dar.32 Eine vorherige Anhörung von gegebenenfalls betroffenen Bürgern muss daher nicht erfolgen; ein Begründungszwang entfällt (vgl. § 28 Abs. 2 Nr. 4, § 41 Abs. 3 S. 2 und § 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG).33 Verkehrszeichen im Allgemeinen, also auch die Anordnung von Fahrradstraßen, sind verkehrsrechtliche Anordnungen, die als Dauerverwaltungsakte in der Form von Allgemeinverfügungen im Sinne des § 35 S. 2 VwVfG ergehen.34 Widerspruch (§ 68 Abs. 1 VwGO35) und Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) vor den Verwaltungsgerichten sind die dagegen statthaften Rechtsbehelfe.36 *** 30 In Berlin wäre dies beispielsweise nach Nr. 11 Abs. 3 ZustKat Ord die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. 31 Verwaltungsverfahrensgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102), das zuletzt durch Artikel 5 Absatz 25 des Gesetzes vom 21. Juni 2019 (BGBl. I S. 846) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/vwvfg/. 32 BVerwG, Urteil vom 23. September 2010, Az.: 3 C 37/09, NJW 2011, 246, 247. 33 Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht: Verkehrsschild als Allgemeinverfügung, Besprechung zu BVerwG, Urteil vom 23. September 2010, Az.: 3 C 37/09, JuS 2011, 953, 954. 34 Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010, Az.: 3 C 37/09, NJW 2011, 246; Wern, in: Freymann/Wellner, juris PK-Straßenverkehrsrecht, a.a.O., Rn. 10. 35 Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686), die zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 3. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2694) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/vwgo/VwGO.pdf. 36 Vgl. Alemann/Scheffczyk, in: Bader/Ronellenfitsch, Beck-Online-Kommentar VwVfG, 47. Edition, Stand: 1. April 2020, § 35 VwVfG, Rn. 271; Wolf, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage 2016, Stand 30. April 2020, § 45 StVO, Rn. 99.