© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 139/19 Frauen bevorzugende Preisgestaltung und zivilrechtliches Benachteiligungsverbot Unter besonderer Berücksichtigung des öffentlichen Personennahverkehrs Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 2 Frauen bevorzugende Preisgestaltung und zivilrechtliches Benachteiligungsverbot Unter besonderer Berücksichtigung des öffentlichen Personennahverkehrs Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 139/19 Abschluss der Arbeit: 24. Oktober 2019 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Anwendungsbereich und Systematik des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes 4 3. Europäischer Rechtsrahmen 6 4. Frauen bevorzugende Preisdifferenzierung beim Fahrscheinverkauf 7 4.1. Rechtfertigung nach § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG 7 4.1.1. Wettbewerbsgründe 7 4.1.2. Soziale Gründe 7 4.1.2.1. Frauen als weniger leistungsfähige Gruppe? 7 4.1.2.2. Verhältnismäßigkeit 8 4.1.2.3. Unionsrechtskonforme Auslegung 9 4.1.3. Gleichstellungspolitische Gründe 11 4.2. Rechtfertigung nach § 20 Absatz 1 Satz 1 AGG 11 4.3. Rechtfertigung nach § 5 AGG 11 4.4. Beweislast 12 5. Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 4 1. Einleitung Immer wieder kam es in der Vergangenheit bei zivilrechtlichen Massengeschäften zu preislich nach dem Geschlecht des potentiellen Vertragspartners unterschiedlich gestalteten Angeboten, so dass Angehörige eines Geschlechts gegenüber Angehörigen des anderen Geschlechts von günstigeren Preisen profitierten. Vorliegend soll summarisch dargelegt werden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine entsprechende, Frauen bevorzugende Preisgestaltung im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs mit dem zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot im Einklang stehen kann. 2. Anwendungsbereich und Systematik des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes Um Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts , der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen, hat der Gesetzgeber mit Artikel 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung1 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)2 erlassen. Nach § 3 Absatz 1 Satz 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes – also unter anderem wegen des Geschlechts – eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine solche Benachteiligung ist gemäß § 2 Absatz 1 Nr. 8 AGG nach Maßgabe des AGG unzulässig in Bezug auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Für den allgemeinen Zivilrechtsverkehr konkretisiert § 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG dieses Verbot: Danach ist grundsätzlich unzulässig eine Benachteiligung u. a. wegen des Geschlechts bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen. Das AGG sieht in Bezug auf Benachteiligungen wegen der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht allerdings verschiedene Möglichkeiten einer Rechtfertigung vor. So enthält § 5 AGG die allgemeine Regelung, wonach eine unterschiedliche Behandlung zulässig ist, „wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen.“ Zum Teil in Konkretisierung dieses Grundsatzes3 enthält sodann für den allgemeinen Zivilrechtsverkehr § 20 Absatz 1 Satz 1 AGG den Grundsatz, dass eine Verletzung des Benachteiligungsverbots nicht gegeben ist, wenn für eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion, einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Identität oder des Geschlechts „ein sachlicher Grund“ vorliegt. Dies kann nach dem in § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG 1 BGBl. I 2006 S. 1897. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610) geändert worden ist" 3 Vgl. Thüsing, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 5 AGG Rn. 26. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 5 normierten Regelbeispiel insbesondere der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung „besondere Vorteile gewährt und ein Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt.“ Die Feststellung eines sachlichen Grundes in diesem Sinne bedarf nach der Gesetzesbegründung „einer wertenden Feststellung im Einzelfall nach den Grundsätzen von Treu und Glauben und entzieht sich wegen der Reichweite des allgemeinen zivilrechtlichen Benachteiligungsverbotes einer abschließenden näheren Konkretisierung.“4 Aufgrund der Ausgestaltung als Rechtfertigungsgrund liegt die Beweislast für die Zulässigkeit der Ungleichbehandlung beim Anbieter der jeweiligen Dienstleistung oder Ware (vgl. § 22 AGG).5 Die in § 20 Absatz 1 Satz 2 AGG normierten Regelbeispiele sollen – nicht abschließend – die wichtigsten Fallgruppen umreißen und zugleich eine Richtschnur für die Auslegung des Grundtatbestandes geben.6 Zum o.g. Regelbeispiel Nr. 3 führt die Gesetzesbegründung aus: „Hier besteht kein Anlass, den Grundsatz der Gleichbehandlung durchzusetzen. Die gewährten Vergünstigungen reagieren nämlich entweder darauf, dass bestimmte Gruppen typischerweise weniger leistungsfähig sind: Rabatte für Schüler und Studenten etwa sind damit zu begründen , dass sie meist nicht über ein Erwerbseinkommen verfügen. Oder aber die Vergünstigungen bezwecken die gezielte Ansprache von Kundenkreisen, die der Anbieter anlocken möchte. Diese Maßnahmen sind also nicht diskriminierend, sondern im Gegenteil sozial erwünscht bzw. Bestandteil einer auf Wettbewerb beruhenden Wirtschaft. Ein Verbot dieser Praktiken würde auch den objektiv benachteiligten Personenkreisen nicht helfen, denn der Anbieter würde nicht mit der Erstreckung der Vorteile auf alle Kunden reagieren, sondern mit dem Verzicht auf jegliche Vergünstigung.“7 Die Gesetzesbegründung geht bei Nr. 3 aufgrund der geschlossenen Formulierung („entweder ... oder“) somit von insgesamt zwei möglichen unterschiedlichen Konstellationen aus. 4 BT-Drs. 16/1780, S. 43. 5 BT-Drs. 16/1780, S. 43. 6 BT-Drs. 16/1780, S. 43. 7 BT-Drs. 16/1780, S. 44. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 6 3. Europäischer Rechtsrahmen Das AGG dient der Umsetzung von vier EU-Antidiskriminierungsrichtlinien.8 Für die vorliegende Fragestellung relevant ist dabei primär die Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (Gleichstellungsrichtlinie). Ziel der Gleichstellungsrichtlinie ist die Schaffung eines Rahmens für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zur Umsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in den Mitgliedstaaten (Artikel 1). Artikel 13 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten , die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen beachtet wird. Dieser Grundsatz der Gleichbehandlung bedeutet ausweislich Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgen darf. Eine unmittelbare Diskriminierung in diesem Sinne liegt nach Artikel 2 lit. a der Richtlinie vor, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine mittelbare Diskriminierung ist gemäß Artikel 2 lit. b der Richtlinie gegeben, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einem Geschlecht angehören, in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. Die Richtlinie sieht unter bestimmten Umständen die Möglichkeit vor, Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen, so dass sie keine unzulässige Diskriminierung darstellen. So schließt der Grundsatz der Gleichbehandlung nach Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie eine unterschiedliche Behandlung nicht aus, wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend für die Angehörigen eines Geschlechts bereitzustellen, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Weiterhin hindert gemäß Artikel 6 der Richtlinie der Gleichbehandlungsgrundsatz die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen in der Praxis spezifische Maßnahmen , mit denen geschlechtsspezifische Benachteiligungen verhindert oder ausgeglichen werden , beizubehalten oder zu beschließen. 8 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. EG Nr. L 180 S. 22), Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG Nr. L 303 S. 16), Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. EG Nr. L 269 S. 15) und Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. EG Nr. L 373 S. 37). Vgl. BT-Drs. 16/1780, S. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 7 Die Regelungen der Richtlinie legen lediglich Mindestanforderungen fest: Nach Artikel 7 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen günstiger sind, als die in der Richtlinie vorgesehenen Vorschriften. 4. Frauen bevorzugende Preisdifferenzierung beim Fahrscheinverkauf 4.1. Rechtfertigung nach § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG 4.1.1. Wettbewerbsgründe Eine Alternative von § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG besteht wie gesehen als „Bestandteil einer auf Wettbewerb beruhenden Wirtschaft“ in der „gezielten Ansprache von Kundenkreisen, die der Anbieter anlocken möchte“.9 Ein typisches Anwendungsbeispiel dieser Konstellation sind Angebote wie „Ladies Nights“ in Bars und Clubs, bei denen Frauen Preisnachlässe erhalten.10 Ob ein vergünstigter Fahrkartenpreis für Frauen im öffentlichen Personennahverkehr je nach Motivation des Anbieters hierunter subsummiert werden könnte, kann zwar grundsätzlich nur im konkreten Einzelfall entschieden werden. Allerdings dürfte es bei der infrage stehenden Dienstleistung – der massenweisen, anonymen Personenbeförderung im Nahverkehr – eher fernliegen, Nutzer weiblichen Geschlechts aus wirtschaftlichen Gründen besonders – also mehr als Nutzer männlichen Geschlechts – anlocken zu wollen. 4.1.2. Soziale Gründe 4.1.2.1. Frauen als weniger leistungsfähige Gruppe? Die verbleibende Alternative von § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG stellt darauf ab, dass eine bestimmte Gruppe typischerweise weniger leistungsfähig ist. Anerkannte Beispiele für solche Gruppen sind etwa Senioren und Schüler/Auszubildende.11 9 Siehe oben Gliederungspunkt 2. 10 Vgl. Serr, in: Staudinger, BGB, Neubarbeitung 2018, § 20 AGG Rn. 29 m.w.N. 11 Vgl. Altmayer, in: jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, § 20 AGG Rn. 8; Armbrüster, in: Erman BGB-Kommentar, 15. Auflage 2017, § 20 AGG Rn. 11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 8 Auf diese Variante wird wohl zum Teil auch in der Praxis rekurriert, wenn Frauen bevorzugende Preise mit einem „Gender-Pay-Gap“ begründet werden: Da Frauen im Mittel über weniger Einkommen als Männer verfügten, würden dem entsprechend die Preise reduziert.12 Zwar trifft es zu, dass Frauen im Mittel geringere Bruttostundenlöhne als Männer erhalten.13 Die hinsichtlich ihrer Einkommenssituation dabei sehr heterogene Gruppe der „Frauen“ pauschal als im Sinne des § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG weniger leistungsfähige Gruppe einzustufen, wird gleichwohl als nicht unproblematisch angesehen14: „Ob ein Gender Pay Gap von 21 % im Jahr 2016 ausreichend wäre, um pauschal Rabatte zu rechtfertigen, … ist … angesichts der Heterogenität der Gruppe ‚Frauen‘ und ihrer Einkommenssituationen eher fragwürdig, letztlich könnten die gewünschten Entlastungseffekte auch geschlechtsneutral mit Regelungen nach der Einkommenshöhe erreicht werden.“15 4.1.2.2. Verhältnismäßigkeit Wenn man die Auffassung vertritt, dass Frauen in dem jeweiligen Fall tatsächlich als sozial weniger leistungsfähige Gruppe angesehen werden könnten, ist nach herrschender Meinung weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist.16 Die Ungleichbehandlung muss mithin zur Erreichung des damit verfolgten Ziels angemessen und erforderlich sein.17 Bei der Beurteilung des sachlichen Grundes stehe dem Anbieter der Dienstleistung zwar ein gewisser Beurteilungsspielraum zur Verfügung – es komme aber nicht auf dessen subjektive Sicht an, sondern auf einen objektiven Maßstab.18 Um eine Verhält- 12 So in Deutschland geschehen etwa seitens der Berliner Verkehrsbetriebe: https://www.huffpost .com/entry/equal-pay-day-discounts_n_58e2cd20e4b03a26a3655978?guccounter=1&guce_referrer =aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8&guce_referrer_sig=AQAAABqtJES- JufiLLw_Q_u5JNBDfqA3t2gLhkU-k1-diMNMO48z5NXYdkTCZV8lDV6YLIx3rND- CmTWtaE4zlp84nDxOXnQnR2cbYxuyG5lFwzS_LXE2xv-gsQLsnn_XgRj0NpcW-ic-nF065fD- 57ZI8nnxsK2Opi2c-zy3brpMNbWW6. 13 Vgl. hierzu etwa Hippe, GWP 2017, 513; Holst/Marquardt, DIW-Wochenbericht 85, Nr. 30/31 2018, 669; Boll, NZFam 2015, 1089. 14 Ablehnend etwa Rath/Rütz NJW 2007, 1498, 1499; zweifelnd An der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland, 2017, S. 167 (abrufbar unter https://www.antidiskriminierungsstelle.de/Shared- Docs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Expertise_Preisdifferenzierung_nach_Geschlecht .pdf?__blob=publicationFile&v=7). 15 An der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland, 2017, S. 167. 16 Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland, 2017, S. 152 bei Fn. 33; Armbrüster, in: Erman BGB-Kommentar, 15. Auflage 2017, § 20 AGG Rn. 4; Serr, in: Staudinger, BGB, Neubarbeitung 2018, § 20 AGG Rn. 10. 17 Serr, in: Staudinger, BGB, Neubarbeitung 2018, § 20 AGG Rn. 12. 18 Serr, in: Staudinger, BGB, Neubarbeitung 2018, § 20 AGG Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 9 nismäßigkeit zu bejahen, darf kein gleich effektives, aber weniger einschneidenden Mittel vorhanden sein.19 Grundsätzlich gilt ein strenger Maßstab, bei dem etwa auch zu berücksichtigen ist, ob die Kunden auf den jeweiligen Anbieter – etwa wegen dessen Monopolstellung – angewiesen sind.20 Die Frage der Verhältnismäßigkeit lässt sich damit nur im Einzelfall beurteilen. Allerdings kann grundsätzlich darauf hingewiesen werden, dass die Erforderlichkeit einer Konditionenbegünstigung für Frauen in dem Maße fragwürdiger erscheint, je geringer der jeweilige Vorteil ist. So dürfte sich gerade bei sehr geringwertigen oder nur für einen kurzen Zeitraum oder auch nur hinsichtlich einer für den täglichen Bedarf nachrangigen Dienstleistung gestatteten Vorteilen die Frage stellen, ob sie tatsächlich erforderlich sind, um die soziale Benachteiligung zu kompensieren bzw. dieser entgegenzuwirken. Umgekehrt könnte aber auch ein sehr erheblicher, umfassender Vorteil wiederum die Angemessenheit der Bevorzugung gegenüber dem benachteiligten Geschlecht in Frage stellen. 4.1.2.3. Unionsrechtskonforme Auslegung Weiterhin zu beachten ist, dass nationales Recht im Einklang mit dem einschlägigen und geltenden Europarecht angewendet werden muss.21 Soweit, wie vorliegend, eine Thematik mittels einer EU-Richtlinie geregelt ist, gilt, dass das nationale Recht, soweit möglich, richtlinienkonform auszulegen ist.22 Wenn dies nicht möglich ist, führt der Vorrang von EU-Recht zur Unanwendbarkeit der konfligierenden nationalen Norm(en).23 Im vorliegenden Zusammenhang erlangt dies auch insofern Relevanz, als die einschlägige EU- Gleichstellungsrichtlinie zwar ebenfalls Rechtfertigungsmöglichkeiten für unmittelbare Diskriminierungen im allgemeinen Zivilrechtsverkehr kennt – jedoch nur insofern, als es um Zugangsdiskriminierung geht, nicht jedoch um so genannte Konditionendiskriminierung, um die es sich bei abgestuften Preisen handelt: „Die Richtlinie 2004/113/EG bezieht ihr Diskriminierungsverbot auch auf Preisgestaltungen bei Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Fallkonstellationen der Preisdifferenzierung nach Geschlecht, wie Rabatte für Angehörige eines Geschlechts aus wirtschaftlichen Gründen (Zielgruppenansprache ), fand trotz entsprechender Anregungen aus dem Europaparlament nicht statt. Ebenfalls nicht durchgesetzt hat sich der noch weitergehende Vorschlag, Preisdifferenzierungen aus sachlichen Gründen, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen, zuzulassen. Art. 4 19 Serr, in: Staudinger, BGB, Neubarbeitung 2018, § 20 AGG Rn. 13. 20 Serr, in: Staudinger, BGB, Neubarbeitung 2018, § 20 AGG Rn. 13. 21 Vgl. nur Mankowski/Hölscher/Gerhardt, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 38 Rn. 127 f. 22 Mankowski/Hölscher/Gerhardt a.a.O. 23 Mankowski/Hölscher/Gerhardt a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 10 Abs. 5 der Richtlinie sieht nur unter eingeschränkten Bedingungen eine Rechtfertigungsmöglichkeit für die Zugangsbeschränkung, also den Verkauf von Gütern und Dienstleistungen ausschließlich oder überwiegend an Angehörige eines Geschlechts, vor. Auf Fallkonstellationen der Preisdifferenzierung nach Geschlecht, die wie ausgeführt eine Konditionendiskriminierung darstellen (…), ist Art. 4 Abs. 5 nicht anwendbar. Das Ziel der Richtlinie ist demnach die Durchsetzung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern auch bei den Preisen für Güter und Dienstleistungen.“24 Die aus dieser Divergenz folgenden rechtlichen Konsequenzen für Konditionendiskriminierungen werden in der rechtswissenschaftlichen Literatur unterschiedlich bewertet. Überwiegend wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, aus der Divergenz ergebe sich – lediglich – das Erfordernis einer einschränkenden Auslegung des „sachlichen Grundes“ sowie der Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.25 Von anderer Seite wird dies mit gewichtigen Gründen als nicht hinreichend kritisiert: „Diese Auffassung genügt bezüglich der Kategorie Geschlecht und in Bezug auf Preisdiskriminierungen den Anforderungen der Richtlinie nicht. Preisdifferenzierungen nach Geschlecht sind keine Zugangsdiskriminierung, sie sind eine Konditionendiskriminierung, die von der Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie gerade nicht erfasst ist. Dies ist auch die Auffassung der Europäischen Kommission. § 20 Abs. 1 AGG wäre deshalb richtlinienkonform so auszulegen, dass er bezüglich der Kategorie Geschlecht nur getrennte oder überwiegend getrennte Angebote (also Zugangsbeschränkungen für Frauen oder Männer, die aber einem legitimen Ziel dienen und verhältnismäßig sein müssen) legitimiert und die Preisdiskriminierung untersagt bleibt.“26 Im Ergebnis sei die „… Anwendung des § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG auf Fallkonstellationen der Preisdifferenzierung nach Geschlecht … nicht richtlinienkonform . Die Bewertung, dass in diesen Fällen ein „Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt“, steht im Widerspruch zum Ausgangspunkt der Richtlinie, die Probleme bei der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Zusammenhang mit dem Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sieht und vergleichbar einen Bereich, in dem ein solches Durchsetzungsinteresse fehlt, gerade nicht definiert. Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch nicht mit der Argumentation, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie die unterschiedliche Behandlung zulässt, wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, Güter oder Dienstleistungen vorwiegend oder überwiegend für ein Geschlecht zur Verfügung zu stellen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Rabattaktionen diesen Zweck verfolgen, also gerade Angehörige eines Geschlechts bei der Bereitstellung überwiegen sollen, ist die wirtschaftliche Motivation kein legitimes Ziel im Sinne der Richtlinie, wie sie Erwägungsgrund 16 ausführt. Die richtlinienkonforme Auslegung des § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG erfordert, dass sich dieser Rechtfertigungsgrund jedenfalls nicht auf die Kategorie Geschlecht 24 An der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland, 2017, S. 155. Anderer Ansicht – auch eine Konditionendiskriminierung sei nach der Richtlinie rechtfertigbar –, allerdings ohne Begründung und insbesondere ohne Berücksichtigung der Genese der Richtlinie Heese NJW 2012, 572, 573. 25 Vgl. An der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland, 2017, S. 162 bei Fn. 68 m.w.N. 26 An der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland, 2017, S. 162. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 11 bezieht, weil in der Richtlinie zielgruppenorientierte Verkaufsfördermaßnahmen oder ähnliche Rabatte für Angehörige eines Geschlechts nicht vorgesehen sind.“ 4.1.3. Gleichstellungspolitische Gründe Fraglich ist, ob § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG auch eine Ungleichbehandlung aus allgemeinen gleichstellungspolitischen Gründe rechtfertigen kann. Dies dürfte jedoch nach dem oben Festgestellten nicht der Fall sein, da sich Nr. 3 in den genannten zwei Alternativen – Kompensierung von Nachteilen für weniger leistungsfähige Gruppen oder aber Wettbewerbsgründe – erschöpft. 4.2. Rechtfertigung nach § 20 Absatz 1 Satz 1 AGG Auch, wenn die Voraussetzungen von § 20 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AGG nicht vorliegen, kann grundsätzlich eine Rechtfertigung nach § 20 Absatz 1 Satz 1 AGG in Betracht kommen. Auch hier gilt, dass eine Prüfung nur im Einzelfall möglich ist, dass eine Ungleichbehandlung verhältnismäßig sein muss und dass entsprechend der europarechtlichen Rahmenbedingungen eine enge Auslegung zu erfolgen hat. 4.3. Rechtfertigung nach § 5 AGG Schlussendlich kann, soweit auch eine Rechtfertigung aus § 20 AGG nicht greift, zuletzt noch eine Rechtfertigung aus § 5 AGG folgen: „Ungeachtet der in den §§ 8 bis 10 sowie in § 20 benannten Gründe ist eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen .“ Seinem Wortlaut nach könnte § 5 AGG insbesondere dann in Betracht kommen, wenn eine Ungleichbehandlung zugunsten von Frauen gerade aus allgemeinen gleichstellungspolitischen Gründen erfolgen soll. Allerdings geht schon aus dem Wortlaut hervor, dass auch hier die Maßnahmen „geeignet“ und „angemessen“ sein müssen – wiederum ist hier also das Kriterium der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Zudem ist auch hier auf die einschlägigen Regelungen der EU-Gleichstellungsrichtlinie hinzuweisen . So formuliert Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie, dass die Richtlinie eine unterschiedliche Behandlung nicht ausschließe, „wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend für die Angehörigen eines Geschlechts bereitzustellen , und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.“ Die Richtlinie stellt somit nicht auf die Zielrichtung der Ungleichbehandlung ab („sollen“), sondern fordert eine tatsächliche Geeignetheit („ist“). Dem entspricht auch die in Artikel 6 der Richtlinie enthaltene allgemeine Rechtfertigungsnorm, wonach der Gleichbehandlungsgrundsatz die Mitgliedstaaten nicht daran hindere, zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen in der Praxis spezifische Maßnahmen , mit denen geschlechtsspezifische Benachteiligungen verhindert oder ausgeglichen werden, Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 12 beizubehalten oder zu beschließen. Auch hier wird darauf abgestellt und mithin für eine Rechtfertigung gefordert, dass die Maßnahmen Benachteiligungen tatsächlich verhindern, nicht darauf, dass sie etwas verhindern sollen. Insoweit § 5 AGG für eine Rechtfertigung darüber hinausgehend bereits eine bestimmte Zielverfolgung – „ausgeglichen werden sollen“ – hinreichen lässt, gestattet er seinem Wortlaut nach über den von der Richtlinie eingeräumten Spielraum hinaus Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts, weshalb es zweifelhaft ist, ob er insofern mit den Vorgaben der Richtlinie in Einklang zu bringen wäre. Vorzugswürdig dürfte es sein, ihn richtlinienkonform dahingehend einschränkend auszulegen, dass eine unterschiedliche Behandlung nur dann aufgrund von § 5 AGG zulässig sein kann, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes tatsächlich verhindert oder ausgeglichen werden . Bei Anlegung dieses Maßstabs bestehen für die Rechtfertigbarkeit einer pauschalen Konditionenbevorzugung von Frauen bei zivilrechtlichen Massengeschäften nach dem oben Festgestellten erhebliche Hürden. Eine valide Beurteilung ist gleichwohl nur im jeweiligen Einzelfall möglich. 4.4. Beweislast Gemäß § 22 AGG gilt hinsichtlich der Beweislast: Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist , die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Bei einer offenen Anknüpfung unterschiedlicher Vertragskonditionen an das Geschlecht trägt hiernach der Anbieter der geschlechtsdifferenzierten Preise die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen eines Rechtsfertigungsgrundes nach dem AGG vorliegen. 5. Fazit Offen ein Geschlecht bevorzugende Preise für ein- und dieselbe zivilrechtliche Dienstleistung sind eine besonders scharfe Form der Diskriminierung von Menschen anderen Geschlechts. Eine solche unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts soll durch den antidiskriminierungsrechtlichen Rechtsrahmen sowohl auf europäischer wie auch auf nationaler Ebene grundsätzlich strikt vermieden werden. Gleichwohl können entsprechende Ungleichbehandlungen im Einzelfall zulässig sein – namentlich dann, wenn sie sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen können. Die im AGG vorgesehenen Rechtfertigungsgründe sind dabei entsprechend ihres Ausnahmecharakters und aufgrund des Erfordernisses der Europarechtskonformität eng auszulegen. Voraussetzung für eine Rechtfertigung ist stets die Verhältnismäßigkeit der diskriminierenden Maßnahme. Die Beweislast dafür, dass sämtliche Merkmale des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes im Einzelfall vorliegen, trifft im Streitfall den Anbieter der preislich geschlechtsdifferenzierten Dienstleistung. Da zur Beurteilung stets eine Betrachtung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere eine Abwägung der unterschiedlichen tangierten Interessen zu erfolgen hat, können Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 139/19 Seite 13 pauschale Aussagen dazu, ob und ggf. in welchem Umfang Frauen bevorzugende Preise im öffentlichen Personennahverkehr rechtlich zulässig sind, nicht getroffen werden. Allerdings sprechen gewichtige antidiskriminierungsrechtliche Gründe dafür, dass Anbieter zivilrechtlicher Dienstleistungen bei Massengeschäften grundsätzlich nicht aus allgemeinen gleichstellungspolitischen Gründen Angehörige eines Geschlechts nur wegen dieser Geschlechtszugehörigkeit offen durch günstigere Konditionen bevorzugen und spiegelbildlich die Angehörigen des anderen Geschlechts benachteiligen dürfen. * * *