Deutscher Bundestag „Islamisches Recht“ als Herausforderung des deutschen Internationalen Privatrechts? Aktuelle Reformvorschläge für eine Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im Internationalen Familien- und Erbrecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 7 – 3000 – 136/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 2 „Islamisches Recht“ als Herausforderung des deutschen Internationalen Privatrechts? Aktuelle Reformvorschläge für eine Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im Internationalen Familien- und Erbrecht Verfasser: Aktenzeichen: WD 7 – 3000 – 136/12 Abschluss der Arbeit: 7. Juni 2012 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung 4 1. Einleitung 5 2. Internationaler Rechtsrahmen 5 2.1. Europarecht 5 2.1.1. Geltendes bzw. bald in Kraft tretendes Recht 5 2.1.2. Rechtssetzungsprojekte 6 2.2. Staatsvertragliches Kollisionsrecht 7 3. Gesetzgeberische Motivation für die geltende Staatsangehörigkeitsanknüpfung im EGBGB 9 4. Meinungsstand im Schrifttum 10 4.1. Rohe 11 4.2. Andrae 11 4.3. Schack 12 4.4. Henrich 12 4.5. Unberath 13 4.6. Mansel 14 4.7. Rauscher 15 4.8. Weitere Stimmen 16 5. Bewertung 16 5.1. Integrationspolitische Zwecke im Kollisionsrecht 16 5.2. Grundprobleme der Aufenthaltsanknüpfung 17 5.3. Anwendung ausländischen Aufenthaltsrechts auf Deutsche 19 6. Ausblick 19 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 4 Zusammenfassung In der internationalprivatrechtlichen Literatur wird diskutiert, ob angesichts von Integrationsproblemen ausländischer Bevölkerungsteile sowie der oft nicht mit dem deutschen ordre public vereinbaren Inhalte islamisch geprägten Familien- und Erbrechts ein Wechsel des primären Anknüpfungspunkts im Internationalen Familien- und Erbrecht von der Staatsangehörigkeit zum gewöhnlichen Aufenthalt erfolgen sollte. Während sich das neuere Schrifttum überwiegend für einen solchen Wechsel unter Einräumung von Rechtswahlmöglichkeiten ausspricht und auch im europäischen Kollisionsrecht ein starker Trend hin zur Aufenthaltsanknüpfung festzustellen ist, erwiese sich ein solcher Wechsel vor dem Hintergrund der überkommenen Ratio der Anknüpfung im internationalen Familien- und Erbrecht – nämlich der Berufung eines Rechts, mit dem sich der Betroffene eng verbunden fühlt – als nicht unproblematisch und ruft in der Literatur zum Teil denn auch deutliche Kritik hervor. Zielführender dürfte angesichts der Globalisierung stattdessen eine Kombination von primärer Rechtswahl mit hilfsweiser Staatsangehörigkeitsanknüpfung sein. Für materielle Wertekonflikte mit islamisch geprägten Rechtsordnungen ist das deutsche Internationale Privatrecht mit dem ordre-public-Vorbehalt hinreichend gerüstet. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 5 1. Einleitung Das deutsche Internationale Familien- und Erbrecht bestimmt das anwendbare Recht traditionellerweise überwiegend primär über die Staatsangehörigkeit der Betroffenen. Dies kann bei sich in Deutschland aufhaltenden Ausländern zu einem Verweis auf fremde Privatrechtsordnungen führen , die mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts konfligieren, namentlich im Falle islamisch geprägten Rechts. Während das deutsche Internationale Privatrecht (IPR) auf etwaige hieraus resultierende Unvereinbarkeiten mit dem Vorbehalt der Vereinbarkeit der Anwendung ausländischen Rechts mit dem deutschen ordre public reagiert (Artikel 6 EGBGB1), wird in der Literatur vor dem Hintergrund der zunehmenden Anwendbarkeit islamischen bzw. islamisch geprägten Rechts neuerdings auch der Vorschlag erhoben, einen grundsätzlichen Wechsel von der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit hin zu einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt zu vollziehen, um insbesondere hinsichtlich der zahlreichen langfristig im Inland lebenden Ausländer eine vermehrte Anwendung deutschen Rechts zu erreichen und dem entsprechend den o.g. Wertekonflikt zu vermeiden.2 Nachfolgend sollen die kollisionsrechtlichen Implikationen dieses Vorschlags summarisch beleuchtet werden. 2. Internationaler Rechtsrahmen 2.1. Europarecht Die Entscheidung, ob im Rahmen einer Kollisionsnorm auf die Staatsangehörigkeit oder den gewöhnlichen Aufenthalt abzustellen ist, liegt grundsätzlich im Ermessen des nationalen Gesetzgebers .3 Das internationale Privatrecht wird allerdings zunehmend durch europarechtliche Regelungen überwölbt, im Falle von anwendbaren EU-Verordnungen zum Teil auch verdrängt.4 Dies betrifft insbesondere – sowohl de lege lata als auch de lege ferenda – auch das internationale Familien - und Erbrecht.5 2.1.1. Geltendes bzw. bald in Kraft tretendes Recht Das anwendbare Recht auf Fragen des familienrechtlichen Unterhalts ergab sich früher aus Artikel 18 EGBGB, wonach das Recht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten 1 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1994 (BGBl. I S. 2494; 1997 I S. 1061), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 27. Juli 2011 (BGBl. I S. 1600, 1942) geändert worden ist. 2 Rohe, Das islamische Recht, 3. Aufl. 2011, S. 367 f. 3 Ausführlich zum Verhältnis von Europarecht und Internationalem Privatrecht Sonnenberger, in: Säcker /Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Band 10, 5. Aufl. 2010, Einl. IPR Rdn. 124 ff.: 4 Vgl. Artikel 3 Nr. 1 EGBGB. 5 Vgl. Andrae, Kollisionsrecht nach dem Lissabonner Vertrag, FPR 2010, S. 505 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 6 maßgeblich war. Artikel 18 wurde durch das Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 (EU-UnterhVO) und zur Neuordnung bestehender Aus- und Durchführungsbestimmungen auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts mit Wirkung vom 18. 6. 2011 aufgehoben.6 Maßgeblich ist nunmehr gemäß Artikel 15 EU-UnterhVO das Haager Unterhaltsprotokoll 7, gemäß dessen Artikel 3 das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Unterhaltsberechtigten anwendbar ist.8 Mit Wirkung vom 21.06.2012 wird sich das für Scheidungsfragen anwendbare Recht ganz überwiegend nicht mehr nach Artikel 17 Absatz 1 EGBGB bestimmen, der über den Verweis auf Artikel 14 EGBGB grundsätzlich eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit vorsieht, sondern nach der Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (sog. Rom-III-Verordnung). Gemäß Artikel 5 Rom-III-VO bestimmt sich das anwendbare Recht erstrangig nach einer eingeschränkten Rechtswahl, mangels einer solchen gemäß Artikel 8 Rom-III-VO nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eheleute.9 2.1.2. Rechtssetzungsprojekte 2009 hat die EU-Kommission den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses vorgelegt (EU-ErbR-VO).10 Nach Artikel 16 EU-ErbR-VO soll die Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates unterliegen, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach Artikel 17 Nr. 1 EU- ErbR-VO soll die Möglichkeit bestehen, im Wege der Rechtswahl die Rechtsnachfolge in den gesamten Nachlass dem Recht des Staates unterwerfen, dem man angehört. In erster Lesung hat das Europäische Parlament eine eingeschränkte Durchbrechung der Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt für den Fall vorgeschlagen, dass sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Staat hatte, dessen Recht dann anzuwenden sein soll (Artikel 16 Absatz 2 (neu) EU-ErbR-VO).11 6 Gesetz vom 23.05. 2011 (BGBl. I S. 898). 7 Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht vom 23.11.2007, abrufbar unter http://beckonline .beck.de/?bcid=Y-100-G-IntVHUntProt2007 (Stand dieser und sämtlicher folgenden Internet-Quellen: 06.06.2012). 8 Vgl. Mansel/Thorn/Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2011: Gegenläufige Entwicklungen, in: IPRax 2012, S. 1, 21 f. 9 Vgl. Mansel/Thorn/Wagner (o. Fußn. 8) S. 1, 4. 10 KOM(2009) 154 endg. 11 P7_TA-PROV(2012)0068, 2009/0157 (COD) vom 13.03.2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 7 Im März 2011 hat die EU-Kommission Vorschläge für Verordnungen zum anwendbaren ehelichen Güterrecht (Rom-IVa-VO)12 sowie zum bei eingetragenen Lebenspartnerschaften anzuwendenden Güterrecht (Rom-IVb-VO)13 vorgelegt.14 Artikel 16 Rom-IVa-VO sieht zur Bestimmung des anwendbaren Rechts primär eine eingeschränkte Rechtswahl vor. Mangels einer solchen soll der eheliche Güterstand vorrangig dem Recht des Staates unterliegen, in dem die Ehegatten nach der Eheschließung ihren ersten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben (Artikel 17 Absatz 1 lit. a Rom-IVa-VO). Hinsichtlich des bei eingetragenen Lebenspartnerschaften anwendbaren Rechts sieht Artikel 15 Rom-IVb-VO keine Rechtswahl, sondern eine Anknüpfung an das Recht des Staates vor, in dem die Partnerschaft registriert wurde (so auch Artikel 17b Absatz 1 Satz 1 EGBGB).15 2.2. Staatsvertragliches Kollisionsrecht Nach Artikel 3 EGBGB geht in Staatsverträgen enthaltenes Kollisionsrecht den Regelungen des EGBGB vor. Ein Wechsel der Anknüpfungsmomente im internationalen Familien- und Erbrecht des EGBGB wäre demnach insofern effektlos, wie in Staatsverträgen anderweitige Anknüpfungen normiert sind. Dies würde insbesondere auch in Bezug auf etwaige EU-Rechtsakte gelten, da diese regelmäßig die bereits bestehenden staatsvertraglichen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates unberührt lassen.16 Derzeit bestehen im Bereich des Familien- und Erbrechts folgende kollisionsrechtliche Staatsverträge : Das Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien17, das für den Iran fortgilt, legt in Artikel 8 Absatz 3 in Bezug auf das Familien- und Erbrecht das Staatsangehörigkeitsprinzip fest.18 Dies führt in dem Fall, dass beide Ehegatten iranische Staatsbürger sind, zur Anwendbarkeit iranischen Rechts.19 Das CIEC-Übereinkommen über die Feststellung der mütterlichen Abstammung nichtehelicher Kinder20 enthält im Verhältnis zu Griechenland, Luxemburg, den Niederlanden, der Schweiz, 12 KOM(2011) 126 endg. 13 KOM(2011) 127 endg. 14 Vgl. Martiny, Die Kommissionsvorschläge für das internationale Ehegüterrecht sowie für das internationale Güterrecht eingetragener Partnerschaften, IPRax 2011, S. 437 ff. 15 Vgl. hierzu Martiny (o. Fußn. 14), S. 456. 16 Vgl. etwa Artikel 19 Absatz 1 Rom-III-VO sowie Entwurf von Artikel 45 EU-ErbR-VO. 17 RGBl. 1930 II, S. 1006 (Text abrufbar unter http://www.datenbanken.justiz.nrw.de/ir_htm/dtiran _niederlassungsabkommen.html); BGBl. 1955 II, S. 829. 18 Vgl. Palandt/Thorn, BGB, 71. Aufl. 2012, Art. 14 EGBGB Rdn. 5. 19 Vgl. Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Art. 17 EGBGB Rdn. 4. Haben beide auch die deutsche Staatsangehörigkeit, führt dies nicht zur Anwendung iranischen Rechts. 20 BGBl. 1965 II, S. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 8 Spanien und der Türkei die Regelung, dass die mütterliche Abstammung eines Kindes durch die Eintragung einer Frau als seine Mutter als festgestellt gilt und ein nach dem Abstammungsstatut ggf. erforderliches Mutterschaftsanerkenntnis damit entbehrlich ist.21 Hinsichtlich der Bestimmung des für die Wirkungen des Eltern-Kind-Verhältnisses anwendbaren Rechts enthält das Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ)22 im Verhältnis zu Artikel 21 EGBGB vorrangige staatsvertragliche Regelungen.23 Mit dem KSÜ wird der Vorrang des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes für das anwendbare Recht weiter verstärkt.24 In Bezug auf das im Erbfall anwendbare Recht besteht eine staatsvertragliche Sonderregelung für türkische Staatsangehörige im deutsch-türkischen Konsularvertrag vom 28.05.1929.25 Nach § 14 der Anlage zu dessen Artikel 20 gilt grundsätzlich das Staatsangehörigkeitsprinzip sowie in Bezug auf Grundstücke die lex rei sitae26.27 Weitere staatsvertragliche Sonderregelungen gelten in Bezug auf US-amerikanische Staatsbürger aufgrund des deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags vom 29.10.195428 (Inländerbehandlung bei der Erbfolge)29 sowie im Hinblick auf die Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufgrund des deutsch-sowjetischen Konsularvertrages vom 25.04.195830 (Geltung der lex rei sitae für unbewegliches Vermögen).31 21 Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Art. 19 EGBGB Rdn. 3. 22 BGBl. 2009 II, S. 603. 23 Vgl. Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Art. 21 EGBGB Rdn. 6. Das deutsch-iranische Abkommen bleibt von der KSÜ wiederum unberührt, vgl. Palandt/Thorn Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdn. 27. Eine Aufzählung der Vertragsstaaten findet sich bei Palandt/Thorn, Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdn. 13. 24 Vgl. Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdn. 14. 25 RGBl. 1930 II, S. 758; BGBl. 1952 II, S. 608. 26 Also das Recht des Staates, in dessen Gebiet das Grundstück liegt. 27 Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Art. 25 EGBGB Rdn. 4; Textnachweis des Anhangs zu Artikel 20 bei Schotten /Schmellenkamp, Das Internationale Privatrecht in der notariellen Praxis, 2. Auflage 2007, Rdn. 264. 28 BGBl. 1956 II, S. 488. 29 Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Art. 25 EGBGB Rdn. 4. 30 BGBl. 1959 II, S. 232. 31 Palandt/Thorn (o. Fußn. 18) Art. 25 EGBGB Rdn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 9 3. Gesetzgeberische Motivation für die geltende Staatsangehörigkeitsanknüpfung im EG- BGB32 Die Aufgabe des Internationalen Privatrechts besteht darin, in einem Fall, der Verbindungen zu mehr als einer nationalen Privatrechtsordnung aufweist, die bezüglich der Rechtsfrage sachlich nächste Rechtsordnung zur Anwendung zu berufen.33 Welche Rechtsordnung dies ist, bestimmt sich nach den bei einem Rechtsverhältnis in Frage stehenden internationalprivatrechtlichen Interessen .34 Die Wertung der beteiligten Interessen erfolgt nach materiellen Gesichtspunkten, also in Bezug auf die zugrundeliegende Rechtsfrage, den sog. Anknüpfungsgegenstand.35 Sie resultiert in der Wahl eines bestimmten Anknüpfungsmoments – etwa Staatsangehörigkeit oder gewöhnlicher Aufenthalt – und dessen Zuordnung zum Anknüpfungsgegenstand.36 Im Anschluss an Kegel werden gemeinhin grob drei Gruppen von kollisionsrechtlichen Interessen unterschieden: Partei-, Verkehrs- und Ordnungsinteressen.37 Im „Parteiinteresse“ stehe vor allem die Anwendung einer Rechtsordnung, mit der eine Person eng verbunden sei.38 Das Verkehrsinteresse fordere die Anwendung eines Rechtes, das den Ablauf des Rechtsverkehrs erleichtere bzw. sichere.39 Ordnungsinteressen schließlich gingen darauf, ein möglichst widerspruchsfreies Resultat der kollisionsrechtlichen Zuweisung von Rechtsverhältnissen an bestimmte nationale Privatrechte zu erreichen.40 Staatliche Ordnungsinteressen an der Durchsetzung eigenen Rechts sollen dabei keine Rolle spielen.41 Im Bereich des Personen- Familien- und Erbrechts soll dieser Einteilung zufolge das Parteiinteresse überwiegen. Das heißt, dass die Anknüpfung des Personalstatuts im Internationalen Privatrecht primär dem Ziel dienen soll, diejenige Rechtsordnung zur Anwendung zu berufen, der sich die betreffende Person eng verbunden fühlt.42 32 Die nachfolgenden Ausführungen sind überwiegend entnommen aus Trips-Hebert, Internationales Privatrecht und Globalisierung – Der Einfluss der Globalisierung auf die Anknüpfung des Personalstatuts im Internationalen Privatrecht, 2003, S. 28 f., 36, 86. 33 Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, § 4 II 1; (Trips-)Hebert, Fallbearbeitung und Qualifikationsprobleme im Internationalen Privatrecht, JuS 2000, S. 254. 34 Junker, Internationales Privatrecht, 1998, Rdn. 83. 35 Vgl. Sonnenberger, in: Rebmann et al. (Hrsg.) Münchener Kommentar zum BGB, Band 10, 3. Aufl. 1998, Einl. IPR Rdn. 84. 36 Vgl. Sonnenberger (wie vorhergehende Fußn.). 37 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, § 2 II. 38 Kegel/Schurig (o. Fußn. 37) § 2 II 1. 39 Kegel/Schurig (o. Fußn. 37) § 2 II 2. 40 Kegel/Schurig (o. Fußn. 37) § 2 II 3. 41 Rauscher, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 2009, Rdn. 52. 42 Kegel/Schurig (o. Fußn. 37) § 2 II 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 10 Mit dem Inkrafttreten des EGBGB am 1. Januar 1900 löste die Staatsangehörigkeit den Wohnsitz als dominierendes Anknüpfungsattribut des deutschen Internationalen Privatrechts ab; auch heute noch kommt ihr entscheidendes Gewicht im deutschen Kollisionsrecht zu.43 Sie ist insbesondere weiterhin erstrangig44 für die Anknüpfung im Internationalen Familien- und Erbrecht maßgeblich .45 So wird sie etwa verwandt zur Anknüpfung der Eheschließung (Art. 13 Abs. 1 EGBGB), der Ehewirkungen (Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB), des Güterstandes (Art. 15 Abs. 1 EGBGB), der Scheidung (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EGBGB), von Vormundschaft, Betreuung, Pflegschaft (Art. 24 Abs. 1 S. 1 EGBGB), der Rechtsnachfolge von Todes wegen (Art. 25 Abs. 1 EGBGB) und von Verfügungen von Todes wegen (Art. 26 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB). Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers für das Staatsangehörigkeitsprinzip beruhte entsprechend den vorstehend geschilderten Grundlagen auf der Annahme, es entspreche dem Interesse der Beteiligten, in persönlichen Angelegenheiten nach dem Recht ihres Heimatstaates beurteilt zu werden, weil bei genereller Betrachtung die Staatsangehörigkeit ihre fortdauernde persönliche Verbundenheit mit diesem Staat dokumentiere und ihnen das vom Gesetzgeber der eigenen Nationalität geschaffene, auf Personen ihrer Nationalität ausgerichtete Recht am vertrautesten sei.46 4. Meinungsstand im Schrifttum Die Grundsatzfrage, wie die Anknüpfung des Personalstatuts – und damit der Fragen des Familien - und Erbrechts als seinem wesentlichen Teil – erfolgen sollte, insbesondere ob der Staatsangehörigkeit oder dem Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt der Vorzug zu geben ist, stellt eine der meistdiskutierten und umstrittensten Fragestellungen des Internationalen Privatrechts dar.47 Der Meinungsstand hierzu soll vorliegend nicht wiedergegeben werden.48 Nachfolgend wird jedoch ein Überblick über diejenigen rechtswissenschaftlichen Äußerungen gegeben, die sich mit der Frage der Anknüpfung gerade mit Bezug auf die bereits in der Einleitung dargestellte Problematik der Anwendung kulturell divergenten, insbesondere islamisch geprägten Rechts in Deutschland aufgrund der erheblichen Zahl hier langfristig lebender Ausländer befassen. 43 Kegel/Schurig (o. Fußn. 37)§ 13 II 1 lit. a. 44 Bei Versagen der Staatsangehörigkeitsanknüpfung wird häufig auf den gewöhnlichen Aufenthalt abgestellt, vgl. Kegel/Schurig (o. Fußn. 37) § 13 II 1 lit. a. 45 Benicke, Auswirkungen des neuen Staatsangehörigkeitsrechts auf das IPR, IPRax 2000, 171; von Hoffmann, Internationales Privatrecht, 7. Aufl. 2002, § 5 Rdn. 2 f. 46 BVerfGE 31, 58, 78; BVerfG IPRax 2007, 217, 222 f. Mansel betont, die Einführung der Staatsangehörigkeitsanknüpfung habe historisch darauf beruht, dass die Nationalstaaten des 19. Jhdt. der Überzeugung gewesen seien , sie könnten über ihre Bürger gebieten (Mansel, Die kulturelle Identität im Internationalen Privatrecht, in: Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd. 43, 2008, S. 137, 165). Jedenfalls zum Zeitpunkt der umfassenden IPR-Reform 1986 war dieser Gesichtspunkt jedenfalls nicht mehr tragend. 47 Trips-Hebert (o. Fußn. 32) S. 5 m.w.N. 48 Vgl. vertiefend Trips-Hebert (o. Fußn. 32) S. 31 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 11 4.1. Rohe Rohe hat sich wiederholt für den Übergang zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ausgesprochen.49 Die daraus resultierende vermehrte Anwendung inländischen Rechts werde den Lebensverhältnissen besser gerecht, besonders in den Fällen, in denen aufgrund des einschlägigen Staatsangehörigkeitsrechts die „fremde“ Staatsangehörigkeit auch noch für Menschen maßgeblich bleibe, die seit langem in der neuen Rechtsumwelt lebten und sich deren Maßstäbe zunehmend zu Eigen machten50: „Dies gilt vor allem dann, wenn die bei Einwanderern zunächst oft als sicher erwartete Rückkehr in die alte Heimat unterbleibt, und erst recht im Hinblick auf die im Inland geborenen und aufgewachsenen Nachkommen. Das Recht hat die Aufgabe, auch für diesen Personenkreis die passenden Rechtsnormen bereitzuhalten. So würde … dem Umstand Rechnung getragen, dass sich Deutschland zu einem Einwanderungsland entwickelt hat.“ Als „Mittellösung“ sei laut Rohe auch eine vermehrte Zulassung einer eingeschränkten Rechtswahl denkbar, womit insbesondere der Gefahr aufgedrängten Aufenthaltsrechts begegnet werden könne.51 4.2. Andrae Für einen Wechsel von der Staatsangehörigkeits- zur Aufenthaltsanknüpfung angesichts der Integrationsproblematik spricht sich auch Andrae52 aus: „Die Funktionen des Kollisionsrechts auf diesem Gebiet haben sich seit dem Inkrafttreten des EGBGB n.F. im Jahr 1986 verschoben. Damals ging man wohl davon aus, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, so dass die zur Arbeit herbeigeholten Ausländer nicht auf Dauer in Deutschland bleiben würden. Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit – als Familienstatut – indiziert eine kulturelle Verbundenheit des Einzelnen mit seinem Heimatstaat , das heißt sie sollte den kulturellen, religiösen und familiären Traditionen der hier lebenden ausländischen Bürger Rechnung tragen. Das Kollisionsrecht leistete damit einen Beitrag zur Konservierung eines Sondermilieus im gesamten Bereich der Familienbeziehungen, denn ursprünglich war auch das Kindschaftsrecht einbezogen . Seine Aufgabe ist es jedoch nicht nur, das typische Mikro-Umfeld, das subjektive Wollen und die Distanz zur Kultur des Aufenthaltstaates widerzuspiegeln. Es hat im Bereich des Familienrechts auch die Integration der hier lebenden Ausländer in die deutsche Gesellschaft zu fördern, mit der sie objektiv eng verbunden sind.“53 Allerdings warnt Andrae unter Bezugnahme auf die aktuelle europarechtliche Kollisionsrechtsvereinheitlichung auch vor einem Rückfall in die Zeiten vor Einführung des modernen Kollisionsrechts und einer schlichten Anwendung der lex fori54 aufgrund integrationspolitischer Bestrebungen : 49 Rohe, Islamisierung des deutschen Rechts? JZ 2007, S. 801, 803; ders., Das islamische Recht (o. Fußn. 2) S. 367 f. 50 Rohe (o. Fußn. 2) S. 367. 51 Rohe (o. Fußn. 2) S. 367 f. 52 Andrae, Anwendung des islamischen Rechts im Scheidungsverfahren vor deutschen Gerichten, NJW 2007, S. 1730 ff. 53 Andrae (o. Fußn. 52) S. 1732 f. 54 Recht am Sitz des angerufenen Gerichts, vgl. Rauscher (o. Fußn 41) Rdn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 12 „Die europäische Rechtsvereinheitlichung auf diesem Gebiet sollte zügig vorangetrieben werden und von Beständigkeit gekennzeichnet sein. Sie darf nicht dazu führen, dass unter dem Einfluss der gegenwärtig geführten Diskussion um die Islamisierung der Gesellschaft und des Rechts das IPR mittels des lex fori-Prinzips (Recht des Gerichts ) bedeutungslos wird. In der Regelung sollten die unterschiedlichen Rechtsanwendungsinteressen ausgewogen zum Ausdruck kommen, vor allem sollte einerseits das eheliche Kollisionsrecht die Integration der Einwanderungsfamilien in das soziale Umfeld des Aufnahmelandes fördern und andererseits einen Beitrag zur Wahrung der kulturellen Identität der Menschen leisten, die ihre Mobilitätsfreiheit – vor allem innerhalb der Europäischen Union – wahrnehmen.“55 4.3. Schack Schack betont, man dürfe Ausländer nicht über die Staatsangehörigkeitsanknüpfung an ihr Heimatrecht fesseln und folgert daraus, dass die geltende Staatsangehörigkeitsanknüpfung dringend gelockert werden müsse.56 Gerade auch das deutsch-iranische Niederlassungsabkommen sei ein Anachronismus, der der Praxis erhebliche Probleme mit Familienverhältnissen von Iranern beschere .57 Die Lockerung könne insbesondere durch die Ermöglichung einer Rechtswahl zugunsten des Aufenthaltsrechts de lege ferenda erfolgen.58 Gerade vor dem Hintergrund der durch religiös beeinflusstes Heimatrecht zu Tage tretenden kulturellen Konflikte betont Schack die Vorzüge einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt: „Mit Achtung der ‚kulturellen Identität‘ hat es nichts zu tun, wenn die Anwendung religiösen Rechts zur Verfestigung patriarchalischer Herrschaftsstrukturen führt. Wenn in Deutschland lebende Musliminnen diesen Strukturen entfliehen wollen, muss die deutsche Rechtsordnung sie unterstützen und darf sie nicht kollisionsrechtlich durch die Anwendung religiösen Rechts gegenüber anderen in Deutschland lebenden Frauen benachteiligen. In einem säkularen Rechtsstaat werden die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch den demokratisch legitimierten staatlichen Gesetzgeber bestimmt. Dabei wird, solange die Lebensverhältnisse hinreichend homogen sind, Rechtseinheit und damit die Gleichbehandlung aller Einwohner (Art. 3 Abs. 1 GG) angestrebt. Das spricht kollisionsrechtlich für eine verstärkte Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt (…). Enklaven ausländischen Heimatrechts … sind heute eher unerwünscht. Solche Insellösungen ausländischer Heimat- und erst recht religiöser Rechte nähren das Wachstum ethnischer Kolonien in deutschen Großstädten. (…) Wir müssen uns bemühen, die in Deutschland lebenden Ausländer durch Sprache und Kultur zu integrieren. Hierzu kann auch das deutsche Internationale Privatrecht einen Beitrag leisten. Das Instrument hierfür ist neben einer verstärkten Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der nur auf den ersten Blick brutal und intolerant wirkende deutsche ordre public (Art. 6 EGBGB).“59 4.4. Henrich Henrich60 knüpft an die von Jayme vertretene Auffassung an, wonach die Anknüpfung des Personalstatuts im Internationalen Privatrecht idealiter Lösungen suchen solle, die die kulturelle Iden- 55 Andrae (o. Fußn. 52) S. 1733. 56 Schack, Diskussionsbeitrag, in: Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd. 43, 2008, S. 302. 57 Schack (wie vorhergehende Fußn.). 58 Schack, Religion und Internationales Privatrecht, in: Zimmermann (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006, S. 195, 204. 59 Schack (o. Fußn. 58), S. 204 f., 206. 60 Henrich, Parteiautonomie, Privatautonomie und kulturelle Identität, in: Mansel et al. (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme, Band I, 2004, S. 321 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 13 tität des Einzelnen respektieren.61 Er kritisiert an der Staatsangehörigkeitsanknüpfung, dass sie die assimilierungsunwilligen Ausländer begünstige und diejenigen diskriminiere, die sich ihrer Umgebung angepasst hätten.62 Andererseits betont er, dass eine starre Aufenthaltsanknüpfung gerade vor dem Hintergrund der kulturellen Identität der Betroffenen ebenso problematisch sein könne. Bei dem zu erwartenden Wechsel von der Staatsangehörigkeitsanknüpfung zu der an den gewöhnlichen Aufenthalt sei es deshalb wichtig, der Parteiautonomie mehr Raum zu geben und die Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts zu gestatten, um im Inland lebenden Ausländern das deutsche Recht nicht starr aufzuzwingen.63 4.5. Unberath Unberath64 schließt sich Henrich in dessen Kritik an der dysfunktionalen Wirkung des Staatsangehörigkeitsprinzips in Bezug auf Migrantenpopulationen an und spricht sich für eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt aus: „Ganz abgesehen von der genuin politischen Integrationsfrage dürfte die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt den Lebensverhältnissen der Ausländer bei gefestigtem inländischem Aufenthalt … viel eher entsprechen .“65 Wenn sowohl in traditionellen Einwandererländern als auch in aktuellen internationalen Konventionen primär an das Recht am domicile oder Wohnsitz angeknüpft werde, so liege dem ebenfalls die Absicht zugrunde, die Integration in den Aufenthaltsstaat zu fördern.66 Gerade auch im Hinblick auf die kulturelle Identität sei zu befürchten, dass das Staatsangehörigkeitsprinzip im Hinblick auf die Rechtsordnungen arabischer Länder mehr Schaden als Nutzen anrichte, da zentrale Rechtssätze des islamisch geprägten Rechts von deutschen Gerichten nicht nur nicht angewendet , sondern als offensichtlich unvereinbar mit den Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung „gebrandmarkt“ würden.67 Durch die Staatsangehörigkeitsanknüpfung schaffe man erst Konfliktfelder, um deren Abmilderung man sich nachträglich vergeblich bemühe.68 Wenn gegen die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt eingewandt werde, gerade die zunehmende Mobilität von EU-Bürgern innerhalb Europas erfordere eine Anknüpfung, die ihrem Kontinuitätsinteresse – also der fortdauernden Anwendung ihres Heimatrechts – entspreche, so könne dem 61 Henrich (o. Fußn. 60) S. 321. 62 Henrich (o. Fußn. 60) S. 323 63 Henrich (o. Fußn. 60) S. 327. 64 Unberath, Die Anwendung islamischen Rechts durch deutsche Gerichte – Bemerkungen zum Verhältnis von kultureller Identität und Grundgesetz, in: Haedrich (Hrsg.), Muslime im säkularen Staat – eine Untersuchung anhand von Deutschland und Österreich, 2009, S. 83 ff. 65 Unberath (o. Fußn. 64) S. 88. 66 Unberath (o. Fußn. 64) S. 88. 67 Unberath (o. Fußn. 64) S. 90 f. 68 Unberath (o. Fußn. 64) S. 101. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 14 durch die Gestattung einer Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts hinreichend Rechnung getragen werden.69 4.6. Mansel Mansel betont, eine Entscheidung zugunsten der Staatsangehörigkeits- oder der Aufenthaltsanknüpfung könne nicht rechtswissenschaftlich entschieden werden, sondern müsse rechtspolitisch fallen.70 Beide Anknüpfungspunkte versagten bei der Bestimmung des sachnächsten Rechts zunehmend.71 Die Rechtfertigung des Staatsangehörigkeitsprinzips durch Überlegungen zur kulturellen Identität gelänge nur im idealtypischen, zunehmend nicht mehr zutreffenden Fall: „Gerade in einer kulturell diversifizierten Gesellschaft mit einem hohen Ausländeranteil häufen sich aber die Ausnahmen. Und man muss sich daher fragen, ob die Quantität der Ausnahmen nicht in eine neue Qualität umschlägt . Die Ausführungen … haben nochmals verdeutlicht, dass für eine wachsende Zahl von Inländern der Staat ihrer Staatsangehörigkeit nicht oder nicht allein der Staat ist, in dessen Geschichte und Kultur sie ihre kulturelle Identität finden. Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung versagt die Rechtfertigung nicht nur für Einzelfälle , sondern für eine wachsende Gruppe von Menschen, insbesondere für die jahrzehntelang hier ansässige und zu großen Teilen weitgehend sozial integrierte ausländische Wohnbevölkerung. Es stellt sich die Frage, warum auf sie nicht das Personen-, Familien- und Erbrecht ihres Aufnahmestaates angewendet werden kann. Für sie verliert die Anwendung des durch die Staatsangehörigkeit bestimmten Heimatrechts an Überzeugungskraft. Aus dem Blickwinkel kultureller Identität versagt die Staatsangehörigkeit als Anknüpfungspunkt aber auch, soweit deutsche Staatsangehörige, die durch Einbürgerung oder Inlandsgeburt nach § 4 Abs. 3 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben, ihre kulturelle Identität noch immer in ihrem Herkunftsstaat oder dem ihrer Eltern finden.“72 Kritisch bewertet Mansel jedoch Überlegungen, aus Integrationsgründen und zwecks Vermeidung der Anwendbarkeit fremden Rechts zu einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt überzugehen : Im Wesentlichen beruht dieser Ansatz auf zwei Gedanken: Die Wohnbevölkerung in Deutschland soll unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit durchgehend deutschem Recht unterstehen, damit der Staat seine ordnungspolitischen Vorstellungen durchsetzen kann. Die rechtliche Gleichbehandlung der Wohnbevölkerung ist das Ziel. Die kulturell differenzierte Gesellschaft wird nicht erfasst. Die Argumentation ist einseitig auf die inländische Wohnbevölkerung und Staatsinteressen ausgerichtet. Sie übersieht, dass wegen der grundsätzlich gebotenen Allseitigkeit 73 der Anknüpfung dann auch auf Deutsche mit Auslandswohnsitz von deutschen Gerichten das ausländische Aufenthaltsrecht angewendet werden müsste. Das kann in vielen Fällen ebenso unangemessen sein wie die Anwendung deutschen Rechts auf Ausländer, die in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Die wiedergegebene Argumentation übersieht auch, dass die Verweisungsregeln des Kollisionsrechts, jedenfalls im regelmäßigen gegenständlichen Bereich des Personalstatuts, grundsätzlich nicht auf die Durchsetzung staatlicher ord- 69 Unberath (o. Fußn. 64) S. 89. 70 Mansel (o. Fußn. 46), S. 137, 209, 3. These. 71 Mansel (o. Fußn. 46) S. 210, 13. These. 72 Mansel (o. Fußn. 46) S. 164. 73 Als allseitig bezeichnet man Kollisionsnormen, die das zu berufende Recht anhand von neutralen Anknüpfungsmomenten bestimmen, unabhängig davon, ob dies zur Anwendung eigenen oder fremden Privatrechts führt. Dem gegenüber regeln einseitige Kollisionsnormen nur, unter welchen Voraussetzungen die inländische Rechtsordnung anzuwenden ist. Vgl. Lorenz, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Beck'scher Online-Kommentar BGB, Edition: 23, Stand 01.03.2011, Einl IPR, Rdn. 45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 15 nungspolitischer Maximen, sondern auf die Anwendung des Rechts mit der engsten Beziehung zum Sachverhalt ausgerichtet sind. Zentral sind private Rechtsanwendungsinteressen.“74 Die Anwendung des Aufenthaltsrechts sei nach dieser Prämisse dann angezeigt, wenn die Anknüpfungspersonen im Aufenthaltsstaat rechtskulturell verwurzelt seien – dies aber könne erfahrungsgemäß auch bei einem langjährigen Inlandsaufenthalt von Ausländern keineswegs voraussetzungslos angenommen werden.75 Insbesondere bei den sog. kulturellen Enklaven versage damit auch die Aufenthaltsanknüpfung.76 Vor diesem Hintergrund plädiert Mansel für zunehmende kollisionsrechtliche Parteiautonomie: „Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsanknüpfungen sind typisierende Anknüpfungen. In den kulturell sich differenzierenden Gesellschaften ist der Zusammenhang zwischen kultureller Verwurzelung im Aufenthalts- oder Heimatstaat für nennenswerte Bevölkerungsteile aufgelöst. Typisierende Fallgruppen versagen hier regelmäßig, weil die Fallgruppen nicht durch ein typisches Merkmal geschieden werden können. (…) Daher sollte die Regelanknüpfung des Personalstatuts an die Staatsangehörigkeit bzw. den Aufenthalt durch ein Wahlrecht durchbrochen werden, das es der oder den Anknüpfungspersonen erlaubt, als Personalstatut das durch das jeweils andere Merkmal bestimmte Recht zu wählen. (…) Das sollte – über die bestehenden Rechtswahlmöglichkeiten des internationalen Familien- und Erbrechts hinaus – de lege ferenda zugelassen werden.“77 4.7. Rauscher Kritisch sieht Rauscher78 die Vorschläge zu einer Abkehr von der Staatsangehörigkeitsanknüpfung . Die Staatsangehörigkeit sei nach wie vor wichtigster Indikator der persönlichen und kulturellen Beziehung eines Menschen zum Heimatstaat und zu dessen Rechtsordnung79: „Die Kritik am kollisionsrechtlichen Prinzip würde erst stichhaltig, wenn die Nation de facto nicht mehr der wesentliche Bezugspunkt der Identitätsfindung in einer Rechtskultur wäre. (…) Den für eine solche Abkehr erforderlichen neuen Befund soll die Erkenntnis liefern, dass seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhebliche Arbeitsmigration in und nach Europa stattfindet, die jedenfalls zwischen den Mitgliedstaaten erwünscht und Ausdruck der Grundfreiheiten ist. Hieraus wird nicht selten eine gelockerte Heimatbindung und damit eine Schwächung der Bindung zum Heimatrecht gefolgert. (…) Gegen diese Annahme sprechen zwei gewichtige Argumente: Anlässlich der Diskussion um die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 1999 wurde von den Protagonisten des ‚Doppelpasses‘ … mit Nachdruck die Bedeutung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats für die Integration vorgetragen. Das bestätigt umgekehrt, dass Integration nicht verfestigt ist, so lange der Migrant, obgleich er dies könnte, die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats nicht (hinzu-)erwirbt. Auch wenn Integration nicht erst durch Staatsangehörigkeitserwerb stattfindet, bleibt die Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit ein starkes Indiz für Distanz zur Kultur des Aufenthaltsstaates.“80 74 Mansel (o. Fußn. 46) S. 172 f. 75 Mansel (o. Fußn. 46) S. 173. 76 Mansel (o. Fußn. 46) S. 173. 77 Mansel (o. Fußn. 46) S. 174 f. 78 Rauscher, Heimatlos in Europa? Gedanken gegen eine Aufgabe des Staatsangehörigkeitsprinzips im IPR, in: Mansel et al. (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme, Band I, 2004, S. 719 ff.; ders., Internationales Privatrecht (o. Fußn. 41), Rdn. 203 ff. 79 Rauscher, Heimatlos in Europa? (o. Fußn. 78), S. 730, 733 f. 80 Rauscher, Heimatlos in Europa? (o. Fußn. 78), S. 733. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 16 Rauscher weist auch kritisch darauf hin, dass im Fall eines Übergangs zur Aufenthaltsanknüpfung dies gerade vor dem Hintergrund der innereuropäischen Freizügigkeit zu ungewollten Ergebnissen führen könnte: „Je stärker die Freizügigkeit innerhalb Europas gerade aus beruflichen Gründen genutzt wird, um so weniger ist diese Migration eine ‚Auswanderung‘ im klassischen Sinn, und um so weniger lässt sich an ihr der Wechsel der Bindung festmachen: Wer auf Jahre in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet, hat nicht mehr im Sinn, als die Chancen des offenen Marktes zu nutzen. Ähnliches gilt in der großen – im Erbstatut relevanten – Gruppe der Voll- oder Teilzeit-Mediterranruheständler. Insoweit mag zwar oft ein oberflächlicher Kulturwechsel stattfinden, der sich an Klima, Speisegewohnheiten und musealer Kultur orientiert. Die rechtskulturelle Sozialisation dieser Personengruppe hat aber längst vor dem Eintritt in den Ruhestand stattgefunden. (…) Soll bei einem Mediterran- Ruheständler, der 6 Monate in Ibiza und 6 Monate in Deutschland lebt, wirklich der letzte gewöhnliche Aufenthalt über das Erbstatut entscheiden?“81 4.8. Weitere Stimmen Moschtaghi schließt sich ohne nähere Begründung der Auffassung Rohes an.82 Eine Festlegung vermeidet Posch, der konzediert, die Umstellung auf die Aufenthaltsanknüpfung könne wirksame Abhilfe gegen die andernfalls weiter zunehmenden Fälle sein, in denen eine mühsame Anwendung islamischer Rechtsordnungen erfolgen müsse, jedoch betont, dass eine solche Lösung neue Fragen aufwerfe, die der genauen Analyse bedürften.83 5. Bewertung 5.1. Integrationspolitische Zwecke im Kollisionsrecht Es erscheint naheliegend, dass Personen, die bewusst nicht die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen , obwohl sie dies – namentlich seit der Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts – könnten, damit auch zum Ausdruck bringen, dass sie sich ihrer Heimatkultur enger als der deutschen verbunden fühlen. Tritt man angesichts eines solchen Befundes offen für eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ein, um eine Anwendung deutschen Rechts zu erreichen , dann würde dies letztlich einen bewussten Bruch mit der Grundmaxime der Anknüpfung des Personalstatuts im Internationalen Privatrecht darstellen, wonach das Parteiinteresse hier am höchsten zu gewichten ist und wonach die Anknüpfung vorrangig dem Ziel dienen soll, ein Recht zu berufen, dem sich die Person eng verbunden fühlt.84 Stattdessen würde das Internationale Privatrecht als Mittel der Integrationspolitik zweckentfremdet.85 Entsprechende Vorschläge gehen denn auch oft Hand in Hand mit der wohl eher politisch denn rechtswissenschaftlich ba- 81 Rauscher, Heimatlos in Europa? (o. Fußn. 78), S. 734. 82 Moschtaghi, Rezension zu Rauhe, Das islamische Recht, ZaöRV 2011, S. 649, 654 f. 83 Posch, „Islamisierung“ des Rechts? ZfRV 2007, S. 124, 131. 84 Allerdings kennt das IPR auch schon jetzt die Durchbrechung des Prinzips der engsten Verbindung im Personalstatut , etwa in Art. 5 Absatz 1 Satz 2 EGBGB zugunsten deutschen Rechts. 85 Vgl. auch Sonnenberger (o. Fußn. 3) Rdn. 714: „Soweit es zu dauerhafter und endgültiger Niederlassung von Gastarbeitern in Deutschland kommt, sind die Lösungen im Staatsangehörigkeitsrecht durch Handhabung der Einbürgerungen, nicht aber im IPR durch eine gruppenspezifische Aufgabe der Staatsangehörigkeit als Anknüpfungsgrund zu suchen.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 17 sierten Feststellung, dass Deutschland nunmehr ein Einwanderungsland sei, sowie der daraus gefolgerten Gleichsetzung mit der einschlägigen Interessenlage klassischer Einwanderungsländer wie den USA.86 An diesem kritischen Befund vermag auch die verbreitet vorgeschlagene „Exit-Option“ in Gestalt einer abweichenden Rechtswahl nichts zu ändern: Denn zum einen dürfte der großen Mehrzahl der Betroffenen aus Rechtsunkenntnis bzw. aus „Nicht-Kümmern“ eine solche Option schlicht verborgen bleiben und sich insofern eher als kollisionsrechtliches Feigenblatt erweisen, mit dem man die o.g fundamentale „Umwertung“ eines Kernbereichs des Internationalen Privatrechts anstandshalber zu kaschieren sucht. Zum anderen dürfte auch gerade in den problematischen Fällen mit islamisch geprägten Heimatrechten eine solche Rechtswahl verstärkt zugunsten des Heimatrechts ausgeübt werden, weshalb die Problematik der Auseinandersetzung mit jenem Recht dann doch wieder akut würde. Nicht ausgeschlossen erscheint auch, dass eine bewusste Abkehr von der grundsätzlichen Anwendung des der kulturellen Identität von Zuwanderern am ehesten entsprechenden Heimatrechts Tendenzen seitens der Betroffenen stärken würde, im Rahmen des Möglichen die staatlichen deutschen Gerichte von vornherein komplett zu meiden und zu einer Paralleljustiz Zuflucht zu nehmen.87 Letztlich würde das Internationale Privatrecht mit seiner langen, völkerfreundlichen Tradition und dem allem zugrundeliegenden Axiom der Gleichwertigkeit88 der Sachrechtsordnungen für integrationspolitische Interessen instrumentalisiert. Vor einer entsprechenden Reform sollte deshalb das tatsächliche Bedürfnis für eine Umgestaltung angesichts bestehender und, wie die Rechtsprechung89 zeigt, auch funktionierender Sicherungsmechanismen des geltenden Kollisionsrechts gegenüber inakzeptablen Vorstellungen islamisch geprägten Rechts – Stichwort „ordre public“ – kritisch analysiert werden. 5.2. Grundprobleme der Aufenthaltsanknüpfung Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes im Internationalen Privatrecht ist regelmäßig weitaus schwieriger festzustellen als der der Staatsangehörigkeit.90 Denn er wird definiert als der Ort, an dem ein Mensch seinen Daseinsmittelpunkt habe.91 Dieser wiederum läge dort, wo die entscheidenden sozialen Bindungen der Person bestünden, wo sie sozial integriert sei.92 Ein entsprechendes Begriffsverständnis herrscht auch im Bereich des Europäischen Kollisionsrechts, wie dem Standpunkt des Europäischen Parlaments zur EU-ErbR-VO entnommen werden kann: 86 Überzeugende Kritik hieran bei Rauscher, Internationales Privatrecht (o. Fußn. 41), Rdn. 203 f. 87 Vgl. Wagner, Richter ohne Gesetz: islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 2011. 88 Vgl. Rauscher, Internationales Privatrecht (o. Fußn. 41), Rdn. 46. 89 Vgl. etwa Bock, Der Islam in der Entscheidungspraxis der Familiengerichte, NJW 2012, S. 122. 90 Vgl. ausführlich Trips-Hebert (o. Fußn. 32), S. 36 ff. 91 BGH NJW 1975, S. 1068. 92 von Hoffmann (o. Fußn. 45) § 5 Rdn. 75. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 18 „Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sollte die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tode und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe . Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen.“93 Unabhängig davon, dass durch die im Rahmen der Globalisierung zunehmende Dislozierung der sozialen Verhältnisse und die Heterogenisierung der modernen Gesellschaften die Grundhypothese des Zusammenhangs zwischen einer zu verortenden sozialen Integration und einer staatlichen Rechtsordnung zunehmend infrage gestellt wird94, erweist sich dieses Konzept auch gerade für die Problemfälle der Parallelgesellschaften als problematisch. Denn sie dürften in besonderer Weise veranschaulichen, dass in den einschlägigen Biographien der gewöhnliche Aufenthalt als „Ort der sozialen Integration“ nicht selten verhältnismäßig schwer festzustellen sein dürfte. Wo ist etwa der Ort der sozialen Integration eines türkischen Staatsbürgers, der zwar seit 20 Jahren in Deutschland lebt, aber kaum deutsch spricht, bewusst die deutsche Staatsangehörigkeit nicht angenommen hat, der in Berlin-Neukölln privat ausschließlich in türkischen Kreisen verkehrt, nur türkisches Fernsehen schaut, täglich Hürriyet liest und alle zwei Wochen für eine Woche in sein Heimatdorf zu seiner Familie reist? Und wenn der Ort der sozialen Integration im letztgenannten Fall im derart umschriebenen „türkischen Mikrokosmos“ in Berlin-Neukölln liegt, wie kann dem eine Aussage zugunsten der Anwendung deutschen Familienrechts in Bezug auf die kulturelle Identität des Betroffenen entnommen werden? Wie wäre es im Falle eines streng gläubigen , aus dem Sudan nach Deutschland eingewanderten Salafisten, der keine Kontakte zur deutschen Bevölkerung pflegt und dem Gleichberechtigung, Religionsfreiheit und hiesige Sitten und Bräuche zutiefst zuwider sind? Vergleichbare Probleme können sich aus der zunehmenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa ergeben: Wo ist der Ort der sozialen Integration eines deutschen EU-Beamten, der unter der Woche in Brüssel arbeitet und wohnt und mit seiner französischen Frau und den gemeinsamen Kindern die Wochenenden in der gemeinsamen Wohnung in Genf verbringt, wo die Kinder eine internationale Schule besuchen? Auf derartige Schwierigkeiten weist andeutungsweise auch das Europäische Parlament in seinem Standpunkt zur EU- ErbRVO hin: „In einigen Fällen kann es sich als komplex erweisen, den Ort zu bestimmen, an dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sich der Erblasser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen – unter Umständen auch für längere Zeit – in einen anderen Staat begeben hat, um dort zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsstaat aufrechterhalten hat. In diesem Fall könnte – entsprechend den jeweiligen Umständen – davon ausgegangen werden, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in seinem Herkunftsstaat hat, in dem sich in familiärer und sozialer Hinsicht sein Lebensmittelpunkt befand. Weitere komplexe Fälle können sich ergeben, wenn der Erblasser abwechselnd in mehreren Staaten gelebt hat oder auch von Staat zu Staat gereist ist, ohne sich in einem Staat für längere Zeit niederzulassen. Wenn der Erblasser ein Staatsangehöriger eines dieser Staaten war oder alle seine wesentlichen Vermögensgegenstände in einem dieser Staaten hatte, so könnte die Staatsangehörigkeit oder der Ort, an dem die Vermögensgegenstände sich befinden, ein besonderer Faktor bei der Gesamtbeurteilung aller tatsächlichen Umstände sein.“95 93 Erwägungsgrund 12 EU-ErbR-VO, P7_TA-PROV(2012)0068, 2009/0157 (COD) vom 13.03.2012. 94 Vgl. hierzu Trips-Hebert (o. Fußn. 32), S. 106 ff. 95 Erwägungsgrund 12a EU-ErbR-VO, P7_TA-PROV(2012)0068, 2009/0157 (COD) vom 13.03.2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 19 Dem Rückschluss von einem Ort der sozialen Integration auf die kulturelle Identität einer Person liegt letztlich die Vorstellung von einer weitgehend kulturell homogenen Bevölkerung auf einem Staatsgebiet zugrunde. Wenn sich aber in räumlichen Enklaven im Staatsgebiet Parallelgesellschaften herausbilden, die mit deutschen Wertvorstellungen und der deutschen Rechtsordnung nichts zu tun haben (wollen), dann liefert eine soziale Integration an diesem Ort eben gerade kein bzw. kein hinreichendes Indiz für eine kulturell enge Verbindung zu diesem Recht. Die Zugrundelegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts bei einem solchen Zusammenhang erweist sich deshalb möglicherweise eher als Scheinlösung, die Modernität vorgaukelt, während sie tatsächlich Ausdruck des uralten Heimwärtsstrebens96 zugunsten der Anwendbarkeit der lex fori ist. Dies würde umso mehr gelten, wenn die Gerichte in entsprechenden Fällen – aus verständlichen Gründen – dazu übergingen, aus dem gewöhnlichen Aufenthalt letztlich den „schlichten verfestigten Aufenthalt“ im Sinne des überwiegenden räumlichen Sich-Aufhaltens zu machen. 5.3. Anwendung ausländischen Aufenthaltsrechts auf Deutsche Eine Neuorientierung des deutschen Internationalen Privatrechts hin zur Aufenthaltsanknüpfung zu Integrationszwecken würde schließlich nicht nur für die Zielgruppe der dauerhaft hier lebenden Migranten gelten, sondern für die gesamte Bevölkerung. Auch Angehörige der großen Bevölkerungsmehrheit , die im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist, könnten sich dann unter Umständen unversehens der Anwendung ausländischen Familien- und Erbrechts ausgesetzt sehen , obgleich dies nicht das ihrer kulturellen Identität entsprechende Recht wäre.97 6. Ausblick Bei allen Überlegungen für und wider eine Neuausrichtung der Anknüpfung im Internationalen Familien- und Erbrecht ist zu beachten, dass die Bedeutung des autonomen deutschen internationalen Familien- und Erbrechts seit einiger Zeit deutlich und gegenwärtig noch verstärkt abnimmt : Die Europäische Union hat sich die Vereinheitlichung des Kollisionsrechts auf die Fahnen geschrieben und schreitet im Internationalen Familien- und Erbrecht behende voran. Im Rahmen dieser Rechtssetzung zeichnen sich zwei Dinge ab: Erstens eine grundsätzliche Bereitschaft , den Betroffenen eine eingeschränkte Rechtswahl zu gestatten, zweitens die – gegebenenfalls ersatzweise – Anknüpfung zuvörderst an den gewöhnlichen Aufenthalt, nicht an die Staatsangehörigkeit . Insofern dürfte sich der noch zu konstatierende Vorrang der Staatsangehörigkeit im deutschen Internationalen Familien- und Erbrecht unabhängig von der vorliegend betrachteten Diskussion um „Islamisches Recht und Internationales Privatrecht“ in absehbarer Zeit ohnehin erledigt haben . Von Interesse wäre dann allerdings, auch bestehende bilaterale Staatsverträge mit Staaten aus dem islamischen Rechtskreis, die noch das Staatsangehörigkeitsprinzip konservieren, anzupassen bzw. zu kündigen. 96 Vgl. Rauscher, Internationales Privatrecht (o. Fußn. 41), Rdn. 54. 97 Vgl. Mansel (o. Fußn. 46) S. 172, 162. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 136/12 Seite 20 Ob sich der gewöhnliche Aufenthalt langfristig als Königsweg zur Anknüpfung im Internationalen Familien- und Erbrecht erweist, erscheint angesichts der allerdings Globalisierung eher fraglich . Zielführender dürfte eine Kombination von primärer Rechtswahl mit hilfsweiser Staatsangehörigkeitsanknüpfung sein.98 Für materielle Wertekonflikte mit islamisch geprägten Rechtsordnungen ist das deutsche Internationale Privatrecht dabei mit dem ordre-public-Vorbehalt hinreichend gerüstet. 98 Vgl. hierzu Trips-Hebert (o. Fußn. 32), S. 141.