© 2020 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 129/20 Die Regulierung geschlechtsspezifischer Preisdifferenzierung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 2 Die Regulierung geschlechtsspezifischer Preisdifferenzierung Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 129/20 Abschluss der Arbeit: 4. Dezember 2020 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Antidiskriminierungsrechtliche Perspektive 5 2.1. Benachteiligung 6 2.1.1. Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen erster und zweiter Kategorie 7 2.1.2. Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen dritter Kategorie 8 2.1.3. Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen vierter Kategorie 9 2.2. Rechtfertigung 10 2.2.1. Ökonomischer Hintergrund 10 2.2.2. Rechtliche Bewertung 12 2.2.2.1. Regelbeispiele 13 2.2.2.2. Allgemeine Rechtfertigung 14 2.3. Rechtsfolgen 15 3. Wettbewerbsrechtliche Perspektive 16 3.1. Kartellrechtliche Perspektive 17 3.2. Lauterkeitsrechtliche Perspektive 18 4. Gesetzgeberische Initiativen 19 4.1. Antidiskriminierungsrechtliche Perspektive 19 4.2. Wettbewerbsrechtliche Perspektive 20 5. Fazit 20 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 4 1. Einleitung Als geschlechtsspezifische Preisdifferenzierung kann im weitesten Sinne das Verhalten bezeichnet werden, gleiche oder sehr ähnliche Produkte oder Dienstleistungen mit unterschiedlichen Preisforderungen zu versehen und diese entweder nur einem Geschlecht zugänglich zu machen beziehungsweise so zu gestalten, dass sie auf ein Geschlecht besonders attraktiv wirken.1 Eine von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebenen Studie kam 2017 zu dem Ergebnis, dass vergleichbare Produkte teilweise geschlechtsbezogen angeboten worden seien (z.B. Kinderspielzeug oder Parfüm) und es hierbei auch vereinzelt zu Preisdifferenzen gekommen sei, bei bestimmten Produkten wie Parfüms in einem deutlich höheren Maße.2 Bei Dienstleistungen , etwa im Friseurwesen oder der Reinigung, sei dies insgesamt verstärkt beobachtet worden.3 Das Phänomen ist im englischsprachigen Raum als „Gender Pricing“4 oder „Pink Tax“5 bekannt, wobei die Begriffe auch in Deutschland Verwendung finden.6 Ein allgemeingültiger Begriff beziehungsweise eine einheitliche Definition der hierunter fallenden Angebote scheint in der öffentlichen Diskussion noch nicht gefunden, was auch in Ansehung der Unschärfe der verwendeten Begriffe deutlich wird.7 Wie bereits in der einleitenden Definition angedeutet, handelt es sich bei geschlechtsspezifischen Preisdifferenzierungen um kein einheitlich fassbares Phänomen, sondern ist in verschiedener Art und Weise denkbar. Im Sinne einer möglichst präzisen Einordnung 1 Definition aufbauend auf der Beschreibung von an der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland – Forschungsbericht, erstellt im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2017, S. 11, abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen /Expertise_Preisdifferenzierung_nach_Geschlecht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf dieser und aller weiteren Internetquellen: 4. Dezember 2020). 2 Ebenda, S. 76, 80 ff. 3 Ebenda, S. 73 ff., 79. 4 Siehe etwa New York City Department of Consumer Affairs, From Cradle to Cane: The Cost of Being a Female Consumer – A Study of Gender Pricing in New York City, 2015, abrufbar in englischer Sprache unter: https://www1.nyc.gov/assets/dca/downloads/pdf/partners/Study-of-Gender-Pricing-in-NYC.pdf. 5 „NY’s Gendered Pricing Law: Will It Curb The Pink Tax“, Presseartikel von „mondaq.com“ vom 11. November 2020, abrufbar in englischer Sprache unter: https://www.mondaq.com/unitedstates/advertising-marketingbranding /1004390/ny39s-gendered-pricing-law-will-it-curb-the-pink-tax. 6 Vergleiche beispielhaft „„Gender Pricing“: Warum Kosmetikprodukte für Frauen teurer sind“, Presseartikel von „tagesspiegel.de“ vom 23. Dezember 2019, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/gender-pricing -warum-kosmetikprodukte-fuer-frauen-teurer-sind/25357616.html. 7 So impliziert der Begriff „Pink Tax“ etwa, dass es sich um eine steuerliche Besonderheit handelte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr besteht hier die Gefahr der Verwechslung mit der Diskussion um die Besteuerung von Menstruationsmitteln, die teilweise auch als „Pink Tax“ bezeichnet wurde („Endlich Schluss mit der Tampon Tax?“, Presseartikel von „emma.de“ vom 24. August 2016, abrufbar unter: https://www.emma.de/artikel /pink-tax-das-laeppert-sich-333261). Letztere Debatte führte zu einer gesetzlichen Änderung zwecks günstigerer Besteuerung für Erzeugnisse zum Zwecke der Monatshygiene, vergleiche Art. 12 Nr. 21 Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12. Dezember 2019 (BGBl. 2019 I S. 2451). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 5 wird in der Literatur eine Klassifizierung in vier, in Intensität der Differenzierung abnehmenden Unterkategorien vorgenommen, auf die auch im Folgenden zurückgegriffen wird:8 1. Preise bei gleichen oder vergleichbaren Produkten/Dienstleistungen, die von vornherein starr auf ein Geschlecht abstellen (z.B. unterschiedlicher Preis für Herren- und Damenkurzhaarschnitte ); 2. Besondere Rabattaktionen bei gleichen oder vergleichbaren Produkten/Dienstleistungen für Angehörige eines Geschlechts (z.B. „Ladies‘ Night“); 3. Preisunterschiede bei gleichen oder vergleichbaren Produkten/Dienstleistungen, die ausdrücklich für Angehörige eines Geschlechts ausgewiesen sind (z.B. Kosmetikprodukte mit dem Ausdruck „For Men/Women“); 4. Preisunterschiede bei gleichen oder vergleichbaren Produkten/Dienstleistungen, die durch bestimmte Vermarktungsstrategien einen vermeintlichen Bezug zu einem Geschlecht aufnehmen wollen, aber selbst keine ausdrückliche Geschlechtseinordnung vornehmen (z.B. Einsatz der Farbe Rosa als „typisch“ weiblich oder Blau als „typisch“ männlich ). Fraglich ist, inwieweit die Vornahme geschlechtsspezifischer Preisdifferenzierungen rechtlich reguliert ist, welche Rechtsschutzmöglichkeiten und Reformbestrebungen bestehen. 2. Antidiskriminierungsrechtliche Perspektive Die maßgeblichen zivilrechtlichen Regelungen des deutschen Antidiskriminierungsrechtes finden sich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG).9 Dessen § 1 deklariert als Ziel des Gesetzes , „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts , der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“10 Das AGG setzt unter anderem mehrere Richtlinien (RL) der Europäischen Union (EU) zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung um,11 in Bezug auf die Geschlechtergleichstellung konkret die RL/2004/113/EG.12 8 Kategorisierung im Wesentlichen übernommen von an der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 134. 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl. 2006 I S. 1897), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. 2013 I S. 610) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/agg/. 10 § 1 AGG [Hervorhebungen diesseits]. 11 Begründung des Entwurfs der Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 8. August 2006, BT-Drs. 16/1780, S. 1, abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/017/1601780.pdf. 12 Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. 2004 L 373 S. 37). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 6 Unter anderem sieht das AGG einen Diskriminierungsschutz im allgemeinen Zivilrechtsverkehr (§§ 19 ff. AGG) vor. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG lautet in diesem Sinne: „Eine Benachteiligung […] wegen des Geschlechts […] bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte ) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen […], ist unzulässig.“13 Dies stellt eine formale Einschränkung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit im deutschen Zivilrecht dar.14 Im Rahmen der Ausprägung als „negative Abschlussfreiheit“ gewährt sie in ihrer Reinform die freie, willkürliche Entscheidung, einen Vertrag zu schließen oder hiervon Abstand zu nehmen.15 2.1. Benachteiligung Wie bereits aus dem Gesetzeswortlaut ersichtlich, bezieht sich der Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots von vornherein nur auf ein im Wesentlichen häufig auftretendes Geschäft, bei denen das Ansehen des Gegenübers keine oder lediglich geringe Bedeutung hat, etwa im Bereich der Konsumgüterwirtschaft oder standardisierter Dienstleistungen.16 Die in § 19 AGG erwähnte Benachteiligung ist an anderer Stelle des AGG definiert (§ 3) und kann in unmittelbarer oder mittelbarer Weise erfolgen: – Eine unmittelbare Benachteiligung (wegen des Geschlechts) liegt vor, wenn eine Person aufgrund dessen eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.17 – Eine mittelbare Benachteiligung (wegen des Geschlechts) liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen ihres Geschlechts gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich 13 § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG [Auslassungen diesseits]. 14 Vergleiche näher zur Vertragsfreiheit Feldmann, in: Staudinger, BGB Kommentar, Neubearbeitung 2018, § 311 BGB, Randnummer 1 mit umfangreichen weiteren Nachweisen auch zum verfassungsrechtlichen Hintergrund . 15 Musielak, Vertragsfreiheit und ihre Grenzen, Juristische Schulung (JuS) 2017, S. 949. 16 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 41. 17 § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 7 gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich .18 Fraglich ist, inwieweit die in der Einleitung genannten Unterkategorien geschlechtsspezifischer Preisdifferenzierung eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung gemäß dem AGG darstellen . 2.1.1. Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen erster und zweiter Kategorie In geschlechtsspezifischen Preisdifferenzierungen der ersten und zweiten Kategorie wird in der juristischen Literatur weitestgehend eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts gesehen.19 Dieses Ergebnis liegt auch bei Anwendung der gesetzlichen Definition der unmittelbaren Benachteiligung nahe: Soweit einer Person aufgrund ihres Geschlechts ein Produkt oder eine Dienstleistung nur zu einem höheren Preis angeboten wird, stellt dies eine objektiv weniger günstigere Behandlung aufgrund des Geschlechts dar. Allerdings könnte der notwendige zivilprozessuale Nachweis, dass die Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts und nicht aus anderen Gründen erfolgt („Kausalität“) in der Praxis problembehaftet sein, wie etwa das Beispiel der ersten Kategorie von Herren- und Damenkurzhaarschnitten zu unterschiedlichen Preisen in Frisiersalons zeigt. Zwar muss bei einer Benachteiligung im Sinne des AGG kein Verschulden oder gar eine Diskriminierungsabsicht gegeben sein.20 Das Geschlecht muss jedoch zumindest objektiv mitursächlich für die vorgenommene Ungleichbehandlung gewesen sein („Motivbündel“).21 So könnten im Beispiel beklagte Frisiersalons in einem hypothetischen Gerichtsprozess argumentieren , dass unterschiedliche Preisforderungen für die „formal“ gleiche Leistung (Kurzhaarschnitt ) nicht auf dem Geschlecht an sich, sondern allein auf dem erhöhten Aufwand basierten, den etwa Damenfrisuren bereiteten.22 Da es sich hierbei um einen entscheidungserheblichen Sachverhaltsteil handelte, müsste das Gericht über diese Frage grundsätzlich Beweis erheben, so- 18 § 3 Abs. 2 AGG. 19 So im Ergebnis an der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 147. Zu diesem Ergebnis kommen auch speziell in Bezug auf unterschiedliche Preise für Frisierdienstleistungen bei Herren und Damen mehrere andere Literaturstimmen – wenngleich zumeist ohne dargelegte rechtliche Prüfung: Hofmann, Dynamische und individuelle Preise aus lauterkeitsrechtlicher Sicht, Wettbewerb in Recht und Praxis (WRP) 2016, S. 1074, 1079; Heese, Offene Preisdiskriminierung und zivilrechtliches Benachteiligungsverbot, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2012, S. 572, 573; Armbrüster/Wollenberg, Grundfälle zum AGG, Juristische Schulung (JuS) 2020, S. 301, 306. 20 Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 697/10 –, Randnummer 42 mit weiterem Rechtsprechungsnachweis (zitiert nach juris). 21 Allgemein auf die in § 1 AGG genannten Merkmale bezogen: BAG, Urteil vom 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 –, Randnummer 62 mit weiterem Rechtsprechungsnachweis (zitiert nach juris). 22 Eine andere Ansicht, allerdings ohne nähere Begründung, vertreten zur Beispielskonstellation an der Heiden /Wersig (Fußnote 1), S. 164, die Fragen des Aufwandes erst auf der Rechtfertigungsebene klären wollen (siehe hierzu noch unter 2.2.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 8 fern es die Tatsache der (Mit-)Anknüpfung an das Geschlecht bei der Preisbildung nicht etwa bereits für allgemeinkundig hält. Allgemeinkundig sind Ereignisse oder Zustände, die von einer beliebigen Zahl von Personen ohne besondere Sachkunde jederzeit wahrgenommen werden können , sei es unmittelbar oder durch Zugriff auf allgemein zugängliche, zuverlässige Quellen.23 Inwieweit Quellen von solcher Qualität zur Frage des geschlechtsspezifischen wirtschaftlichen Aufwandes in Frisiersalons existieren, wäre im Einzelfall zu beurteilen. Nach allgemeiner Lebenserfahrung erscheint zumindest denkbar, dass Damenkurzhaarschnitte nicht ausnahmslos einen höheren wirtschaftlichen Aufwand für einen Salon verursachen als Herrenkurzhaarschnitte und die unterschiedlichen Preise im Sinne einer Mischkalkulation darauf basieren, dass dies in der Regel der Fall ist.24 Eine Mitursächlichkeit läge dann nahe, denn das Merkmal wäre hiermit zumindest teilweise für die vorgenommene Preispauschalierung verantwortlich. Inwieweit ein hiermit befasstes Gericht diese abstrakten Überlegungen einer allgemeinkundigen Tatsache gleichsetzen würde, bliebe dessen Einzelfallentscheidung. Falls eine Beweisaufnahme notwendig wäre, träfe nach allgemeinen zivilprozessualen Regeln die anspruchsstellende Partei die Darlegungs- und Beweislast, auch wenn diese im AGG insoweit erleichtert ist.25 Demnach müsste die Partei jedenfalls Indizien beweisen, die eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts vermuten lassen. Bloße Behauptungen „ins Blaue hinein“ sind hierfür jedenfalls nicht genügend, geeignet ist allerdings etwa die Vorlage von Statistiken.26 2.1.2. Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen dritter Kategorie Weitere Probleme stellen sich bei der antidiskriminierungsrechtlichen Einordnung geschlechtsspezifischer Preisdifferenzierungen dritter Kategorie. Als Beispiel können etwa Nassrasierer eines Unternehmens dienen, die durch explizite Produktbeschriftung einem Geschlecht zugeordnet sind (z.B. „For Men/Women“) und hierfür unterschiedliche Preise verlangt werden. Soweit ersichtlich , wurde die antidiskriminierungsrechtliche Relevanz einer solchen Vorgehensweise auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur bisher nur vereinzelt diskutiert. Eine Literaturstimme geht in diesen Fällen von einer unmittelbaren Benachteiligung aus.27 Ausgehend von der gesetzlichen Definition einer unmittelbaren Benachteiligung stellt sich hierbei insbesondere die Frage, inwieweit dies eine „weniger günstige Behandlung“ des Geschlechts hervorruft, das für die gleiche Leistung einen höheren Preis bezahlen „muss“. Im Vergleich zu den ersten beiden Kategorien ist dies jedoch nicht formal, sondern lediglich psychisch „zwingend “, das „benachteiligte“ Geschlecht könnte einfach das andere, günstigere Produkt kaufen. 23 Bacher, in: Beck’scher Online-Kommentar zur Zivilprozessordnung (ZPO), 38. Edition (Stand: 1. September 2020), § 291 ZPO, Randnummer 3. 24 Siehe auch „Was kostet eigentlich der Friseurbesuch?“, Presseartikel von „tagesspiegel.de“ vom 6. April 2015, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/eine-frage-des-schnitts-was-kostet-eigentlich-der-friseurbesuch /11600538.html. 25 § 22 AGG. 26 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 47. 27 An der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 150. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 9 Dies könnte gegen eine objektiv schlechtere Behandlung sprechen. Die genauere Bedeutung der „weniger günstigen Behandlung“ ist weder gesetzlich noch in der Auslegung durch die Praxis abschließend geklärt.28 Gemäß der Gesetzesmaterialien muss keine tatsächliche Benachteiligung eintreten, erforderlich sei aber deren „hinreichend konkrete Gefahr“.29 Notwendig ist die Feststellbarkeit für einen objektiven Dritten.30 Hier stellt sich die Frage, ob der rein psychische Beeinflussungsversuch eine Bagatellgrenze überschreitet, wobei in der Literatur umstritten ist, ob eine solche bei einer unmittelbaren Benachteiligung existiert.31 Selbst wenn man von einer weniger günstigen Behandlung ausginge, stellte sich auch hier das bereits behandelte Problem des Kausalitätsnachweises in der Praxis. Anbieter könnten beispielsweise argumentieren, dass sie – soweit es sich um Einzelhändler handelt – nur höhere Einkaufspreise für die entsprechenden Produkte in der Lieferkette weitergäben. Soweit es zu einem „ungleichen “ Bezug unmittelbar vom herstellenden Unternehmen gekommen sein sollte, könnte die Gegenargumentation lauten, dass der Preis nicht auf dem Geschlecht basiere, sondern höhere Herstellungskosten aufgrund spezieller Eigenschaften der jeweiligen Produkte ausdrücke. Insofern könnte auch hier eine Beweisaufnahme mit den aufgezeigten Problemen notwendig werden, ob es sich bei den geschlechtsspezifischen tatsächlich um Produkte mit hinreichenden identischen Herstellungskosten handelte. 2.1.3. Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen vierter Kategorie Noch problematischer stellt sich die Diskussion um geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen der vierten Kategorie dar. Dies ist etwa im Beispiel der Nassrasierer dann der Fall, wenn diese durch Farbgebung oder sonstige Gestaltung versuchen, einen vermeintlichen Bezug zu einem Geschlecht aufzubauen, ohne hierauf explizit hinzuweisen. Im Besonderen stellt sich für eine unmittelbare Benachteiligung die Frage, inwiefern hier eine beweisbare kausale Anknüpfung einer weniger günstigen Behandlung an das Geschlecht dargelegt werden könnte. Dies wäre etwa bei der Verwendung der Farben Rosa und Blau zu prüfen. Hierbei erscheinen Differenzierungen der vierten Kategorie in einem noch höheren Maße als die anderen Kategorien von subjektiven Empfindungen bestimmt, was deren Quantifizierbarkeit einem hohen Aufwand unterwerfen oder gar unmöglich machen könnte. Auch sich hiermit befassende Literaturstimmen sehen in vergleichbaren Sachverhalten keine unmittelbare Benachteiligung .32 28 Bachmann, Kein Anspruch auf geschlechtergerechte Sprache in AGB und Formularen, NJW 2018, S. 1648, 1649. 29 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 32. 30 BGH, Urteil vom 13. März 2018 – VI ZR 143/17 –, Randnummer 31 (zitiert nach juris). 31 Dafür: Bachmann, Kein Anspruch auf geschlechtergerechte Sprache in AGB und Formularen, NJW 2018, S. 1648, 1649; dagegen: Armbrüster; in: Erman, BGB – Kommentar, 16. Auflage 2020, § 3 AGG, Randnummer 4. 32 An der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 150, 173. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 10 Auch eine mittelbare Benachteiligung, wie sie teilweise in der Literatur in solchen Konstellationen angenommen wird,33 erscheint problematisch. Gemäß der gesetzlichen Definition wäre das scheinbar neutrale Kriterium im gewählten Beispiel etwa die gewählte Farbgestaltung der Nassrasierer . Durch das weitere Erfordernis der Benachteiligung „in besonderer Weise“, für die auch hier eine konkrete Gefahr bestehen muss,34 scheint jedoch eine mittelbare Benachteiligung nur schwerlich denkbar. Denn ist die hinreichende Mindestintensität einer Benachteiligung durch den Versuch der psychischen Einflussnahme bereits bei direkter Anknüpfung an das Geschlecht fraglich (siehe Kategorie 3), ist sie das erst recht bei lediglich indirektem Bezug. Selbst wenn man in diesen Fällen eine Benachteiligung in besonderer Weise bejahte, wäre für eine vollendete mittelbare Benachteiligung gemäß dem Wortlaut von § 3 Abs. 2 AGG zusätzlich nötig, dass die Behandlung nicht durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären (Rechtfertigung). Im Unterschied zur Rechtfertigung bei der unmittelbaren Benachteiligung (siehe hierzu sogleich) läge die Beweislast hier bei den Anspruchstellenden.35 2.2. Rechtfertigung Das Benachteiligungsverbot gilt nicht absolut. Auch bei Annahme einer Benachteiligung wegen des Geschlechts ist eine Verletzung des Benachteiligungsverbots nach dem AGG nicht gegeben, wenn für eine unterschiedliche Behandlung ein „sachlicher Grund“ vorliegt.36 2.2.1. Ökonomischer Hintergrund Hierbei stellt sich die Vorfrage, aus welchem Grund Anbieter überhaupt mit dem Mechanismus geschlechtsspezifischer Preisdifferenzierung agieren. Ökonomische Analysen legen dar, dass geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen nur ein Anwendungsfall des übergreifenden Phänomens der Preisdifferenzierung seien.37 In diesem Zusammenhang wird in den Wirtschaftswissenschaften auch von „Preisdiskriminierung“ gesprochen .38 Hierbei ist zu betonen, dass der Begriff der „Diskriminierung“ in diesem Zusammenhang nicht mit dem negativ konnotierten soziologischen oder juristischen Verständnis dieses Termi- 33 Ebenda, S. 173 ff. 34 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 33. 35 Armbrüster, in: Erman, BGB – Kommentar, 16. Auflage 2020, § 3 AGG, Randnummer 16. 36 § 20 Abs. 1 Satz 1 AGG. 37 Locher, Verschiedene Preise für gleiche Produkte? Personalisierte Preise und Scoring aus ökonomischer Sicht, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (ZWeR) 2018, S. 292, 293. 38 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 11 nus gleichgesetzt werden darf. Er wird stattdessen wertneutral in Anknüpfung an dessen lateinischen Ursprung synonym zu einer „Differenzierung“ genutzt.39 Bereits seit den 1920er Jahren werden in der Wirtschaftswissenschaft drei Arten der Preisdiskriminierung unterschieden:40 1. Personalisierter Preis: Individueller Preis für alle Konsumenten abhängig von deren Zahlungsbereitschaft („perfekte Preisdiskriminierung“); 2. Unterschiedliche Preise für verschiedene Konsumentengruppen differenziert nach Quantität , Qualität oder Zeitpunkt des Konsums (z.B. Mengenrabatte, Preisaufschläge für unterschiedliche Produktvarianten, zeitlich begrenzte Sonderangebote); 3. Unterschiedliche Preise für verschiedene Konsumentengruppen (z.B. Senioren, Studierende , Männer, Frauen). Mit dem Ziel, den Profit zu erhöhen, werden profitorientierte Unternehmen nach dem zugrunde liegenden ökonomischen Modell versuchen, mit ihren Preisen möglichst nah an den Preis zu gelangen , den jemand im Einzelfall tatsächlich bereit wäre für ein Produkt oder eine Dienstleistung zu zahlen.41 Wenn diese Zahlungsbereitschaft über dem eigentlichen Marktpreis liegt, können Unternehmen so einen zusätzlichen Gewinn erwirtschaften. Da die Zahlungsbereitschaft aufgrund unterschiedlich verteilten Vermögens und individueller Präferenzen bei Konsumenten unterschiedlich ist, müssen auch die angebotenen Preise differenziert werden, es kommt zu Preisdiskriminierungen . Am ökonomisch effizientesten, da am differenziertesten ist hierbei der vollständig personalisierte Preis für alle Nachfragenden (Preisdiskriminierung erster Art). In einer analogen Konsumwelt ist dies praktisch nicht umsetzbar, da nicht die notwendigen Informationen über die Zahlungsbereitschaft von Konsumenten erlangt werden können. Mit der zunehmenden Verlagerung des Konsums in die digitale Welt, dem Einsatz von Computeralgorithmen, personalisierter Werbung und Verlagerung der Marktmacht auf wenige große Internetunternehmen könnte sich dies jedoch ändern, wobei erste dahingehende Entwicklungen bereits in der Praxis zu sehen sind.42 39 Siehe etwa die Übersetzung des lateinischen Verbs „discriminare“ in die deutschen Verben „trennen, scheiden“ (https://de.langenscheidt.com/latein-deutsch/discriminare). 40 Vergleiche statt vieler Paal, Missbrauchstatbestand und Algorithmic Pricing – Dynamische und individualisierte Preise im virtuellen Wettbewerb, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 2019, S. 43, 48. Die Unterscheidung geht dabei auf den berühmten britischen Ökonomen Arthur Cecil Pigou zurück (vergleiche Pigou, The Economics of Welfare, 4. Auflage 1952, S. 275 ff.). 41 Ausführliche Erklärung des Modells (in Bezug auf Monopolstellungen) bei Breyer, Mikroökonomik – Eine Einführung , 7. Auflage 2020, S. 105 ff; Harian, Grundzüge der Mikroökonomik, 8. Auflage 2011, S. 513 ff. 42 Vergleiche etwa die empirische Untersuchung der Verbraucherzentralen „Individualisierte Preisdifferenzierung im deutschen Online-Handel“, 2018, abrufbar unter: https://www.verbraucherzentrale.de/sites/default/files /2019-09/marktwaechter-untersuchung-individualisierte-preisdifferenzierung.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 12 Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen entsprechen ökonomisch der dritten Art der Preisdiskriminierung ; soweit es lediglich um eine unterschiedliche Produktgestaltung (z.B. durch Farben ) geht, der zweiten.43 Hierbei handelt es sich um eine vergleichsweise einfach umzusetzende Vorstufe zum vollständig personalisierten Preis, da mit dem Geschlecht an ein feststehendes Merkmal angeknüpft wird, dem bestimmte Präferenzen zugeschrieben werden. Das Konzept ist jedoch identisch.44 Konkret in Bezug auf die Geschlechtsspezifik nutzen Unternehmen nach dieser Logik aus, dass etwa – wie mehrere Studien nahelegen – Frauen im Vergleich zu Männern in den Bereichen Kleidung und Parfüm eine höhere Zahlungsbereitschaft für identische Produkte haben.45 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen für Anbieter wirtschaftlich rational sind. Somit liegt nahe, dass diese in aller Regel wirtschaftliche Hintergründe haben und die Anknüpfung an das Geschlecht nur vordergründig erfolgt. 2.2.2. Rechtliche Bewertung Das Erfordernis des sachlichen Grundes ist als Rechtfertigungsgrund ausgestaltet.46 Die Prüfung bedarf einer wertenden Feststellung, einer Abwägung im Einzelfall nach den Grundsätzen von Treu und Glauben und entzieht sich wegen der Reichweite des allgemeinen zivilrechtlichen Benachteiligungsverbotes einer abschließenden näheren Konkretisierung.47 Aus der dem AGG zugrundeliegenden EU-Richtlinie lässt sich folgern, dass eine vollständige Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne einer ein legitimes Ziel verfolgenden, erforderlichen und angemessenen Behandlung durchzuführen ist („richtlinienkonforme Auslegung“).48 Eine Ansicht in der Literatur vertritt unter Berufung auf die richtlinienkonforme Auslegung die Auffassung, dass sich aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinie ergebe, dass eine geschlechtsspezifische Preisdifferenzierung nie zu rechtfertigen sei. Zu rechtfertigen seien nur vorgeschaltete „Zugangsdiskriminierungen“, bei denen einem Geschlecht der Zugang zu einer Leistung vollständig verwehrt werde (z.B. Zutrittsverweigerung in Diskothek), nicht jedoch „Konditionen- 43 Locher (Fußnote 37), S. 296 f; an der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 20 f. 44 Locher (Fußnote 37), S. 300. 45 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse bei an der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 21 f. 46 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 43. 47 Ebenda. 48 Vergleiche entsprechende Formulierung in Art. 4 Abs. 5 RL/2004/113/EG: „Diese Richtlinie schließt eine unterschiedliche Behandlung nicht aus, wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend für die Angehörigen eines Geschlechts bereitzustellen, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.“ Siehe auch Serr, in: Staudinger, BGB – Kommentar, Neubearbeitung 2018, § 20 AGG, Randnummer 10 mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 13 diskriminierungen“, bei denen die angebotene Leistung höher bepreist werde (z.B. höherer Eintritt in Diskothek).49 Die Rechtsprechung und die Kommentarliteratur haben diesen Gedanken bisher nicht aufgegriffen.50 2.2.2.1. Regelbeispiele Falls man von einer grundsätzlichen Rechtfertigungsmöglichkeit ausgeht, stellt sich zunächst die Frage, ob ein sachlicher Grund der Benachteiligung aus der Erfüllung eines Regelbeispiels folgt. Zur Präzisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat der Gesetzgeber in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 – 4 AGG Regelbeispiele aufgeführt, die „die wichtigsten Fallgruppen [des sachlichen Grundes ] umreißen und zugleich eine Richtschnur für die Auslegung des Grundtatbestandes geben können.“51 Im Regelbeispiel gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AGG heißt es, dass ein sachlicher Grund insbesondere gegeben sein kann, wenn die unterschiedliche Behandlung „besondere Vorteile gewährt und ein Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt.“52 Insofern könnten insbesondere Anbieter von geschlechtsspezifischen Preisdifferenzierungen der zweiten Kategorie argumentieren, dass eine Rabattaktion oder ähnliches für ein Geschlecht hierunter falle. Die Vorstellungen des Gesetzgebers sind ausweislich der Gesetzesmaterialien für dieses Regelbeispiel jedoch restriktiv: Dies soll nur in Fällen gelten, in denen bestimmte Gruppen typischerweise weniger leistungsfähig sind (Schüler, Studierende) oder bestimmte Kundenkreise gezielt angelockt werden sollen.53 Anders sei es aber, wenn die Gewährung gezielter Vorteile dazu diene, eine diskriminierende Verhaltensweise bei Massengeschäften nur zu tarnen.54 Das sei etwa bei einer Preisgestaltung denkbar, bei der das regulär geforderte Entgelt weit über dem Marktpreis liege, so dass es dem Anbietern im Ergebnis nur darum gehe, den Kundenkreis auf diejenigen Personen zu beschränken, die Adressaten der „besonderen Vorteile“ (tatsächlich aber des Normalpreises ) seien.55 Dementsprechend käme es im Einzelfall maßgeblich darauf an, den tatsächlichen Marktpreis zu ermitteln. In Branchen, in denen strukturell bei der Preisbildung geschlechtsspezifisch unterschieden wird und somit kein geschlechtsneutraler Marktpreis existiert, ist der praktische Nachweis der Unterschreitung eines Marktpreises möglicherweise schwierig. 49 Ausführlich an der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 152 ff.; Schieck, in: Schieck, Allgemeines Gleichbehandlungs -gesetz (AGG) – Ein Kommentar aus europäischer Perspektive, § 20 AGG, Randnummer 6; Grünberger, Personale Gleichheit – Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht, 2013, S. 699. 50 Explizit hiergegen stellt sich darüber hinaus Heese (Fußnote 19), S. 573. 51 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 43 [Hinzufügung diesseits]. 52 § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AGG [Hervorhebungen diesseits]. 53 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 44. 54 Ebenda. 55 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 14 Die Darlegungs- und Beweislast hierfür wie für die Rechtfertigung einer festgestellten Ungleichbehandlung insgesamt läge allerdings bei den Anbietern.56 Praxisbeispiele für eine Rechtfertigung für die zulässige geschlechtsspezifische Vorteilsgewährung sind in der untergerichtlichen Rechtsprechung etwa Vergünstigungen bei Dating-Portalen für Frauen57 oder in der Literatur die finanzielle Bevorzugung von Frauen in Diskotheken („Ladies ‘ Nights“)58 – jeweils als gesamtabsatzfördernde Maßnahme. Inwieweit Vergünstigungen für Frauen mit der Begründung eines geschlechtsspezifischen Lohngefälles gerechtfertigt sind („Gender Pay Gap“), ist umstritten.59 2.2.2.2. Allgemeine Rechtfertigung Falls das Regelbeispiel im Einzelfall nicht für einschlägig gehalten werden sollte, stellt sich die Frage, ob sich ein sachlicher Grund auch im Rahmen der ansonsten notwendigen allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimes Ziel – Erforderlichkeit – Angemessenheit) ergeben könnte. In 2.2.1. wurde herausgearbeitet, dass Anbieter mit geschlechtsspezifischen Preisdifferenzierungen primär wirtschaftliche Ziele verfolgen. Fraglich ist, inwiefern die Verfolgung solcher Ziele legitime Ziele im Sinne des AGG darstellen. Der BGH hat jüngst die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen – jedenfalls im Rahmen unternehmerischer Tätigkeit – als legitimes Ziel und darüber hinaus als „wichtigen Bestandteil des Rechtfertigungsgrundes “ bezeichnet.60 Hierbei führte das Gericht das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG)61) in dessen spezieller Form der „unternehmerischen Handlungs - und Gestaltungsfreiheit“62 an, auf die sich die Anbietern auch im Bereich des AGG beriefen könnten.63 56 Ebenda, S. 43. 57 Amtsgericht (AG) Gießen vom 26. Mai 2011, Aktenzeichen: 47 C 12/11 (unveröffentlicht; zitiert nach Serr, in: Staudinger, BGB – Kommentar, Neubearbeitung 2018, § 20 AGG, Randnummer 29). 58 Thüsing, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, Band 1, § 20 AGG, Randnummer 43 mit weiteren Nachweisen. 59 Vergleiche hierzu etwa Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Frauen bevorzugende Preisgestaltung und zivilrechtliches Benachteiligungsverbot – Unter besonderer Berücksichtigung des öffentlichen Personennahverkehrs , Sachstand vom 24. Oktober 2019, WD 7 – 3000 – 139/19, abrufbar unter: https://www.bundestag .de/resource/blob/671588/289b4e4e916b00a5467f2daad9572443/WD-7-139-19-pdf-data.pdf. 60 BGH, Urteil vom 27. Mai 2020 – VIII ZR 401/18 –, Randnummer 28 (zitiert nach juris). 61 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 und 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. 2020 I S. 2048) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/. 62 BGH (Fußnote 60), Randnummer 30. 63 Ebenda, Randnummern 28 ff. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 15 Dennoch scheint kein eindeutiges Ergebnis einer Rechtfertigungsprüfung vorgezeichnet. Explizite Rechtsprechung diesbezüglich war nicht auszumachen. Eine Entscheidung kann nur nach Abwägung der aufgezeigten Grundsätze unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände erfolgen . Hierbei ist besonders zu betonen, dass es sich bereits nach der Definition der Einzelfallabwägung aus den Gesetzesmaterialien um eine „wertende Feststellung“ handelt.64 Eine solche ist notwendigerweise auch von moralischen Argumenten und subjektiven Wertungen der Abwägenden geprägt.65 Im Kern geht es hierbei um die Frage, inwieweit man das Verhalten als sozial verwerflich erachtet, denn dieses Attribut unterscheidet nach den Vorstellungen des Gesetzgebers eine Benachteiligung nach dem AGG von einer bloßen Ungleichbehandlung.66 Diesbezüglich werten einzelne Literaturstimmen geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen aus wirtschaftlichen Erwägungen als gerechtfertigt, da es an einem „demütigenden Element“ fehle.67 Der Großteil der spezifisch mit dem Thema befassten Literatursieht solche Preisdifferenzierungen jedoch als nicht gerechtfertigt an, ohne dass zwischen einzelnen Erscheinungsformen differenziert würde.68 2.3. Rechtsfolgen Inhaltlich kommen für Benachteiligte mehrere Ansprüche in Betracht, etwa Beseitigungs- oder Schadensersatzansprüche.69 Einzelheiten sind hierbei weiter ungeklärt, insbesondere ob Betroffene den Vertragsabschluss zu „diskriminierungsfreien“ Konditionen verlangen können („Kontrahierungszwang“).70 Falls eine ungerechtfertigte Benachteiligung nach dem AGG durch eine geschlechtsspezifische Preisdifferenzierung angenommen wird, ist hinsichtlich der praktischen Durchsetzung der sich hieraus ergebenden Ansprüche herauszustellen, dass nach dem AGG grundsätzlich nur die benachteiligte Person selbst etwaige Ansprüche geltend machen kann („Individualrechtsschutz“).71 Das AGG sieht – wie auch das Zivilrecht allgemein – keine „abstrakte“ Klagebefugnis für Ver- 64 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 43. 65 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz – Kommentar, 91. Ergänzungslieferung (Stand: April 2020), Art. 20 GG, Randnummer 118; Klatt/Meister, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Ein Strukturelement des globalen Konstitutionalismus, JuS 2014, S. 193, 198. 66 BT-Drs. (Fußnote 11), S. 43. 67 Rath/Rütz, Ende der „Ladies Night“, der „Ü-30 Parties“ und der Partnervermittlung im Internet? – Risiken und Nebenwirkungen des allgemeinen zivilrechtlichen Diskriminierungsverbots der §§ 19, 20 AGG, NJW 2007, S. 1498, 1500. 68 An der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 152 ff.; Heese (Fußnote 19), S. 573 ff.; Hofmann (Fußnote 19), S. 1079. 69 § 21 Abs. 1 – 3 AGG. 70 Nachweise zum Streitstand bei Wendtland, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 55. Edition (Stand: 1. August 2020), § 21 AGG, Randnummer 13. 71 Vergleiche § 21 AGG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 16 bände oder sonstige Institutionen vor, ohne dass es auf eine tatsächliche Benachteiligungssituation ankäme („Verbandsklagerecht“).72 Ob bei einem Verstoß gegen § 19 AGG ein generelles Klagerecht für hierzu befugte Verbände aus dem Unterlassungsklagegesetz (UKlaG)73 folgt, ist umstritten , die Rechtsprechung scheint dies eher abzulehnen.74 Ein Verbandsklagerecht nach dem UKlaG besteht jedoch in jedem Falle dann, wenn sich die Benachteiligung aus Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) ergibt.75 Falls im Einzelfall kein Verbandsklagerecht besteht, muss grundsätzlich die benachteiligte Person selbst klagen, wobei Antidiskriminierungsverbände als sie unterstützender prozessualer Beistand – nicht jedoch wie Prozessbevollmächtigte als deren Vertretung – auftreten können.76 Ob Antidiskriminierungsverbände die Ansprüche von Betroffenen im Wege der Anspruchsabtretung erwerben und somit unabhängig von den Betroffenen als eigene verfolgen können, ist umstritten .77 3. Wettbewerbsrechtliche Perspektive Neben dem Antidiskriminierungsrecht lassen sich geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen auch aus der Perspektive des Wettbewerbsrechts betrachten. Das Wettbewerbsrecht lässt sich in das Kartell- und Lauterkeitsrecht unterteilen.78 Während das Kartellrecht auf einer Makroebene den freien Wettbewerb mittels einer Kontrolle der Struktur des gesamten Marktes zu schützen versucht („Ob“ des Wettbewerbs), bezweckt das Lauterkeitsrecht auf der Mikroebene den Schutz 72 Vergleiche zum Verbandsklagerecht von Verbraucherschutzverbänden, Mitbewerbern oder den Industrie- und Handelskammern etc. etwa § 3 Unterlassungsklagengesetz (UKlaG), § 15 Abs. 1 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) oder § 8 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Siehe zu letzterem noch unter 3. 73 Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. August 2002 (BGBl. 2002 I S. 3422, 4346), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 26. November 2020 (BGBl. 2020 I S. 2568) geändert worden ist, abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/uklag/. 74 OLG Hamm, Urteil vom 3. März 2017 – I-12 U 104/16 –, Randnummern 42 f.; noch offen gelassen von Schleswig -Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 11. Dezember 2015 – 1 U 64/15 –, Randnummern 20 ff. (mit Nachweisen zum Streitstand in der Literatur) – beide zitiert nach juris. 75 § 1 UKlaG. Siehe auch BT-Drs. (Fußnote 11), S. 48. 76 § 23 Abs. 2 AGG. Vergleiche auch § 90 ZPO. 77 Overkamp, in: juris Praxiskommentar BGB, 9. Auflage 2020, Band 2, § 23 AGG, Randnummer 14 mit Nachweisen zum Streitstand. Der BGH hat die grundsätzliche Abtretbarkeit eines Entschädigungsanspruchs bei Benachteiligung im Arbeitsverhältnis (§ 15 Abs. 2 AGG) jedoch vor kurzem anerkannt (BGH, Beschluss vom 18. Juni 2020 – IX ZB 11/19 –, Leitsatz (zitiert nach juris)). 78 Vergleiche statt vieler Ohly, in: Ohly/Sosnitza, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Einführung (Teil A), Randnummer 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 17 des fairen Wettbewerbs mittels Marktverhaltensregeln für einzelne Wettbewerbsteilnehmende („Wie“ des Wettbewerbs).79 3.1. Kartellrechtliche Perspektive Das Kartellrecht versucht den Wettbewerb auf der Makroebene unter anderem dadurch zu schützen , indem es Regeln gegen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vorhält, §§ 18 ff. Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB).80 Wie bereits in 2.2.1. dargestellt, bestehen für Anbieter allgemeine ökonomische Anreize, Preise zu differenzieren. Hierbei ist im Hinblick auf die ökonomischen Grundlagen zu berücksichtigen, dass die starke Marktmacht eines Unternehmens für dieses einen zusätzlichen Anreiz bietet, Preise zu differenzieren. Denn je weniger ein Unternehmen unter Wettbewerbsdruck steht, desto größer sind seine Spielräume bei der Preisgestaltung.81 Das Kartellrecht verbietet die Preisdifferenzierung nicht prinzipiell.82 Sind durch die marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens jedoch grundlegende Marktmechanismen beeinträchtigt , können Preisdifferenzierungen unter Umständen einen Missbrauch dieser Marktmacht gegenüber der Konkurrenz darstellen.83 Das Kartellrecht schützt hierbei traditionell alleine den freien Wettbewerb.84 Verbraucher- und Antidiskriminierungsschutz findet nur mittelbar statt, soweit deren Interessen im Einzelfall hiermit im Einklang stehen.85 79 Ohly, in: Ohly/Sosnitza, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Einführung (Teil D), Randnummer 71; Jänich, Lauterkeitsrecht, 2019, S. 4 – jeweils mit weiteren Nachweisen. 80 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. 2013 I S. 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 26. November 2020 (BGBl. 2020 I S. 2568) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gwb/. 81 So wurde das Modell der Preisdiskriminierung etwa anhand einer Monopolstellung entwickelt (siehe bereits Fußnote 41). 82 Legner, Die Relevanz eines Geschlechteraspekts für das Kartellrecht, ZWeR 2020, S. 289, 293 mit weiteren Nachweisen. 83 Einzelheiten bei Legner (Fußnote 82), S. 294 ff.; Hofmann (Fußnote 19), S. 1076 f. 84 Bechthold/Bosch, GWB – Kommentar, Einführung, Randnummern 50 ff.; Legner (Fußnote 82), S. 299. 85 Legner (Fußnote 82), S. 299 f.; Hofmann (Fußnote 19), S. 1076 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 18 3.2. Lauterkeitsrechtliche Perspektive Im Unterschied zum Kartellrecht schützt das Lauterkeitsrecht, das maßgeblich im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG)86 niedergelegt ist, auch Verbraucherinnen und Verbraucher.87 Das UWG verbietet unzulässige geschäftliche Handlungen, die im Einzelnen aufgezählt werden (§§ 3 ff.) und aus denen das Gesetz Ansprüche gegen die in dieser Weise Handelnden ableitet (§§ 8 ff.). Wie dem Kartellrecht kann auch dem Lauterkeitsrecht kein allgemeines Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Preisgestaltung entnommen werden.88 Nach § 3a UWG handelt jedoch unlauter und somit unzulässig, „[…] wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen .“89 Nach wohl herrschender Auffassung stellt das Benachteiligungsverbot aus § 19 AGG eine Marktverhaltensregel dar, so dass ein Verstoß hiergegen – im Rahmen einer geschäftlichen Handlung nach dem UWG90 – Relevanz entfalten kann.91 Soweit ein solcher Verstoß vorliegt, muss dieser nach dem Gesetzeswortlaut allerdings zusätzlich geeignet sein, die Interessen der genannten Gruppen spürbar zu beeinträchtigen. Die Eignung ist zu bejahen, wenn eine Beeinträchtigung der geschützten Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls wie insbesondere der Schwere, der Häufigkeit und der Dauer einer Zuwiderhandlung sowie dessen, welche Perso- 86 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. März 2010 (BGBl. 2010 I S. 254), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 26. November 2020 (BGBl. 2020 I S. 2568) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/uwg_2004/. 87 § 1 UWG führt zum Zweck des Gesetzes aus: „Dieses Gesetz dient dem Schutz der Mitbewerber, der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen. Es schützt zugleich das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb.“ 88 Sosnitza, in: Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, § 3 UWG, Randnummern 48 ff.; Ohly, in: Ohly/Sosnitza , Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Einführung (Teil D), Randnummer 16b. 89 § 3a UWG [Hervorhebung und Auslassung diesseits]. 90 Eine geschäftliche Handlung ist nach der gesetzlichen Definition im Wesentlichen jedes Verhalten einer Person zugunsten des eigenen oder eines fremden Unternehmens vor, bei oder nach einem Geschäftsabschluss, das mit der Förderung des Absatzes oder des Bezugs von Waren oder Dienstleistungen oder mit dem Abschluss oder der Durchführung eines Vertrags über Waren oder Dienstleistungen objektiv zusammenhängt, § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG. 91 Etwa Ohly, in: Ohly/Sosnitza, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 3a UWG, Randnummer 80; Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 38. Auflage 2020, § 3a UWG, Randnummer 1.294. Auch die Begründung des dem AGG zugrunde liegenden Gesetzentwurfes deutet auf die Anwendbarkeit von § 3a UWG hin (BT-Drs. (Fußnote 11), S. 48 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 19 nen durch die verletzte Marktverhaltensregelung geschützt werden sollen, nicht nur denkbar erscheint , sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.92 Insbesondere soll dadurch die Verfolgung von Bagatellfällen ausgeschlossen werden.93 Anders als im AGG können unzulässige geschäftliche Handlungen nach dem UWG grundsätzlich im Wege der Verbandsklage geltend gemacht werden.94 Das UWG hält ein eigenes Rechtsfolgensystem vor. Das Verbandsklagerecht gilt etwa für dortige Ansprüche auf Beseitigung und/oder Unterlassung oder Gewinnabschöpfung.95 4. Gesetzgeberische Initiativen 4.1. Antidiskriminierungsrechtliche Perspektive Insbesondere im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erstellte Diskussionsbeiträge fordern in Bezug auf geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen oder allgemein Erweiterungen des Diskriminierungsschutzes im AGG. Im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung von AGG-Ansprüchen wird auf der Rechtfertigungsebene vorgeschlagen, das Erfordernis des „sachlichen Grundes“ in § 20 Abs. 1 AGG mit den expliziten Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (legitimes Ziel – Erforderlichkeit – Angemessenheit) zu ersetzen.96 Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeitsprüfung ergibt sich derzeit aus einer richtlinienkonformen Auslegung der Norm (siehe bereits unter 2.2.2.). Zudem wird vereinzelt gefordert, das Regelbeispiel der besonderen Vorteilsgewährung (2.2.2.1) ersatzlos zu streichen, da dies keine Entsprechung im Europarecht habe.97 92 Schaffert, in: Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, 3. Auflage 2020, Band 1, § 3a UWG, Randnummer 108 mit weiteren Nachweisen. 93 Hohlweck, in: Büscher, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 2019, § 3a UWG, Randnummer 125 mit weiteren Nachweisen. 94 § 8 Abs. 2 Nr. 2 – 4 in Verbindung mit §§ 3, 3a UWG. 95 §§ 8 ff. UWG. 96 Berghahn/Klapp/Tirschbirek, Evaluation des AGG, erstellt im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes , 2016, S. 121 f., abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen /AGG/agg_evaluation.pdf?__blob=publicationFile&v=20; an der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 188. 97 An der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 188. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 20 Bezüglich der praktischen Durchsetzbarkeit von AGG-Ansprüchen wird die Einführung eines „echten“ Verbandsklagerechts für Antidiskriminierungsverbände im AGG diskutiert.98 Schließlich werden in Ansehung möglicher Beweisschwierigkeiten des Nachweises einer tatsächlichen Benachteiligung für Betroffene (2.1.) weitere Beweiserleichterungen für diese gefordert.99 4.2. Wettbewerbsrechtliche Perspektive Eine rege rechtswissenschaftliche Diskussion hat sich in den letzten Jahren zur lauterkeitsrechtlichen Zulässigkeit von personalisierten Preisen (Preisdiskriminierung ersten Grades) ergeben.100 Diskutiert wird insbesondere die Frage, ob sich aus dem Lauterkeitsrecht Transparenzpflichten ergeben, etwa dergestalt, dass der Umstand der personalisierten Preisbildung offenzulegen ist.101 Teilweise werden darüber hinaus auch zusätzlich durch den Gesetzgeber zu schaffende Transparenzpflichten für Anbieter und Wahlmöglichkeiten für Verbraucher gefordert.102 Auch der europäische Gesetzgeber hat im Zuge des „New Deal for Consumers“ erstmals Informationspflichten für personalisierte Preise festgesetzt.103 Es erscheint in tatsächlicher Hinsicht nicht ausgeschlossen, dass im Zuge neuer technischer Möglichkeiten die geschlechtsspezifische Preisdifferenzierung jedenfalls im Online-Handel im Vergleich zur vollständigen Preispersonalisierung an Bedeutung verlieren könnte. Gleichzeitig scheint es möglich, dass eine zunehmende Regulierung personalisierter Preise auch Auswirkungen auf die lauterkeitsrechtliche Zulässigkeit der verwandten geschlechtsspezifischen Preisdifferenzierungen haben könnte. 5. Fazit Geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen sind ein vereinzelt beobachtetes, vielschichtiges Phänomen, dem vor allem wirtschaftliche Motive zugrunde liegen. Soweit im Einzelfall beweisbar und differenziert nach ihrer Intensität, kann unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände 98 An der Heiden/Wersig (Fußnote 1), S. 189; Berghahn/Klapp/Tirschbirek (Fußnote 96), S. 159 f. Vergleiche auch Diskussion im Rahmen der Fachtagung „10 Jahre AGG – Evaluation und Ausblick“ vom 27. Oktober 2016, S. 10 ff. abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen /Dokumentationen/dokumentation_fachtagung_10_jahre_agg.pdf?__blob=publicationFile&v=6; Ponti/Tuchtfeld , Zur Notwendigkeit einer Verbandsklage im AGG, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2018, S. 139. 99 Berghahn/Klapp/Tirschbirek (Fußnote 96), S. 156 ff. 100 Vergleiche zuletzt etwa Gleixner, Personalisierte Preise im Onlinehandel und Europas „New Deal for Consumers “, Verbraucher und Recht (VuR) 2020, S. 417; Tillmann/Vogt, Personalisierte Preise im Big-Data-Zeitalter, VuR 2018, 447; Tietjen/Floeter, Dynamische und personalisierte Preise: Welche lauterkeitsrechtlichen Schranken gelten für Unternehmen?, Praxis im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (GRUR-Prax) 2017, 546. 101 Hierfür etwa Hofmann (Fußnote 19), S. 1080; Zander-Hayat/Reisch/Steffen, Personalisierte Preise – Eine verbraucherpolitische Einordnung, VuR 2016, S. 403, 407; Obergfell, Personalisierte Preise im Lebensmittelhandel – Vertragsfreiheit oder Kundenbetrug?, Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (ZLR) 2017, S. 290, 299. 102 Wagner/Eidenmüller, In der Falle der Algorithmen? Abschöpfen von Konsumentenrente, Ausnutzen von Verhaltensanomalien und Manipulation von Präferenzen: Die Regulierung der dunklen Seite personalisierter Transaktionen , Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft (ZfPW) 2019, S. 220. 103 Nähere Informationen bei Gleixner (Fußnote 100). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 129/20 Seite 21 eine unmittelbare Benachteiligung nach dem AGG vorliegen, wobei die Frage der Rechtfertigung gesondert zu prüfen ist. Eine Ahndung von diesbezüglichen Verstößen in der Praxis kommt primär über das AGG, bei entsprechender lauterkeitsrechtlicher Relevanz auch über das UWG in Betracht . Im Zuge des zunehmenden Aufkommens vollkommen individualisierter Preise und deren Regulierung werden die Auswirkungen auf geschlechtsspezifische Preisdifferenzierungen zu beobachten sein. * * *