© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 127/20 Marktmacht und Kontrahierungszwang Wettbewerbs- und zivilrechtliche Implikationen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 2 Marktmacht und Kontrahierungszwang Wettbewerbs- und zivilrechtliche Implikationen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 127/20 Abschluss der Arbeit: 20. November 2020 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Wann sind Unternehmen marktbeherrschend oder haben relative oder überlegene Marktmacht im Sinne des Wettbewerbsrechts? 4 1.1. Marktbeherrschende Stellung 4 1.1.1. Marktstruktur 5 1.1.2. Unternehmenseigenschaften 6 1.1.3. Marktverhalten 6 1.2. Relative oder überlegene Marktmacht 7 2. Kann eine entsprechende Marktstellung den zivilrechtlichen Handlungsspielraum der betreffenden Anbieter gegenüber Dritten einschränken? 7 2.1. Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung 7 2.1.1. Ausbeutungsmissbrauch 8 2.1.2. Behinderungsmissbrauch 9 2.1.3. Marktstrukturmissbrauch 9 2.2. Mögliche Auswirkungen auf individuelle Vertragsbeziehungen 10 2.2.1. Nichtigkeit 10 2.2.2. Unterlassung/Beseitigung und Schadensersatz 11 2.2.3. Kontrahierungszwang 11 3. Unter welchen Voraussetzungen kann ein wettbewerbsunabhängiger zivilrechtlicher Kontrahierungszwang bestehen? 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 4 1. Wann sind Unternehmen marktbeherrschend oder haben relative oder überlegene Marktmacht im Sinne des Wettbewerbsrechts? 1.1. Marktbeherrschende Stellung Der Begriff der Marktbeherrschung ist in § 18 Absatz 1 GWB1 legal definiert. Danach ist ein Unternehmen marktbeherrschend, soweit es als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt ohne Wettbewerber ist, keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern überragende Marktstellung hat. Die „Marktbeherrschung ist weder eine feststehende Eigenschaft eines Unternehmens noch ein absoluter rechtlicher Begriff. Sie besteht immer nur im Hinblick auf gewisse Funktionen, Märkte, Vorschriften usw.“2 Zur Bestimmung der Marktbeherrschung bedarf es daher einer einzelfallabhängigen , wettbewerbsorientierten Wertung. Meist ergibt sich die marktbeherrschende Stellung „aus dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die jeweils für sich genommen nicht ausschlaggebend sein müssen.“3 Nach allgemeiner Ansicht wird die Marktbeherrschung in einem Doppelschritt ermittelt.4 Zuerst wird der relevante Markt festgestellt. Der relevante Markt ist in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht abzugrenzen.5 Der sachlich relevante Markt ist aufgrund der funktionellen Austauschbarkeit des Produkts des marktbeherrschenden Unternehmens mit anderen Produkten festzulegen.6 Der räumlich relevante Markt ist anhand der räumlich gegebenen Austauschmöglichkeiten aus der Sicht der Abnehmer abzugrenzen.7 Auf dem so ermittelten Markt wird im zweiten Schritt der Beherrschungsgrad des Unternehmens festgestellt.8 Für den Beherrschungsgrad sind drei Indikatoren maßgeblich: Marktstruktur, Unternehmenseigenschaften und Marktverhalten. Die wesentliche Bedeutung kommt der Marktstruktur zu. Die Unternehmenseigenschaften sind wichtig, wenn die Marktstruktur kein eindeutiges Bild liefert. Das Marktverhalten des fraglichen Unternehmens hat die geringste Bedeutung für die 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 8 des Gesetzes vom 25. Juni 2020 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist. 2 Bardong, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 1, 13. Auflage 2018, § 18 GWB Rn. 4. 3 EuGH, Urteil vom 14.02.1978, Rechtssache 27/76, Rn. 66. 4 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 18 GWB Rn. 24. 5 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 18 GWB Rn. 24. 6 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 18 GWB Rn. 24. 7 Bardong, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 1, 13. Auflage 2018, § 18 GWB Rn. 44. 8 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 18 GWB Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 5 Feststellung der Marktbeherrschung und dient in erster Linie der Absicherung der anhand anderer Indikatoren getroffenen Feststellungen.9 1.1.1. Marktstruktur Die Marktstruktur des relevanten Marktes ist die im Markt bestehende Wettbewerbssituation. Die Wettbewerbssituation wird hauptsächlich durch die Zahl der Wettbewerber und die Höhe der Marktanteile bestimmt.10 Eine Monopolstellung bzw. ein Quasi-Monopol verleihen dem Unternehmen bereits faktisch eine marktbeherrschende Stellung. Umgekehrt kann eine starke Präsenz der Wettbewerber auf dem relevanten Markt den Verhaltensspielraum des Unternehmens kontrollieren . Bei der Wettbewerbssituation auf dem relevanten Markt sind die Marktzutrittsschwellen für potentielle Wettbewerber zu berücksichtigen. Diese können tatsächlicher und rechtlicher Natur sein. So können die ggf. vorhandenen Marktzutrittsschranken für das Auftreten neuer Wettbewerber das auf dem Markt bereits präsente Unternehmen stärken.11 Marktanteile sind der wichtigste Indikator für die marktbeherrschende Stellung.12 Ein Marktanteil von 70 % bis 80 % spricht regelmäßig für die Marktbeherrschung des Unternehmens.13 Marktanteile über 50 % lassen der Rechtsprechung zufolge die Vermutung zu, dass eine beherrschende Stellung vorliegt.14 Bei Marktanteilen zwischen 30 % und 40 % kann sich eine beherrschende Stellung aus der fehlenden Macht und der Anzahl der Wettbewerber ergeben.15 Die Marktanteile sind (wie alle anderen Kriterien) in ihrem Gesamtzusammenhang und in Wechselwirkung mit anderen Kriterien einzelfallabhängig zu beurteilen.16 Die Marktstruktur in Bezug auf das fragliche Unternehmen wird ferner durch die Marktgegenseite beeinflusst. So kann eine starke Position der Marktgegenseite den Verhaltensspielraum des Unternehmens auf dem relevanten Markt einschränken.17 9 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 86. 10 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 45. 11 Bulst a.a.O. Rn. 58. 12 Bulst a.a.O. Rn. 49. 13 Bulst a.a.O. Rn. 54. 14 Bulst a.a.O. Rn. 54. 15 Bulst a.a.O. Rn. 56. 16 Bulst a.a.O. Rn. 44. 17 Bardong, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 1, 13. Auflage 2018, § 18 GWB Rn. 67, 150. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 6 1.1.2. Unternehmenseigenschaften Die Eigenschaften eines Unternehmens können ebenfalls dessen marktbeherrschende Stellung begründen, indem sie ihm ein wettbewerbsunabhängiges Verhalten oder gar Verhinderung des Restwettbewerbs ermöglichen. Besonders hervorzuheben sind hier folgende Kriterien: – Der technologische Vorsprung des Unternehmens. Darunter sind solche Fertigkeiten, technische Verfahren, Know-How, Erfahrung eines Unternehmens zu verstehen, die diesem einen Effizienzvorteil auf dem relevanten Markt gegenüber den Konkurrenten verschaffen.18 – Der kommerzielle Vorsprung im Handelsbereich, meist aufgrund eines gut ausgebauten Vertriebsnetzes oder einer gut eingeführten Marke.19 Der kommerzielle Vorsprung verhilft dem Unternehmen, seine „Marktstellung zu festigen und auszubauen und sich gegen die Konkurrenz zu behaupten“20. – Der vertikale Integrationsgrad des Unternehmens. So kann ein erleichterter Zugang zu Rohstoffen oder anderen erforderlichen Vorleistungen dem Unternehmen eine gegenüber anderen Wettbewerbern vorteilhafte Marktstellung sichern.21 – Die Wirtschafts- und Finanzkraft des Unternehmens, die es dem Unternehmen ermöglichen kann, sich dem Wettbewerb nennenswert zu entziehen.22 1.1.3. Marktverhalten Hervorzuheben ist in diesem Kontext die etwaige Fähigkeit des Unternehmens, eine unabhängige Preispolitik zu führen. Auch hier ist zu prüfen, ob der Verhaltensspielraum des Unternehmens vom Wettbewerb kontrolliert wird. Für die unabhängige Preispolitik spielen insbesondere die Preisführerschaft, d.h. das Vorgeben des Preises, und die Kontrolle des Marktzutritts für die sog. Newcomer die entscheidende Rolle.23 Die Kriterien für das Feststellen einer marktbeherrschenden Stellung sind nicht abschließend, ihre Bewertung ist einzelfallabhängig. Der deutsche Gesetzgeber nennt in § 18 Absatz 3 GWB ausdrücklich weitere Kriterien wie Verflechtungen mit anderen Unternehmen, die Fähigkeit, sein 18 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 103. 19 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 104. 20 EuGH, Urteil vom 09.11.1983, Rechtssache 322/81, Rn. 58. 21 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 105. 22 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 107. 23 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 7 Angebot oder seine Nachfrage auf andere Waren oder gewerbliche Leistungen umzustellen, sowie die Möglichkeit der Marktgegenseite, auf andere Unternehmen auszuweichen. 1.2. Relative oder überlegene Marktmacht § 20 Absatz 1 GWB erstreckt das nach § 19 GWB für marktbeherrschende Unternehmen geltende Verbot der unbilligen Behinderung und sachlich nicht gerechtfertigten ungleichen Behandlung gleichartiger anderer Unternehmen auf Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen mit relativer Marktmacht, soweit von ihnen kleine und mittlere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen.24 Relative Marktmacht ist dadurch gekennzeichnet , dass „hier nicht, wie bei der Marktbeherrschung, auf das generelle (‚absolute‘) Machtverhältnis gegenüber allen aktuellen oder potentiellen Geschäftspartnern und Wettbewerbern auf dem betreffenden Markt abgestellt wird, sondern auf die bilaterale Beziehung zu einzelnen Anbietern oder Nachfragern. Diese subjektiv-individualisierende Sicht der Relativität der Machtstellung wird jedoch in dem Maße tendenziell zu einer objektiv-generalisierenden, in dem das bilaterale Machtverhältnis schon an der generellen Marktbedeutung des marktmächtigen Unternehmens oder Unternehmensvereinigung und der typischen Situation aller oder der Mehrzahl der gegenüber stehenden Nachfrager oder Anbieter gemessen wird. Unter dieser, vor allem durch die Rechtsprechung zur sortimentsbedingten Abhängigkeit untermauerten Voraussetzung (…) ist die Marktmacht der Normadressaten des Abs. 1 S. 1 auch in dem Sinne relativ, dass es sich um eine gegenüber der ‚absoluten‘ Macht marktbeherrschender Unternehmen graduell geringere generelle Marktmacht handelt.“25 2. Kann eine entsprechende Marktstellung den zivilrechtlichen Handlungsspielraum der betreffenden Anbieter gegenüber Dritten einschränken? 2.1. Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung Das Innehaben einer marktbeherrschenden Stellung ist nicht per se verboten. Auch das Ausnutzen der Marktbeherrschung ist grundsätzlich erlaubt.26 Die Ausnutzung darf sich nur nicht als missbräuchlich erweisen. Wann die Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung missbräuchlich ist, ist nicht legal definiert. Auch hier bedarf es der Auslegung zur Ermittlung des Inhalts und der Tragweite des Begriffs.27 Im Vordergrund der Auslegung stehen der Schutz des (Rest-)Wettbewerbs sowie der Verbraucherschutz.28 Folglich sollen alle Verhaltensweisen unter Ausnutzung der Marktbeherrschung, die diesem Schutz widersprechen, verboten werden. Den- 24 Markert, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 20 GWB Rn. 1. 25 Markert, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 20 GWB Rn. 6. 26 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 82. 27 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 82. 28 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 128 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 8 noch kann der Missbrauchsbegriff im Gegensatz zum Begriff der Marktbeherrschung kaum abschließend definiert werden.29 Eine heute allgemein gebräuchliche Definition des Missbrauchsbegriffs kann der wiederholten Rechtsprechung des EuGH entnommen werden: Danach versteht man unter missbräuchlicher Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung „die Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung, die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindern, welche von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen.“30 Diese Definition des Missbrauchs der Marktbeherrschung lässt sich durch drei Missbrauchsformen konkretisieren: Ausbeutungs-, Behinderungs- und Marktstrukturmissbrauch. Die Missbrauchsformen umfassen den nicht abschließenden Beispielskatalog der Missbrauchsfälle des Artikel 102 Absatz 2 AEUV31 sowie des § 19 Absatz 2 GWB und helfen, den Missbrauchsbegriff zu konkretisieren. 2.1.1. Ausbeutungsmissbrauch Unter Ausbeutungsmissbrauch lassen sich die Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens zusammenfassen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich das Unternehmen auf Kosten der Marktgegenseite geschäftliche Vorteile verschafft.32 Die Kriterien für den Missbrauch sind hier solche wie Setzung von unangemessenen Preisen oder Erzwingung von unangemessenen Geschäftsbedingungen. Ein solches „missbräuchliches Ausnutzen“ einer marktbeherrschenden Stellung in der Form des Konditionenmissbrauchs liegt etwa vor, wenn die vom Unternehmen geforderten Geschäftsbedingungen zuungunsten des Verbrauchers von denjenigen abweichen , „die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würden“ (§ 19 Absatz 2 Nr. 2 GWB), oder die „das marktbeherrschende Unternehmen selbst auf vergleichbaren Märkten von gleichartigen Abnehmern fordert, es sei denn, dass der Unterschied sachlich gerechtfertigt ist“ (§ 19 Absatz 2 Nr. 3 GWB).33 Es ist also der Vergleich mit einem hypothetischen oder tatsächlichen Markt anzustellen.34 Sind dort die in Frage stehenden Geschäftsbedingungen 29 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 88. 30 EuGH, Urteil vom 13.02.1979, Rechtssache 85/76, Rn. 91. 31 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung der Bekanntmachung vom 09.05.2008, ABl. C 115 S. 47, ABl. 2010 C 83 S. 47, ABl. 2012 C 326 S. 47, ABl. 2016 C 202 S. 47, ber. ABl. C 400 S. 1, Celex- Nr. 1 1957 E, zuletzt geändert durch Art. 2 ÄndBeschl. 2012/419/EU vom 11.7.2012 (ABl. L 204 S. 131). 32 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 92. 33 Artikel 102 Satz 2 Buchstabe a AEUV spricht von der „Erzwingung von unangemessenen (…) Geschäftsbedingungen “. 34 Vgl. Loewenheim, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 69-74. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 9 nicht durchsetzbar, dann ist davon auszugehen, dass das Unternehmen seine marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausgenutzt hat. Dabei dürfen die einzelnen Vertragsbestandteile allerdings nicht isoliert betrachtet werden, vielmehr ist eine Gesamtschau erforderlich: Einzelne ungünstige Konditionen können durch andere Konditionen oder die Preisgestaltung kompensiert werden.35 Ferner wird den Unsicherheiten, welche das Vergleichsmarktkonzept mit sich bringt, durch einen Sicherheitszuschlag zugunsten des marktbeherrschenden Unternehmens Rechnung getragen. Die bei der Betrachtung mit dem Vergleichsmarkt festgestellte Abweichung muss also eine gewisse Erheblichkeit aufweisen.36 Die Frage, ob die in Frage stehenden Geschäftsbedingungen als solche rechtswidrig sind, weil sie z.B. gegen gesetzliche Bestimmungen des Verbraucher- oder Datenschutzes verstoßen, ist bei der Vergleichsmarktbetrachtung dagegen nicht unmittelbar von Bedeutung. Weder ist die Rechtswidrigkeit der Geschäftsbedingungen Voraussetzung für einen Konditionenmissbrauch nach § 19 Absatz 2 Nr. 3 und Nr. 4 GWB noch vermag umgekehrt die Rechtswidrigkeit der Geschäftsbedingungen allein die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass sich auf einem Vergleichsmarkt mit wirksamem Wettbewerb für den Verbraucher günstigere Geschäftsbedingungen ergeben würden. Worauf es in erster Linie ankommt, ist die Betrachtung des Vergleichsmarktes. Dabei mag der Rechtswidrigkeit allerdings eine gewisse Indizwirkung zukommen. So könnte argumentiert werden, dass es unwahrscheinlich ist, dass sich Verbraucher unter funktionierenden Wettbewerbsbedingungen auf (zu ihrem Nachteil) rechtwidrige Geschäftsbedingungen einlassen. 2.1.2. Behinderungsmissbrauch Der Behinderungsmissbrauch umfasst solche Marktverhaltensweisen, die den Wettbewerb schwächen.37 Die Verhaltensweisen richten sich direkt oder mittelbar gegen die Wettbewerber auf dem beherrschten oder benachbarten Markt – so wird der Wettbewerb etwa durch Diskriminierung von Handelspartnern, Abschluss von Kopplungsgeschäften und missbräuchliche Gewährung von Rabatten beschränkt.38 Ferner kann der Wettbewerb durch Beschränkung der eigenen Produktion und Versperrung des Zugangs zu Absatzmärkten beeinträchtigt werden. 2.1.3. Marktstrukturmissbrauch Der Begriff des Marktstrukturmissbrauchs umfasst alle Verhaltensweisen, bei denen durch eine Fusion oder Akquisition eine beherrschende Stellung verstärkt und der Restwettbewerb auf dem 35 Loewenheim, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 68. 36 Loewenheim, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 74. 37 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 93. 38 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 93. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 10 relevanten Markt weiter behindert oder ausgeschlossen wird.39 Ferner wird die marktbeherrschende Stellung missbraucht, wenn das Unternehmen auf dem Markt die technische oder wirtschaftliche Entwicklung zu Lasten der Verbraucher verhindert.40 2.2. Mögliche Auswirkungen auf individuelle Vertragsbeziehungen Ein Verstoß gegen die §§ 18 – 20 GWB kann zum einen öffentlich-rechtliche Rechtsfolgen zeitigen : So kann die Kartellbehörde mittels einer Abstellungsverfügung Unternehmen verpflichten, die Zuwiderhandlung abzustellen und hierbei auch eine Rückerstattung der aus dem kartellrechtswidrigen Verhalten erwirtschafteten Vorteile anordnen (§ 32 GWB). Wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstöße gegen § 20 Absatz 1 bis Absatz 3 Satz 1 oder Absatz 5 GWB kann zudem ein Ordnungswidrigkeitenverfahren nach § 81 Absatz 2 Nr. 1 GWB eingeleitet werden. Daneben sind aber auch zivilrechtliche Auswirkungen möglich: Neben der Nichtigkeit gemäß § 134 BGB41 kommen Ansprüche auf Unterlassung, Beseitigung und Schadensersatz sowie eine Einschränkung der Privatautonomie in Gestalt eines Kontrahierungszwangs in Betracht (§§ 33, 33a GWB).42 2.2.1. Nichtigkeit Gemäß § 134 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. Die §§ 19 und 20 GWB sind grundsätzlich Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB.43 Verstößt mithin ein Rechtsgeschäft gegen die §§ 19 oder 20 GWB, kann sich hieraus im Einzelfall seine Nichtigkeit ergeben.44 Verstößt etwa die Beendigung eines Vertrags durch Kündigung oder die Ausschließung eines Mitglieds aus einer Vereinigung gegen § 20 Absatz 1 in Verbindung mit § 19 Absätze 1 und 2 GWB, ist die darauf gerichtete Erklärung nichtig mit der Folge, dass im ersteren Fall das Vertragsverhältnis und im zweiten Fall die Mitgliedschaft fortbesteht.45 39 Bulst, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 2, 13. Auflage 2018, Art. 102 AEUV Rn. 94. 40 Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 102 AEUV Rn. 391. 41 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 16. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2187) geändert worden ist. 42 Vgl. Markert, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 20 GWB Rn. 118 ff.; Lübbert /Schöner, in: Wiedemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 25 Rn. 1 ff. 43 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 385; Markert, in: Immenga /Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 20 GWB Rn. 118. 44 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 385; Markert, in: Immenga /Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 20 GWB Rn. 118. 45 Lübbert/Schöner, in: Wiedemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 25 Rn. 2 sowie detailliert für die einzelnen Missbrauchskonstellationen Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 385 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 11 2.2.2. Unterlassung/Beseitigung und Schadensersatz Jeder „Betroffene“ kann „bei allen Kartellrechtsverstößen auch ohne Verschulden des Täters Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr Unterlassung verlangen (§ 33 Abs. 1 S. 1). Betroffen ist nach § 33 Abs. 3, wer als Mitbewerber oder sonstiger Marktbeteiligter durch den Verstoß beeinträchtigt ist. Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche nach § 33 Abs. 1 S. 1 können auch durch bestimmte Wirtschafts- und Verbraucherverbände geltend gemacht werden (§ 33 Abs. 4). Bei einem vorsätzlichen oder fahrlässigen Kartellrechtsverstoß gewährt § 33a Abs. 1 einen Schadensersatzanspruch . Der Kreis der potentiell Anspruchsberechtigten ist denkbar weit zu ziehen. Er umfasst nicht nur die unmittelbar durch das missbräuchliche Verhalten Geschädigten, also zB beim Behinderungsmissbrauch nach Abs. 2 Nr. 1 die von Verdrängungspraktiken betroffenen Wettbewerber des Marktbeherrschers und bei Ausbeutungs- und Strukturmissbräuchen nach Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 Unternehmen auf der Marktgegenseite. Darüber hinaus erstreckt [er]46 sich auch auf nur mittelbar Betroffene. (…) Daher können etwa Schadensersatzansprüche wegen missbräuchlicher Preisüberhöhungen auch von indirekten Abnehmern der davon betroffenen Produkte auf nachfolgenden Marktstufen geltend gemacht werden, sofern der unmittelbare Abnehmer die überhöhten Preise auf sie abgewälzt hat. Nach § 33c Abs. 2 wird dem Grunde nach zugunsten eines mittelbaren Abnehmers widerleglich vermutet, dass der Preisaufschlag auf ihn abgewälzt wurde. Neben dem Preisüberhöhungsschaden ist auch ein entgangener Gewinn, der aus dem Mengeneffekt resultiert (geringere Absatzmenge wegen des höheren Preises), nach § 252 BGB ersatzfähig .“47 Bezugspunkt für die Stellung als „Betroffener“ gemäß § 33 Absatz 3 GWB ist stets eine Beeinträchtigung wirtschaftlicher Interessen.48 Anspruchsberechtigt als Betroffener kann nur sein, wer in seiner Rolle als Marktbeteiligter, insbesondere als Mitbewerber, in marktvermittelter Weise beeinträchtigt wird.49 2.2.3. Kontrahierungszwang Im Falle von Vertragsverweigerungen oder anderen diskriminierenden Verhaltensweisen kann sich aus den §§ 18 ff. GWB bzw. Artikel 102 AEUV in Verbindung mit § 33 GWB im Einzelfall auch ein Kontrahierungszwang ergeben:50 „Der wirtschaftspolitische Kontrahierungszwang erfasst Sachverhalte, bei denen der Normadressat zur Umsetzung wirtschaftspolitischer Lenkungsziele in die Pflicht genommen wird. Hauptanwendungsfall ist die Kontrolle des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen durch das Kartellrecht. Im Falle von Vertragsverweigerungen (Belieferungssperren) oder anderen diskriminierenden Verhaltensweisen kann sich ein Kontrahierungszwang insoweit aus der Anwendung von §§ 18 ff. GWB bzw. Art. 102 AEUV iVm § 33 46 Redaktionelle Ergänzung durch den Verfasser eingefügt. 47 Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 19 GWB Rn. 394 f. (die zitierten Paragraphen sind solche des GWB). 48 Franck, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 33 GWB Rn. 15. 49 Franck, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 33 GWB Rn. 20. 50 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, Vorbemerkung (Vor § 145) Rn. 18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 12 GWB ergeben.“51 Voraussetzung für einen entsprechenden Kontrahierungszwang ist jedoch, dass „sich das Ermessen des Normadressaten zur Beseitigung der Diskriminierung bzw. Behinderung dahin verdichtet, dass wirtschaftlich vernünftigerweise nur die Kontrahierung bzw. die verlangte Leistung die Ungleichbehandlung bzw. Behinderung ausräumt. Es ist insoweit eine Leistungsklage auf Abschluss eines Vertrages erforderlich, d. h. auf Annahme eines im Antrag konkretisierten und dem Bestimmtheitsgebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO genügenden Angebots, oder auf Lieferung bestimmter Waren Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises. Das gilt auch im einstweiligen Verfügungsverfahren.“52 3. Unter welchen Voraussetzungen kann ein wettbewerbsunabhängiger zivilrechtlicher Kontrahierungszwang bestehen? Liegen die o.g. Voraussetzungen eines wettbewerbsrechtlichen, wirtschaftspolitisch motivierten Kontrahierungszwangs nicht vor, kann sich ein solcher je nach Konstellation des Einzelfalls auch aus spezialgesetzlichen Regelungen53 oder allgemeinem Zivilrecht ergeben.54 So kann sich ein Anspruch auf Abschluss eines Vertrages aus § 826 BGB ergeben, „wenn der Abschluss des Vertrages unter Berücksichtigung aller Umstände sowie der Wertentscheidungen der Verfassung unabweislich erforderlich ist und ein Ausbleiben sittenwidrig wäre. Maßgebend ist eine Gesamtabwägung im Einzelfall (…). Hierbei kann der grds. Anspruch auf Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung ein starkes Indiz für einen Abschlusszwang sein (…).“55 Spiegelbildlich zu einem Kontrahierungszwang kann dann unter Umständen auch die Kündigung eines bestehenden Vertrages – etwa eines Zahlungsdiensterahmenvertrags gemäß § 675f BGB56 – unzulässig sein.57 So hat sich die Rechtsprechung mit Fällen von wegen der politischen Ausrichtung bzw. Betätigung des Vertragspartners erfolgten Kündigungen von Bankkonten befasst und herbei zwischen Banken und Sparkassen differenziert: „Für besondere Furore hat in der Vergangenheit auch die Kündigung von Konten einer politischen Partei mit (vermeintlich) verfassungsfeindlichen Zielen gesorgt. Der Bundesgerichtshof hat es privaten Banken gleichwohl nicht verwehrt, derartige Kontoverbindungen mit Blick auf einen möglichen Imageschaden ordentlich zu kündigen. Allerdings kann das Diskriminie- 51 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, Vorbemerkung (Vor § 145) Rn. 18. 52 Lübbert/Schöner, in: Wiedemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 25 Rn. 5. 53 Vgl. Eckert, in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, 55. Edition, Stand: 01.08.2020, BGB § 145 Rn. 14 sowie Palandt/Ellenberger , BGB, 79. Auflage 2019, Einf. v. § 145, Rn. 8 m.w.N. zu entsprechenden Regelungen insbesondere aus dem Bereich der Daseinsvorsorge. 54 Palandt/Ellenberger, BGB, 79. Auflage 2019, Einf. v. § 145, Rn. 8 ff. 55 Eckert, in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, 55. Edition, Stand: 01.08.2020, BGB § 145 Rn. 18. 56 Diese Vertragsart kann gegebenenfalls auch für die Inanspruchnahme von Online-Zahlungsdienstleistern einschlägig sein, vgl. Harman, Neue Instrumente des Zahlungsverkehrs: PayPal & Co., BKR 2018, 457, 462; Casper, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 675f BGB Rn. 144. 57 Vgl. hierzu Casper, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 675h BGB Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 13 rungsverbot in § 19 AGG bzw. eine auf § 242 zu stützende Ausübungskontrolle die Kündigung im Einzelfall unwirksam machen. Erfolgt die Kündigung beispielsweise allein aufgrund der religiösen Überzeugung, des Geschlechts oder einer der anderen in § 19 AGG genannten Gründe, ist die Kündigung unwirksam. Dies setzt allerdings voraus, dass es sich bei der Geschäftsbeziehung zum Kunden um ein ‚Massengeschäft‘ iSd § 19 Abs. 1 AGG handelt, was häufig wegen der individuellen Bonitätsprüfung nicht der Fall sein wird. Strengere Maßstäbe legt die Rechtsprechung bei Kündigungen von vermeintlich verfassungswidrigen Parteikonten durch Sparkassen wegen ihres öffentlich-rechtlichen Charakters an. Entsprechendes galt nach der Ansicht des BGH früher auch für die Postbank wegen ihrer damaligen öffentlichrechtlichen Gesellschafterstruktur. Die Begründung für die Kündigungsbeschränkung ist aber auch hier nicht in einem Kontrahierungszwang zu suchen, sondern vielmehr in dem durch die unmittelbare Bindung der Sparkasse an Art. 3 Abs. 1 GG begründeten Willkürverbot, welches für die Kündigung das Vorhandensein eines sachgerechten Grunds erfordert, der inzwischen auch in Nr. 26 Abs. 1 S. 1 AGB-Sparkassen als Kündigungsvoraussetzung aufgenommen wurde. Ein solcher sachgerechter Grund kann mit Blick auf das Parteienprivileg in Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG nicht in der mutmaßlichen Verfassungsfeindlichkeit der Kontoinhaberin liegen, denn eine solche kann bis zu einer Entscheidung durch das BVerfG nicht geltend gemacht werden.“58 Banken unterliegen mithin, was den Abschluss eines Girovertrags und die Kontoeröffnung angeht , keinem allgemeinen Kontrahierungszwang.59 Bezüglich Verbrauchern kann sich ein begrenzter Kontrahierungszwang allerdings aus dem Zahlungskontengesetz (ZKG)60 ergeben: „Das am 18.6.2016 in Kraft getretene Zahlungskontengesetz (ZKG) statuiert in § 31 Abs. 1 ZKG für Verbraucher, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten (…), einen Anspruch auf Einrichtung eines Basiskontos (§ 30 Abs. 2 ZKG, § 38 Abs. 2 ZKG) gegen solche Institute, die Zahlungskonten für Verbraucher anbieten. Der deutsche Gesetzgeber hat in überschießender Umsetzung von Art. 16 Abs. 1 RL 2014/92/EU einen Kontrahierungszwang für die gesamte private Kreditwirtschaft eingeführt. … Der Abschluss des Basiskontovertrages bedarf eines Angebots und einer Annahme der Bank, zu der die Bank verpflichtet ist, sofern die Voraussetzungen des ZKG vorliegen. §§ 145 ff. sind also nicht vollständig außer Kraft gesetzt. Soweit nicht ausnahmsweise das Angebot auf Abschluss eines Basiskontovertrages von der Bank ausgeht , wird dieses regelmäßig in dem Antrag auf Einrichtung eines Basiskontos (§ 31 Abs. 1 S. 1 ZKG, § 33 ZKG) liegen. Dass die §§ 145 ff. im Grundsatz fortgelten, zeigt sich auch in den Sanktionsmöglichkeiten des Kunden für den Fall, dass die Bank seinen Antrag ablehnt oder binnen zehn Geschäftstagen nicht bescheidet. Der abgewiesene Kunde kann sich an die BaFin wenden, die dann aufsichtsrechtlich tätig wird (§ 48 Abs. 1 ZKG), oder die Bank im Wege der zivilrechtlichen Leistungsklage auf Einrichtung des Kontos verklagen (vgl. § 51 ZKG) oder 58 Casper, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 675h BGB Rn. 14 m.w.N. 59 Wessels, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch, 4. Auflage 2020, A. Bank- und Börsenrecht I Rn. 212; Bunte, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 2 Rn. 20. 60 Zahlungskontengesetz vom 11. April 2016 (BGBl. I S. 720), das zuletzt durch Artikel 14 Absatz 5 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2446) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 127/20 Seite 14 sich an die nach § 14 Abs. 1 UKlaG zuständige Verbraucherschlichtungsstelle wenden, worauf die Bank ihn hinzuweisen hat.“61 Das Basiskonto stellt ein Zahlungskonto mit nur grundlegendem Funktionsumfang dar (§ 38 Absatz 2 ZKG). Es ist gemäß § 38 Absatz 4 ZKG, § 40 ZKG „diskriminierungsfrei zu führen, was zB die Verweigerung eines Onlinezugangs ausschließt, sofern dieser auch regulären Kunden angeboten wird.“62 Die §§ 36 – 38 ZKG enthalten, den Kontrahierungszwang einschränkend, abschließend Versagungsgründe, aufgrund welcher das Kreditinstitut berechtigt ist, den Antrag auf Abschluss eines Basiskontos abzulehnen.63 * * * 61 Casper, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 675f BGB Rn. 25. 62 Casper, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 675f BGB Rn. 26. 63 Casper, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 675f BGB Rn. 27.