© 2016 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 121/16 Die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe in § 362 StPO um neue Untersuchungsmethoden Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 2 Die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe in § 362 StPO um neue Untersuchungsmethoden Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 121/16 Abschluss der Arbeit: 16. August 2016 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Derzeitige Gesetzeslage 5 3. Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 3 GG: Spannungsfeld Rechtssicherheit – Gerechtigkeit 7 3.1. Unerträglichkeit „falscher“ Freisprüche/Materielle Gerechtigkeit 10 3.2. DNA-Untersuchung als „neu auftauchender Gesichtspunkt“ 11 3.3. Ergebnis zu 3 12 4. Vereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG und mit dem allgemeinen Rückwirkungsverbot 12 4.1. Vereinbarkeit mit dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 2 GG 12 4.2. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Rückwirkungsverbot 12 5. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 GG 13 6. Anwendung der neuen Untersuchungsmethoden auf neue Beweismittel 14 7. Vereinbarkeit mit Art.4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK 15 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 4 1. Einleitung Diesem Sachstand liegen Fragen zur Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des Verurteilten bzw. Freigesprochenen zugrunde. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist in § 362 Strafprozessordnung (StPO)1 geregelt; dort sind die Wiederaufnahmegründe abschließend aufgelistet . Geklärt werden soll, ob § 362 StPO um einen weiteren Wiederaufnahmegrund ergänzt werden könnte. Dabei geht es um zwei Fragen: Erstens soll geklärt werden, ob der Gesetzgeber eine Wiederaufnahme für die Fälle ermöglichen könnte, wenn eine erneute Untersuchung eines in dem vorangegangen Strafverfahren eingeführten Beweismittels durch eine neue, zum Zeitpunkt des Freispruchs nicht mögliche bzw. noch nicht bestehende Untersuchungsmethode (etwa DNA-Untersuchung) ergibt, dass sich der Angeklagte doch strafbar gemacht hat. Dabei solle die Wiederaufnahme nur für schwere Fälle, nämlich für die unverjährbaren Delikte Mord oder Völkermord zugelassen werden. Gemäß der Anfrage soll untersucht werden, ob eine solche Regelung mit folgenden Grundsätzen vereinbar wäre: o mit Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)2, o mit dem Grundgesetz (GG)3, insbesondere mit dem Rückwirkungsverbot in Art. 103 Abs. 2 GG und der dazu ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Januar 19814, und mit dem Grundsatz ne bis in idem in Art. 103 Abs. 3 GG Zweitens soll untersucht werden, ob eine Ergänzung des § 362 StPO im Sinne der Frage 1 verfassungsgemäß wäre, die die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens ermöglicht , wenn die neue Untersuchungsmethode an Beweismitteln durchgeführt wird, die nicht Gegenstand des Strafverfahrens waren (Beispiel: die Tatwaffe wird nach dem Freispruch gefunden, und es finden sich DNA-Spuren an ihr, die den Täter überführen). 1 Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7.4.1987 (BGBl. I S. 1074, ber. S. 1319), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8.7.2016 (BGBl. I S. 1610); abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht /stpo/gesamt.pdf [letzter Abruf: 15. August 2016]. 2 Eine konsolidierte Fassung des 7. Zusatzprotokolls der EMRK ist abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/Geltende Fassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000970&ShowPrintPreview=True [letzter Abruf : 15. August 2016]. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2438); abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf [letzter Abruf: 15. August 2016]. 4 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22. Der Beschluss ist auch bei juris abrufbar. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 5 Die in den Fragen dargestellten Überlegungen waren bereits Gegenstand eines im Dezember 2007 vom Bundesrat beschlossenen Gesetzentwurfes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts .5 Auch dieser Entwurf sah vor, die restriktiven Wiederaufnahmemöglichkeiten zu Ungunsten des freigesprochenen Angeklagten zu ergänzen. Diese Wiederaufnahme sollte dann möglich sein, wenn Erkenntnisse, die zum Zeitpunkt des Freispruchs wegen fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisstandes noch nicht berücksichtigt werden konnten, nunmehr durch neue technische Ermittlungsmethoden, darunter insbesondere DNA-Analysen, zur Überführung des (freigesprochenen ) Täters führen könnten. Auch nach dem damaligen Gesetzentwurf sollte die Wiederaufnahme nur für besonders schwerwiegende Delikte, nämlich Mord, der mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Tötungsverbrechen des Völkerstrafgesetzbuchs oder einer mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Anstiftung zu diesen Straftaten, beschränkt bleiben. Der Bundestag überwies den Gesetzentwurf in der ersten Beratung im September 2008 an den federführenden Rechtsausschuss und den Innenausschuss.6 Im März 2009 erfolgte eine Sachverständigenanhörung zu dem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss. Der Gesetzentwurf hat sich durch den Ablauf der Legislaturperiode erledigt. Der Petitionsausschuss hat sich im Juni 2011 ebenfalls mit der Thematik beschäftigt. Allerdings ging es bei der Petition nicht darum, die Wiederaufnahmegründe im Hinblick auf neue Untersuchungsmethoden zu ergänzen. Vielmehr ging es um eine Forderung nach einer Änderung des Strafrechts dahingehend, dass auch nach einem rechtskräftigen Freispruch ein Täter erneut unter Anklage gestellt werden könne, wenn eine neue Beweislage vorliege, beraten und sodann beschlossen , die Petition der Bundesregierung als Material zu überweisen sowie den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben und das Petitionsverfahren im Übrigen abzuschließen . Die Petition sollte der Bundesregierung überwiesen werden, damit diese die Petition in ihre Überlegungen hinsichtlich einer Gesetzesänderung einbeziehen kann. Beides zeigt, dass die Frage der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe nach wie vor rechtspolitisch diskutiert wird. 2. Derzeitige Gesetzeslage § 362 StPO ermöglicht das Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten derzeit unter begrenzten Voraussetzungen: „§ 362 Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig, 5 Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30. Januar 2008, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957; BR-Drs. 655/07 (B). 6 Deutscher Bundestag, Plenarsitzung vom 25. September 2008, 179. Sitzung, BT-Plenprot. 16/179, S. 19020A, 19023A. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 6 1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war; 2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat; 3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat; 4. wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird.“ Eine Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten ist also nur für Fälle vorgesehen, in denen manipulativ auf das Urteil eingewirkt wurde, oder in denen der Verurteilte selbst nach dem Freispruch zugibt, die Tat doch begangen zu haben. Im Gegensatz hierzu sieht § 359 StPO, der die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten regelt, zusätzlich zu den in § 362 StPO vorgesehen Wiederaufnahmegründen in Nr. 5 auch vor: „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind.“ Der Gesetzgeber unterscheidet also bewusst zwischen Wiederaufnahmen zu Gunsten und andererseits zu Lasten des Verurteilten und eröffnet dem Wiederaufnahmeverfahren zu Gunsten des Verurteilten einen weiteren Anwendungsbereich, für den das Beibringen neuer Tatsachen oder Beweismittel bereits genügt. Der Katalog des § 362 StPO zeichnet sich dadurch aus, dass die in den Nr. 1-3 genannten Gründe schwerwiegende Mängel des Verfahrens betreffen, die auf Straftaten beruhen.7 § 362 Nr. 4 StPO könnte man angesichts des Geständnisses als Wiederaufnahme aufgrund eines neuen Beweismittels verstehen. Dies entspricht aber nicht der Ratio dieser Norm. § 362 Nr. 4 StPO beruht auf dem Gedanken, dass der irrtümlich Freigesprochene sich nicht im Nachhinein seiner Tat unbestraft berühmen können soll, da er den Rechtsfrieden dadurch stört, dass er das Opfer und seine Angehörigen verhöhnt und den Staat lächerlich macht.8 Geklärt werden soll zunächst, inwieweit eine entsprechende Erweiterung der Wiederaufnahmegründe mit dem GG vereinbar wäre (Gliederungspunkte 3 bis 6). Anschließend geht es um die Vereinbarkeit mit Art.4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK (Gliederungspunkt 7). 7 Dazu: Marxen, Klaus, Stellungnahme vom 12. März 2009 zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts (BT-Drucksache 16/7957), S. 4. 8 Vgl. Marxen, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerecht (BT-Drucksache 16/7957) S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 7 3. Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 3 GG: Spannungsfeld Rechtssicherheit – Gerechtigkeit Das Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz „ne bis in idem“ dar, der in Art. 103 Abs. 3 GG verankert ist. Danach darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Art. 103 Abs. 3 GG schützt aber nicht nur vor einer doppelten Bestrafung, sondern auch davor, wegen derselben Tat erneut mit einem weiteren Strafverfahren belastet zu werden. Art. 103 Abs. 3 GG schließt also nicht nur die mehrfache Bestrafung, sondern bereits die erneute Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat aus. Der Grundsatz „ne bis in idem“ war bereits im 19. Jahrhundert , wenn auch nicht gesetzlich verankert, ein Grundsatz des Strafverfahrensrechts.9 Bei Erlass des Grundgesetzes erhielt das Verbot der Doppelbestrafung Verfassungsrang. Dies erfolgte insbesondere unter dem Aspekt, dass zur Zeit des Nationalsozialismus der zuvor maßgebliche Grundsatz „ne bis in idem“ außer Kraft gesetzt wurde und der Freigesprochene bzw. Verurteilte sich nicht auf den Richterspruch verlassen konnte.10 Dass (auf den ersten Blick) entgegen diesem Prinzip in der Strafprozessordnung eine Verfahrenswiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten geregelt ist, stellt keinen Widerspruch hierzu dar. Die in § 362 StPO geregelten Wiederaufnahmegründe waren bereits vor Erlass des Grundgesetzes geltendes Strafprozessrecht, sodass sie als verfassungsimmanente Schranken fortwirken.11 Grundsätzlich räumt das Grundgesetz mit Art. 103 Abs. 3 GG der Rechtssicherheit den höheren Rang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit ein. Dies hat das BVerfG in einer Entscheidung vom Juli 1953 ausdrücklich bestätigt. So führt es im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus: „Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, dass12 um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muss.“13 Im Zusammenhang mit der Aufhebung von Akten der Staatsgewalt wegen des Wandels einer Rechtsauffassung, die das BVerfG für mit dem Gedanken der Rechtssicherheit unverträglich hält, führt es weiter aus: 9 Darauf hat auch der Große Senat des BGH hingewiesen: BGH (GrStrSen.) Beschluss vom 9.12.1953 – GS St 2/53, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1954, 609 (610). 10 Vgl. BGH (GrStrSen.) Beschluss vom 9.12.1953 – GS St 2/53, NJW 1954, 609 (610). 11 Pabst, Simon, Wider die Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten. Eine zu Recht unterbliebene Reform, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 2010, 126 (127) m. w. N.; Singelnstein in: Beck’scher Online-Kommentar StPO mit RiStBV und MiStra, 25. Edition, Stand: 1. Juli 2016. 12 Die Entscheidung ist noch in der alten Rechtsschreibung abgefasst; im Zitat wurde diese aus Gründen der Lesbarkeit den aktuellen Regeln angepasst. 13 BVerfG, Urteil vom 1.7.1953 – 1 BvL 23/51 – BVerfGE 2, 380 (403); juris Rn. 81. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 8 „Eine Ausnahme von dieser Regel könnte nur dann gerechtfertigt sein, wenn besonders zwingende und schwerwiegende, den Erwägungen der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe dazu Anlass geben.“14 Das BVerfG hat sich in seinem Beschluss vom 8. Januar 198115, auf den in der Fragestellung Bezug genommen wird, mit dem Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG im Zusammenhang mit dem materiell-rechtlichen Tatbegriff auseinandergesetzt. Das BVerfG hat daran festgehalten , dass ein erneutes Strafverfahren unzulässig ist, selbst wenn sich im Nachhinein erschwerende Umstände zeigen, die das Gericht nicht berücksichtigen konnte. In diesem Umfang habe sich der Staat um der Rechtssicherheit willen eine freiwillige Begrenzung in seinem Recht auf Verfolgung strafbarer Handlungen auferlegt und damit insoweit auch auf die Durchsetzung des die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung sichernden Legalitätsprinzips verzichtet.16 Dennoch erklärt das BVerfG in dieser Entscheidung (im Hinblick auf die Frage, ob mehrere Gesetzesverletzungen , die materiell-rechtlich in Tateinheit stehen, stets eine einheitliche Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG darstellen), dass Art. 103 Abs. 3 GG zwar Bezug nehme auf die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltende prozessrechtliche Lage. Das überlieferte Verständnis des Rechtssatzes „ne bis in idem“ enthalte aber nicht für jede auftauchende Zweifelsfrage bereits eine verbindliche Auslegung durch die Rechtsprechung und es bedeute „insbesondere nicht, dass für neu auftauchende Gesichtspunkte, die sich der Prozessrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt hatten, eine verfassungsrechtliche Festlegung getroffen worden wäre. […] Art. 103 Abs. 3 GG steht Grenzkorrekturen nicht entgegen […]; er garantiert nur den Kern dessen, was als Inhalt des Satzes „ne bis in idem“ in der Rechtsprechung herausgearbeitet wurde.“17 Diese Öffnung für Grenzkorrekturen des Art. 103 Abs. 3 GG ermöglicht eine Diskussion darüber, ob eine Erweiterung der Gründe für ein Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten bzw. Freigesprochenen mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Es stellt sich mithin die Frage, ob ein neuer Wiederaufnahmegrund, mit dem eine erneute Untersuchung eines in dem vorangegangen Strafverfahren eingeführten Beweismittels durch eine neue, zum Zeitpunkt des Freispruchs nicht mögliche bzw. noch nicht bestehende Untersuchungsmethode (etwa DNA-Untersuchung ) zugelassen wird, lediglich als Grenzkorrektur zu begreifen ist oder nicht doch den Kern des Doppelbestrafungsverbots betrifft. In der Begründung des bereits oben vorgestellten Gesetzesentwurfs von 2007/2008 setzte sich der Bundesrat mit dem Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit auseinander und kam zu dem Schluss, dass das Festhalten an der Rechtskraft der Freisprüche trotz 14 BVerfG, Urteil vom 1.7.1953 – 1 BvL 23/51 – BVerfGE 2, 380 (405); juris Rn. 81. 15 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22. Der Beschluss ist auch bei juris abrufbar. 16 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22; juris Rn. 22. 17 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22; juris Rn. 26; die Entscheidung ist noch in der alten Rechtschreibung abgefasst, im Zitat wurde diese aus Gründen der Lesbarkeit den aktuellen Regeln der Rechtschreibung angepasst. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 9 der später bewiesenen Schuld des Freigesprochenen zu „unerträglichen Ergebnissen“ führe.18 Die Befürworter des Gesetzesentwurfs aus dem Jahr 2008 begründeten ihre Auffassung insbesondere damit, dass es das Gerechtigkeitsempfinden der Öffentlichkeit erschüttere, wenn sich nach dem Freispruch eines wegen eines Tötungsdelikts Angeklagten auf Grund einer (zur Zeit des Freispruchs so noch nicht möglichen) DNA-Untersuchung herausstelle, dass der Freigesprochene doch der Täter gewesen sein müsse, die Wiederaufnahme des Verfahrens mangels Einschlägigkeit des § 362 StPO aber nicht möglich sei.19 Das Festhalten an der Rechtskraft der Freisprüche trotz der später bewiesenen Schuld des Freigesprochenen führe in Abwägung mit dem ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zu „unerträglichen Ergebnissen“.20 Des Weiteren sei eine Rechtskraftdurchbrechung in Fällen von Mord und Völkermord legitim, da es um das Rechtsgut Leben gehe, dessen Bedeutung sich in der absoluten Strafandrohung und der Unverjährbarkeit dieser Delikte zeige.21 Außerdem seien der Rechtsfrieden und das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung durch den ungerechtfertigten Freispruch gestört, sowie das Vertrauen in die Strafrechtspflege.22 Wie bereits erörtert, ist der Kern des Doppelbestrafungsverbots die grundsätzliche Entscheidung des Grundgesetzgebers, dass die Rechtssicherheit die materielle Gerechtigkeit überwiegt, wenn dies bisweilen auch zu unrichtigen Entscheidungen im Einzelfall führt (s.o.). Durch die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen ist genau diese Grundentscheidung betroffen. Es ist durchaus fraglich, ob mit einer Umkehr der Gewichtung von Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit überhaupt noch von einer Grenzkorrektur gesprochen werden kann.23 Vielmehr stellt doch gerade die Gewichtung dieser Grundprinzipien den Kern des „ne bis in idem“ dar. 18 Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30. Januar 2008, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957, S. 6. 19 Vgl. Graf, Jürgen-Peter: „Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 18. März 2009 in Berlin zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts (BT-Drs. 16/7957)“ S. 3 f. 20 Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30. Januar 2008, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957, 6; Schöch, Heinz, Schriftliche Stellungnahme vom 12. März 2009 für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts – BT-Drucksache 16/7957, S. 3. 21 Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30. Januar 2008, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957 S. 6 f; Schöch, Schriftliche Stellungnahme vom für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts – BT-Drucksache 16/7957, S. 3. 22 Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30. Januar 2008, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957 S. 7; Schöch, Schriftliche Stellungnahme vom für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts – BT-Drucksache 16/7957, S. 3. 23 Vgl. Swoboda, Sabine, Das Recht der Wiederaufnahme in Europa. Bestandsaufnahme und Ausblick, Online- Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht (HRRS) 2009, 188 (194). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 10 Wenn man diese Umkehr der Gewichtung immer noch als Randbereich des Doppelbestrafungsverbots begreift, so müssten die Argumente für die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Freigesprochenen angesichts der jedenfalls nicht zu leugnenden engen Nähe zu dem Kern des „ne bis in idem“ so gehaltvoll sein, dass sie selbst Verfassungsrang haben, sodass sie einen Eingriff in das Prozessgrundrecht, als das Art. 103 Abs. 3 GG verstanden wird,24 das lediglich verfassungsimmanente Schranken hat, rechtfertigen können. 3.1. Unerträglichkeit „falscher“ Freisprüche/Materielle Gerechtigkeit Das hervorstechendste Argument für die Einführung weiterer Wiederaufnahmegründe ist die Unerträglichkeit von Freisprüchen von Tätern und die Erschütterung des Rechtsfriedens sowie des Vertrauens in die Rechtspflege. Als verfassungsrechtlicher Grund ist lediglich die materielle Gerechtigkeit zu verstehen. Hier ist jedoch zu bedenken, dass der Grundgesetzgeber dadurch, dass er Art. 103 Abs. 3 GG zusätzlich zu dem in Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip, aus dem sich konkrete Prinzipien ableiten lassen, ausdrücklich normiert hat, die Rechtssicherheit über die materielle Gerechtigkeit gestellt hat. Unter Berufung auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip die Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Freigesprochenen zu erweitern, würde letztlich dazu führen, den ausdrücklichen Willens des Grundgesetzgebers zu unterlaufen.25 Nicht berücksichtigt wird, dass von der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe auch solche Freigesprochenen betroffen sind, die die Tat tatsächlich nicht begangen haben. Gerade für diese ist die Situation, sich einem weiteren gerichtlichen Verfahren aussetzen zu müssen, unerträglich. Und wie bereits gezeigt wurde, schützt Art. 103 Abs. 3 GG nicht nur vor einer Doppelbestrafung, sondern auch vor einem weiteren Strafprozess. Im Übrigen wird mit dem Begriff der Unerträglichkeit im Grunde kein neues Argument geliefert, sondern lediglich die Abwägung Rechtssicherheit gegenüber materieller Gerechtigkeit auf die Abwägung „Unerträglichkeit eines weiteren Verfahrens für einen Freigesprochenen“ gegenüber „Unerträglichkeit eines in tatsächlicher Hinsicht falschen Freispruchs“ verlagert. Von den Kritikern des Gesetzesentwurfes wurde bezüglich der Unerträglichkeit auch angebracht, dass eine solche schwerlich anzunehmen sei, wenn man einen Rechtsvergleich mit anderen Rechtsstaaten vornehme, die teilweise keine Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Verurteilten vorsehen (dann aber häufig mit einem anderen Verständnis dafür, was genau die Tat sein soll, sodass bei einem weiteren Tatbegriff als dem des deutschen Strafprozessrechts durchaus noch für dieselbe Handlung eine Verurteilung wegen eines anderen Delikts möglich ist)26. Auch 24 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 76. EL Dezember 2015, Art. 103 Rn. 270. 25 Marxen, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts (BT-Drucksache 16/7957), S. 6. 26 Vgl. Swoboda, HRRS 2009, 188 (193). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 11 wenn viele Strafverfahrensordnungen ein Wiederaufnahmeverfahren aufgrund neuer Tatsachenerkenntnisse oder Beweise vorsähen,27 so zeigten doch die Rechtsordnungen, in denen dies eben nicht vorgesehen sei, dass eine Unerträglichkeit dieser Situation an sich nicht zwangsläufig sei.28 3.2. DNA-Untersuchung als „neu auftauchender Gesichtspunkt“ Da das BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1981 davon spricht, „dass für neu auftauchende Gesichtspunkte, die sich der Prozessrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt hatten, eine verfassungsrechtliche Festlegung [nicht] getroffen worden wäre“29, stellt sich die Frage, ob es sich bei zum Zeitpunkt des Freispruchs nicht mögliche bzw. noch nicht bestehende Untersuchungsmethoden, wie etwa die DNA-Untersuchung, um solche neu auftauchenden Gesichtspunkte handelt, die sich der Prozessrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt haben. In der genannten Entscheidung des BVerfG ging es um die Frage, wie der Begriff derselben Tat in Art. 103 Abs. 3 GG zu verstehen sei. Der Beschwerdeführer war zunächst rechtskräftig wegen der Mitgliedschaft an einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB verurteilt worden und später wegen der Beihilfe zum Mord in drei Fällen, zum versuchten Mord in sechs Fällen und zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion verurteilt worden, wobei er die gegenständliche Tathandlung (ein Sprengstoffanschlag) im Rahmen seiner Mitgliedschaft an einer kriminellen Vereinigung begangen hatte und sich nun die Frage stellte, ob aufgrund der Verurteilung wegen der Mitgliedschaft an der kriminellen Vereinigung bereits Strafklageverbrauch eingetreten war. Das BVerfG hatte dazu Ausführungen getroffen, dass die Tatbestandsstruktur des § 129 StGB eine Ausnahme von der Regel erlaube, dass eine materiell-rechtliche Tat Tatidentität im Sinne von Art. 103 Abs. 3 GG verbürge.30 Die Vorstellung des Grundgesetzgebers sollte also nicht der Veränderung des Verständnisses des prozessualen Verfahrensgegenstandes und der Rechtskraftwirkung entgegenstehen.31 Es ist aber zweifelhaft, ob dieser Gedanke auch darauf anwendbar ist, wenn sich die kriminalistische Technik weiterentwickelt. Denn neue technische Methoden stellen andere Entwicklungen und Neuerungen dar als eine neue Entwicklung der Rechtsprechung und –wissenschaft. Die Vorstellung an sich, dass es neue technische Methoden geben kann, kann dem Grundgesetzgeber nicht fremd gewesen sein. Für die Auswertung von DNA-Spuren kommt im Übrigen hinzu, dass der Nachweis einer Übereinstimmung von DNA-Spuren etwa am Tatort mit der DNA des Freigesprochenen an sich noch 27 Swoboda, HRRS 2009, 188 (193). 28 Marxen Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts (BT-Drucksache 16/7957), S. 17; Pabst, ZIS 2010, 126 (132). 29 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BverfGE 56, 22, juris Rn. 26. 30 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22, juris Rn. 23. 31 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 – 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22, juris Rn. 26. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 12 kein Beweis dafür ist, dass der DNA-Träger die Tat begangen hat. Vielmehr sagt sie lediglich aus, dass er an dem Tatort war. 3.3. Ergebnis zu 3 Die Ausführungen haben gezeigt, dass bereits seit längerem darüber diskutiert wird, ob und inwieweit Erweiterungen der Wiederaufnahmegründe mit Art. 103 Abs. 3 GG zu vereinbaren sind. Dabei ging es gerade auch um die Wiederaufnahme aufgrund von neuen Beweismethoden. Während sich die Befürworter darauf berufen, für die Einführung weiterer Wiederaufnahmegründe sprächen die Unerträglichkeit von Freisprüchen von Tätern und die Erschütterung des Rechtsfriedens sowie des Vertrauens in die Rechtspflege sowie die materielle Gerechtigkeit als verfassungsrechtliches Gut, werden gewichtige Argumente gegen eine solche Erweiterung vorgetragen. Letztlich würde nämlich ein Wiederaufnahmegrund, wonach ein Verfahren neu aufgerollt werden könne, wenn es neue technische Möglichkeiten gebe, die vorhandenen Beweismittel zu untersuchen , dazu führen, die Grundentscheidung des Grundgesetzgebers, dem Rechtsfrieden grundsätzlich den Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit einzuräumen, zu unterlaufen. Für den wirklich Unschuldigen käme die Unerträglichkeit eines weiteren Strafverfahrens hinzu. 4. Vereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG und mit dem allgemeinen Rückwirkungsverbot Fraglich ist, wie eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zulasten des Freigesprochenen sich zu dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und dem allgemeinen Rückwirkungsverbot , das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird32, verhält. 4.1. Vereinbarkeit mit dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 2 GG Art. 103 Abs. 2 GG regelt, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Es stellt sich die Frage, ob die Einführung weiterer Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG bedeutet. Grundsätzlich fallen unter das Rückwirkungsverbot lediglich Normen des materiellen Strafrechts und nicht des Strafprozessrechts.33 Damit werden die Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO nicht vom strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG umfasst. 4.2. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Rückwirkungsverbot Allerdings folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip das allgemeine Rückwirkungsverbot. Zwar gibt es keinen generellen Abwehranspruch gegen die Veränderung der Rechtslage. Allerdings kann sich 32 Schwarz, Kyrill-A., Rückwirkung von Gesetzen, Juristische Arbeitsblätter (JA) 2013, 683 33 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig Art. 103 Abs. 2 Rn. 244 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 13 der Bürger auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen, wenn sich die Rechtsänderung auf bereits in der Vergangenheit abgeschlossene Sachverhalte bezieht und der Bürger zu seinen Lasten in seinem Vertrauen enttäuscht wird.34 Wenn also neue Gesetze nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen, bzw. wenn die Rechtsfolgen für einen vor der Verkündung liegenden Zeitraum eintreten sollen, verstößt dies grundsätzlich gegen das Prinzip des Vertrauensschutzes.35 Sie sind nur dann zulässig, wenn kein schutzwürdiges Vertrauen oder die öffentlichen Interessen dieses Vertrauen überwiegen.36 Mit dem erfolgten Freispruch des Angeklagten ist der betroffene Sachverhalt abgeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt vertraut der Freigesprochene (zu Recht angesichts des Prozessgrundrechts aus Art. 103 Abs. 3 GG) darauf, keiner weiteren Strafverfolgung ausgesetzt zu sein. Dieses Vertrauen leitet er aus einer verfassungsrechtlich geschützten Position ab, sodass das öffentliche Interesse an materieller Gerechtigkeit, die ohnehin nach Wertung des Art. 103 Abs. 3 GG der Rechtssicherheit den Vorrang gewährt, dieses schutzwürdige Vertrauen nicht überwiegt. Mithin könnte ein Gesetz, das die Gründe für ein Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Freigesprochen erweitert , nicht für bereits erfolgte Freisprüche gelten.37 Die unechte Rückwirkung, bei der eine Gesetzesänderung auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt, ist grundsätzlich zulässig.38 Für zukünftige Freisprüche könnte also unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Rückwirkungsverbots ein neuer Wiederaufnahmegrund eingeführt werden. Wie gesehen, bestehen insoweit aber Probleme im Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 GG. 5. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 GG Wenn man den Katalog des § 362 StPO erweitert, aber lediglich auf nicht verjährbare Straftaten beschränkt, stellt sich die Frage, ob damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen wird. Dieser Gleichheitssatz verbietet, wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln, wenn dies nicht gerechtfertigt ist. Für durch Urteil Freigesprochene besteht je nach vermeintlich begangenem Delikt die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens. Somit werden gleiche Sachverhalte unterschiedlich behandelt. Dies müsste gerechtfertigt sein. An die Rechtfertigung werden unterschiedliche Maßstäbe gelegt, je nach Grad der Ungleichbehandlung. So besteht grundsätzlich das Willkürverbot , wonach der Gesetzgeber nicht ohne sachlichen Grund eine Ungleichbehandlung vornehmen 34 Huster/Rux, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.) 29. Edition, 1. Dezember 2015, Art. 20 Rn. 184. 35 Huster/Rux, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Art. 20 Rn. 186 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 36 Huster/Rux, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Art. 20 Rn. 186 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 37 So auch Pabst ZIS 2010, 126 (130). 38 Huster/Rux, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Art. 20 Rn. 187. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 14 darf, wenn es sich um eine personenbezogene Ungleichbehandlung handelt oder bei sachbezogener Ungleichbehandlung der Gebrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten erschwert wird.39 Hier handelt es sich um eine sachbezogene, da nicht an persönliche Eigenschaften anknüpfende, Ungleichbehandlung, die das verfassungsrechtlich verankerte Doppelbestrafungsverbot betrifft. Mit der Aufhebung der Verjährung des Mordes und des Völkermordes hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass diese Straftaten besonders verwerflich sind. Somit kann man annehmen , dass eine Beschränkung auf diese Delikte dem Doppelbestrafungsverbot entgegenkommt. Angesichts der hauptsächlichen Argumentation der Unerträglichkeit erscheint dies aber willkürlich . Der Öffentlichkeit ist häufig der Unterschied zwischen Totschlag und Mord nicht bewusst, sodass auch hier das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert wäre, denn für den juristischen Laien kommt es letztendlich darauf an, dass jemand den Tod eines anderen Menschen zu verantworten hat. Ob dies durch Mord oder durch Totschlag erfolgt ist, spielt für die Öffentlichkeit häufig keine maßgebliche Rolle. Eine Beschränkung der Wiederaufnahmegründe auf solche Straftaten, die nicht der Verjährung unterliegen, führt weiterhin zu dem praktischen Problem, wenn unklar ist, ob es sich bei der Tat um einen Totschlag oder einen Mord handelt. Die Frage der Wiederaufnahme würde dann auch mit weiteren Problemen tatsächlicher und/oder rechtlicher Natur belastet und würde für die Betroffenen zu weiteren Unsicherheiten führen. 6. Anwendung der neuen Untersuchungsmethoden auf neue Beweismittel Nach der diesem Sachstand zugrundeliegende Anfrage sollen zwei Fragen untersucht werden: zum einen, ob die Wiederaufnahmegründe um einen solchen Grund erweitert werden können, dass neue Untersuchungsmethoden auf bereits während des Freispruchs vorhandene Beweismittel angewendet werden, zum anderen, ob sich die Bewertung der ersten Frage ändert, wenn die neuen Untersuchungsmethoden auf neue Beweismittel, die also noch nicht während des Freispruchs vorhanden waren, angewendet werden. Darauf, ob die neuen Untersuchungsmethoden, wie etwa die DNA-Analyse, an bereits verwerteten oder neu ermittelten Beweismitteln durchgeführt wird, kann es nicht ankommen. Denn in beiden Fällen geht es um die neuen Untersuchungsmethoden. Für die zweite Frage lautet das Ergebnis nicht anders als bei der ersten Frage. Denn für die Wiederaufnahme des Verfahrens wird in beiden Varianten auf die neuen Untersuchungsmethoden abgestellt, also zum Beispiel auf die Möglichkeit, eine DNA-Analyse durchführen zu können. Der maßgebliche Unterschied zwischen beiden Fragen besteht jedoch nur darin, an welchem Gegenstand die neuen Untersuchungsmethoden vorgenommen werden. In der ersten Frage sind es Beweise, die bereits im ersten Verfahren vorlagen, aber noch nicht ausreichend untersucht werden konnten, weil die entsprechende Untersuchungsmethode zu dieser Zeit noch nicht möglich war. Bei der zweiten Frage handelt es 39 Kischel, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, 29. Edition, 1. Juni 2016, Art. 3 Rn. 31. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 15 sich um Beweise, die im ersten Verfahren noch nicht vorlagen, sondern die neu ermittelt wurden , und auf diese neuen Beweise soll dann die neue Untersuchungsmethode angewendet werden . Bei der zweiten Variante, also die Wiederaufnahme bei neuen Untersuchungsmethoden auf neue Beweismittel, käme sogar das Problem hinzu, dass damit wenigstens für einen bestimmten Bereich die Wiederaufnahme eröffnet würde, wenn neue Beweismittel vorliegen. Wie bereits dargelegt , hat sich der Gesetzgeber aber bisher bewusst dazu entschieden, neue Beweismittel nur bei der Wiederaufnahme zugunsten, nicht jedoch zuungunsten des Betroffenen zuzulassen. Gerade hierin zeigt sich die im GG verankerte Entscheidung, dass die Rechtssicherheit der materiellen Gerechtigkeit vorgehen soll. Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die bei der ersten Frage gegen die Wiederaufnahmemöglichkeit sprechen, sprechen bei der zweiten Frage also erst Recht dagegen , die Wiederaufnahmemöglichkeit zu erweitern. Für die oben erfolgten Ausführungen ist es daher unerheblich, ob die DNA-Untersuchungen an verwerteten oder nicht verwerteten Beweismitteln durchgeführt werden. 7. Vereinbarkeit mit Art.4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK Schließlich ist zu prüfen, ob neue Untersuchungsmethoden wie die DNA-Analyse auf alte oder neue Beweismittel mit Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK zu vereinbaren sind. Diese Regelung lautet wie folgt: „Artikel 4 - Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden 1. Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden. 2. Abs. 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. 3. Dieser Artikel darf nicht nach Art. 15 der Konvention außer Kraft gesetzt werden.“ Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK enthält also ebenfalls ein Verbot der Doppelbestrafung . Wie sich aus dem Wortlaut allerdings ergibt, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht nur dann möglich, wenn das frühere Verfahren schwer wiegende Mängel aufweist, sondern – anders als nach § 362 StPO - auch dann, wenn wesentliche neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen. Damit ist der Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK weiter als § 362 StPO. Nach der im Sachstand zugrundeliegenden Anfrage geht es allerdings nicht um neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen, sondern um neue Untersuchungsmethoden von Tatsachen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 121/16 Seite 16 Ob diesen neuen Untersuchungsmethoden, wie z.B. die DNA-Analyse, den neuen Tatsachen gleichstehen, kann hier allerdings offen bleiben. Denn das Zusatzprotokoll ist von der Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht ratifiziert worden.40 Insoweit hat das Gebot des „ne bis in idem“ aus Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls bisher neben Art. 103 Abs. 3 GG keine eigenständige Bedeutung . Ende der Bearbeitung 40 Vgl. die Auflistung in: EMRK und Protokolle unter dem Stichwort „Ratifikation“, abrufbar unter: http://www.egmr.org/emrk/emrk.html [letzter Abruf 15. August 2016].