© 2020 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 116/20 Einzelfragen zum Ordnungswidrigkeitenrecht in Bezug auf Rohmessdaten bei Geschwindigkeitsmessungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 4 1. Einleitung Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG)1 ist das Gericht im Bußgeldverfahren verpflichtet, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen.2 Die Aufklärungspflicht erstreckt sich auf diejenigen Umstände, welche für das Verfahren erheblich und insbesondere für die Schuldfrage sowie Art und Maß der Rechtsfolgen von Bedeutung sind.3 Hält das Gericht den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt, so kann es gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG außer in den Fällen des § 244 Abs. 3 der Strafprozessordnung (StPO)4 einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Besonderheiten gelten bei standardisierten Messverfahren, so beispielsweise im Falle der im Rahmen dieses Sachstands in den Blick zu nehmenden Geschwindigkeitsmessungen mit bestimmten Messgeräten: Das Gericht darf im Falle eines standardisierten Messverfahrens das Ergebnis, zum Beispiel „ein Messfoto unter Einblendung eines Geschwindigkeitswerts seiner richterlichen Überzeugung zugrunde legen“.5 Bei solchen Verfahren soll eine Vermutung der Richtigkeit bestehen .6 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) hat ein Tatrichter „die Zuverlässigkeit von Messungen, die mit einem anerkannten und weitgehend standardisierten Messverfahren gewonnen worden sind“, nur dann zu überprüfen, sofern konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen.7 Nach dem BGH ist unter einem standardisierten Messverfahren „ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren zu verstehen, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind“.8 „Technische Messsysteme, deren Bauart von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) zur innerstaatlichen Eichung zugelassen sind“, werden nach der Rechtsprechung grundsätzlich 1 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 1987 (BGBl. I S. 602), das zuletzt durch Artikel 185 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. 2 Hettenbach, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar OWiG, 27. Edition, Stand: 01.07.2020, § 77 Rn. 1. 3 Hettenbach, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar OWiG, 27. Edition, Stand: 01.07.2020, § 77 Rn. 1. 4 Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 9. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2075) geändert worden ist. 5 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 866. 6 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 866; vgl. auch OLG Naumburg, Beschluss vom 03.09.2015, Az. 2 Ws 174/15, BeckRS 2016, 6786 Rn. 9. 7 BGH, Beschluss vom 30.10.1997, Az. 4 StR 24/97, NJW 1998, 321, 322. 8 BGH, Beschluss vom 30.10.1997, Az. 4 StR 24/97, NJW 1998, 321, 322. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 5 als standardisierte Messverfahren angesehen.9 Weiterhin muss das Gerät vom Bedienungspersonal auch standardmäßig, also in geeichtem Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs- bzw. Gebrauchsanweisung verwendet worden sein, und zwar nicht nur im Rahmen des eigentlichen Messvorgangs, sondern auch bei den ihm vorausgehenden Gerätetests.10 Nach dem BGH zählen grundsätzlich auch Lasermessverfahren , bei welchen eine Geschwindigkeitsmessung durch besonders geschultes Messpersonal unter Beachtung der Betriebsanleitung des Geräteherstellers und der Zulassungsbedingungen der PTB ausgeführt wird, zu den standardisierten Verfahren.11 Im Folgenden wird erörtert, inwieweit bei Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Geschwindigkeitsverstößen rechtliche Möglichkeiten für Betroffene bestehen, an sogenannte Rohmessdaten12 zu gelangen, um darin gegebenenfalls konkrete Anhaltspunkte für Messfehler in einem standardisierten Messverfahren zu finden. Dabei sollen ein mögliches Einsichtnahmerecht aus § 49 Abs. 1 OWiG oder § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO (2.), das Recht auf ein faires Verfahren (3.) und das Recht auf rechtliches Gehör (4.) beleuchtet werden. Weiterhin wird auf den Fall eingegangen, dass Rohmessdaten durch das Messgerät überhaupt nicht gespeichert werden (5.). Abschließend wird die Gesetzgebungskompetenz für die Vorschriften des Zweiten Teils des O- WiG und der StPO aufgezeigt (6.). Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages nehmen nach ihren Verfahrensgrundsätzen keine Einzelfallprüfung vor. Die soeben konkretisierten Aspekte des Themas werden daher nachfolgend nur allgemein und summarisch erörtert. 2. Einsichtnahmerecht aus § 49 Abs. 1 OWiG oder § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO Im Verfahren der Verwaltungsbehörde sieht § 49 Abs. 1 OWiG ein Akteneinsichtsrecht des Betroffenen vor.13 Gemäß § 49 Abs. 1 Satz 1 OWiG gewährt die Verwaltungsbehörde diesem auf Antrag Einsicht in die Akten, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Straf- oder Bußgeldverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. 9 OLG Bamberg, Beschluss vom 12.12.2012, Az. 3 Ss OWi 450/12, BeckRS 2013, 407. 10 OLG Hamm, Beschluss vom 15.05.2008, Az. 2 Ss OWi 229/08, NZV 2009, 248. 11 BGH, Beschluss vom 30.10.1997, Az. 4 StR 24/97, NJW 1998, 321, 322. 12 In Verfahren aufgrund von Verkehrsordnungswidrigkeiten werden umgangssprachlich unter „Rohmessdaten“ solche Daten verstanden, „die nach der Erfassung durch die Sensorik des Messgerätes, der sich anschließenden analogen Signalaufbereitung, der Analog-Digital-Wandlung und den nachfolgenden digitalen Qualitätssicherungsprozessen in die Softwareroutine für den letzten Schritt, die Berechnung des anzuzeigenden Messwertes, eingespeist werden, vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der FDP zum Umgang mit fehlerhaften Geschwindigkeitsmessungen BT-Drucksache 19/22570, S. 2. 13 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 656. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 6 Im gerichtlichen Verfahren gewährt § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 147 Abs. 4 StPO dem Betroffenen ein Akteneinsichtsrecht.14 Der Betroffene, der keinen Verteidiger hat, ist danach in entsprechender Anwendung der Absätze 1 bis 3 des § 147 StPO befugt, die Akten einzusehen und unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen, soweit der Untersuchungszweck auch in einem anderen Verfahren nicht gefährdet werden kann und überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers richtet sich nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO. Es entsteht, wenn die Verwaltungsbehörde intern den Entschluss gefasst hat, einen Bußgeldbescheid zu erlassen.15 Vor diesem Zeitpunkt kann dem Verteidiger nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann.16 Im Ordnungswidrigkeitenverfahren gilt der formelle Aktenbegriff.17 Zu den Akten gehören alle Vorgänge, welche durch die Verfolgungsbehörde in Ausübung ihrer Objektivitätsverpflichtung als potenziell entscheidungserheblich den Verfahrensakten zugeordnet werden.18 Hiervon erfasst sind die durch die Verfolgungsbehörde dem Gericht vorgelegten Akten, die danach entstandenen Aktenteile sowie die nachgereichten oder vom Gericht herangezogenen Beiakten.19 Das Akteneinsichtsrecht soll sich zumindest auf jegliche technische Dokumente erstrecken, die der Akte beigelegt sind.20 Im Falle von Geschwindigkeitsmessungen befinden sich in der Akte regelmäßig beispielsweise Verfahrenshistorie, Messprotokoll, Eichschein des Messgeräts, Messfoto, eine Skizze von der Messörtlichkeit sowie vom Aufbau des Geräts, Ermittlungsbericht, Anhörungsbogen, 14 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 656; Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867. 15 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 657. 16 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 657. 17 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 657. 18 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 657. 19 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867; OLG Celle, Beschluss vom 26.03.2013, Az. 322 SsBs 377/12, NStZ 2014, 525, 526; Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 657. 20 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867, mit Verweis auf Lampe, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 49 Rn. 17. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 7 Bußgeldbescheid und gegebenenfalls die Auskunft aus dem Verkehrszentralregister.21 Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich auch auf Rohmessdaten, sofern diese in der Akte enthalten sind.22 Ein Recht auf Erweiterung des Aktenbestands soll allerdings nicht bestehen.23 Zumindest in Bezug auf Rohmessdaten wird vertreten, dass diese einem Akteneinsichtsrecht nicht unterliegen, wenn sie sich nicht bei den Akten befinden.24 Sofern sich die Rohmessdaten bei den Akten befinden und die weiteren Voraussetzungen der genannten Vorschriften vorliegen, wären auch die Rohmessdaten herauszugeben. 3. Recht auf ein faires Verfahren Wenn sich allerdings Rohmessdaten nicht in der Akte befinden, stellt sich die Frage, inwieweit diese trotzdem von der Behörde oder vom Gericht beizuziehen und dem Betroffenen dann zur Verfügung zu stellen sind.25 Ein solcher Anspruch könnte sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren ergeben, welches nach dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG26) in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG folgt.27 Danach darf ein Beschuldigter nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht werden.28 Ihm sei die Möglichkeit einzuräumen, „zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen“.29 Das Recht 21 Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 663. 22 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867. 23 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867; vgl. BGH, Urteil vom 26.05.1981, Az. 1 StR 48/81, NStZ 1981, 361, 362 in Bezug auf § 147 Abs. 1 StPO. 24 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867; vgl. auch Hannich, Akteneinsichtsrecht im Ordnungswidrigkeitenverfahren , Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655, 657, 663. 25 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867. 26 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 u. 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048) geändert worden ist. 27 BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977, Az. 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 209; BVerfG, Beschluss vom 17.05.1983, Az. 2 BvR 731/80, NJW 1983, 2762, 2763. 28 BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977, Az. 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210. 29 BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977, Az. 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 8 auf ein faires Verfahren findet sich auch in Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention.30 Nach dem BVerfG gehört zu einem fairen Verfahren auch eine wirksame Verteidigung.31 Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist „durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher ‚Waffengleichheit ‘ von Ankläger und Beschuldigten gekennzeichnet“.32 Weiterhin führt das BVerfG im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren aus: „Es erschöpft sich nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel gegenüber den beschränkten Möglichkeiten des Einzelnen, die sich in der Verpflichtung niederschlägt, dass staatliche Organe korrekt und fair zu verfahren haben […]. Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen und Übergriffe der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können.“33 Das Verfassungsgerichtshof des Saarlandes (VerfGH Saarland) bezieht dies in einem Beschluss vom 27. April 2018 ausdrücklich ebenso auf die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten.34 Er beruft sich dabei auch auf die Feststellung des BVerfG, aus dem Recht auf ein faires Verfahren folge „ein Anspruch auf materielle Beweisteilhabe, also auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung “.35 Fraglich ist, ob hieraus auch ein Anspruch auf Zurverfügungstellung von Rohmessdaten folgt. Nach dem VerfGH Saarland gewährt die Verfassung des Saarlandes „– nicht anders als das Grundgesetz und inhaltsgleich mit dessen Garantien – ein Grundrecht auf ein faires gerichtliches Verfahren, das ein Grundrecht auf wirksame Verteidigung“ beinhalte (Art. 60 Abs. 1, Art. 20, Art. 30 Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14 samt Zusatzprotokoll und Protokolle Nr. 4, 6, 7, 12, 13 und 16, abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Documents/Convention _deu.pdf, letzter Abruf – auch für alle weiteren Internetlinks – 6. November 2020. 31 BVerfG, Beschluss vom 27.08.2003, Az. 2 BvR 2032/01, NJW 2004, 50, 51, wonach „die unentgeltliche Beistandsleistung eines Dolmetschers auch für die die Verteidigung vorbereitenden Gespräche mit“ einem Wahloder Pflichtverteidiger unabdingbar ist, „da eine wirksame Verteidigung und damit ein faires Verfahren ohne vorbereitende Verteidigergespräche kaum denkbar“ seien; (auch) nach dem BGH gehört die Gewährleistung einer wirkungsvollen Verteidigung zum Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BGH, Urteil vom 24.02.2016, Az. 2 StR 319/15, NStZ 2017, 59, 61 Rn. 17, 18). 32 BVerfG, Beschluss vom 08.10.1974, Az. 2 BvR 747, 748, 749, 750, 751, 752, 753/73, BVerfGE 38, 105, 111. 33 BVerfG, Beschluss vom 08.10.1974, Az. 2 BvR 747, 748, 749, 750, 751, 752, 753/73, BVerfGE 38, 105, 111. 34 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 278 Rn. 27. 35 BVerfG, Beschluss vom 05.07.2006, Az. 2 BvR 1317/05, NJW 2007, 204, 205. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 9 14 Abs. 3 der Saarländischen Verfassung36).37 Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folge ein Anspruch darauf, dass Rohmessdaten zur Verfügung gestellt werden.38 Dem in einem Bußgeldverfahren Betroffenen sei Zugang zu den Informationen zu gewähren, welche er benötigt, um sich zu verteidigen bzw. durch einen Verteidiger verteidigen zu lassen.39 Digitaldaten müssten, auch wenn sie sich nicht in der Akte befänden und somit von § 147 StPO in Verbindung mit § 46 O- WiG nicht erfasst würden, bereitgestellt werden.40 Aufgrund der dadurch gewährleisteten Transparenz des Messverfahrens werde die Waffengleichheit wieder hergestellt und dem Erfordernis eines fairen Verfahrens entsprochen.41 Der Betroffene könne hierdurch den Tatvorwurf bei Anhaltspunkten für Messfehler qualifiziert durch das Ergebnis der von ihm veranlassten (wohl durch einen Sachverständigen durchgeführten) technischen Untersuchung erschüttern bzw. widerlegen .42 Zur Stützung der Ansicht, es bestehe ein Anspruch aufgrund des Gebots des fairen Verfahrens auf Herausgabe von nicht bei der Akte befindlichen Messdaten, verweist der VerfGH Saarland auch auf andere gerichtliche Entscheidungen.43 Andere Teile der Rechtsprechung sind dagegen der Auffassung, das Recht auf ein faires Verfahren werde durch eine fehlende Überlassung von nicht bei den Akten befindlichen Unterlagen oder der Rohmessdaten nicht verletzt.44 In einem Antrag auf Beiziehung entsprechender Unterlagen oder digitaler Messdateien liege ein Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung lediglich unter Aufklärungsgesichtspunkten (vgl. § 244 Abs. 2 StPO bzw. § 77 Abs. 1 OWiG) gerügt werden 36 Verfassung des Saarlandes vom 15. Dezember 1947 (Amtsbl. des Saarlandes S. 1077), BS Saar Nr. 100-1, zuletzt geändert durch Art. 1 G zur Umsetzung der grundgesetzlichen Schuldenbremse und zur Haushaltsstabilisierung vom 10.4.2019 (Amtsbl. des Saarlandes I S. 446), abrufbar unter https://beck-online.beck.de/Dokument ?vpath=bibdata%2Fges%2Fsaarverf%2Fcont%2Fsaarverf.htm&anchor=Y-100-G-SAARVERF. 37 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2457 Rn. 35, 38; nach VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 278 Rn. 24 ergibt sich das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 60 Abs. 1 Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 der Saarländischen Verfassung. 38 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275 ff; Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 867. 39 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 279 Rn. 33. 40 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 279 Rn. 32. 41 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 279 Rn. 32. 42 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 279 Rn. 32. 43 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 279, 280 Rn. 34, 35 unter anderem mit Verweis auf AG Schwelm, Beschluss vom 22.11.2016, Az. 60 OWi 520/15, juris, Rn. 3 und AG Frankenthal, Beschluss vom 30.12.2016, Az. 4 OWi 553/16, juris, Rn. 1. 44 BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019, Az. 202 ObOWi 1955/19, BeckRS 2019, 31165 Rn. 4; vgl. auch OLG Bamberg , Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss Owi 626/18, NZV 2018, 425 Rn. 3, 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 10 könne.45 Einschlägige Verfahrensbestimmungen böten ausreichende Möglichkeiten für den Betroffenen und die Verteidigung zur Sicherung der Rechte des Betroffenen, weshalb es eines Rückgriffs auf das Prinzip des fairen Verfahrens nicht bedürfe.46 Der Betroffene könne beispielsweise durch Beweisanträge, Beweisermittlungsanträge sowie durch die Wahrnehmung seines Fragerechts in Bezug auf Sachverständige und Zeugen gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 240 Abs. 2 StPO in ausreichendem Maße an der Wahrheitsfindung mitwirken.47 4. Recht auf rechtliches Gehör Teilweise wird auch diskutiert, ob eine fehlende Herausgabe von Messdaten, welche sich nicht bei den Akten befinden, eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG begründen kann. Danach hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Vorschrift gewährt den Parteien ein „Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können“.48 Nach Ansicht des VerfGH Saarland wird durch die mangelnde Möglichkeit eines Vortrags von Messfehlern aufgrund einer Nichtherausgabe der Messdaten das Äußerungsrecht abgeschnitten bzw. dessen Ausübung unmöglich gemacht, weshalb neben dem Grundsatz des fairen Verfahrens auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt sei (Das rechtliche Gehör aus Art. 60 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Satz 1 der Saarländischen Verfassung ist mit dem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG inhaltsgleich49).50 Dagegen wird argumentiert, dass Art. 103 GG keinen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten begründe.51 Außerdem wird angeführt, das Gericht entscheide gemäß § 261 StPO ausschließlich auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung ausgebreiteten und abgehandelten Tatsachenstoffs , wozu der Betroffene sich umfassend äußern könne.52 5. Rechtslage im Falle der Nichtspeicherung von Rohmessdaten Weiterhin ist umstritten, wie die Rechtslage zu bewerten ist, wenn entsprechende Rohmessdaten vom Messgerät überhaupt nicht gespeichert werden. In seinem Urteil vom 5. Juli 2019 stellte der VerfGH Saarland die Unverwertbarkeit der Ergebnisse des Messverfahrens aufgrund fehlender Speicherung von Rohmessdaten fest und ordnete die Aufhebung der vorangegangenen gerichtlichen Entscheidungen an, da eine Verletzung des Rechts auf ein faires gerichtliches Verfahren 45 BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019, Az. 202 ObOWi 1955/19, BeckRS 2019, 31165 Rn. 4; OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss Owi 626/18, NZV 2018, 425 Rn. 3, 4. 46 OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss Owi 626/18, NZV 2018, 425 Rn. 11. 47 OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss Owi 626/18, NZV 2018, 425 Rn. 11. 48 BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003, Az. 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924, 1926. 49 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 278 Rn. 28. 50 VerfGH Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Az. Lv 1/18, NZV 2018, 275, 280 Rn. 34, 36. 51 KG, Beschluss vom 27.04.2018, Az. 3 Ws (B) 133/18-162 Ss 64/18, BeckRS 2018, 11219 Rn. 3. 52 OLG Bamberg, Beschluss vom 04.04.2016, Az. 3 Ss OWi 1444/15, BeckRS 2016, 6531 Rn. 34. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 11 vorliege, welches ein Grundrecht auf effektive Verteidigung einschließe.53 Für eine Verteidigung seien die Rohmessdaten lediglich dann nicht erforderlich, sofern „andere, gleichermaßen zuverlässige Verteidigungsmittel zur Verfügung stehen“.54 Es gehöre zu den grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Verurteilung, dass der Bürger die tatsächlichen Grundlagen seiner Verurteilung zur Kenntnis nehmen, anzweifeln und überprüfen dürfe.55 Das gelte nicht nur bei strafrechtlichen Sanktionen, sondern immer.56 Staatliches Handeln dürfe nicht undurchschaubar sein, weshalb technische Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen führten, grundsätzlich nachvollziehbar sein müssten.57 Auch das Ergebnis einer Blutentnahme oder DNA-Probe dürfe nur dann als Grundlage der Entscheidung des Gerichts herangezogen werden, sofern die Blutprobe oder die DNA-Daten, welche ebenfalls Gegenstand eines standardisierten Messverfahrens seien, auch ohne substantiierte Einwände, noch zu einer Überprüfung der Messung zur Verfügung stehen.58 Nach Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts dagegen ist ein „Anspruch auf Schaffung neuer, noch nicht existierender und deshalb auch für einen am Verfahren beteiligten potentiellen Antagonisten, etwa die Verfolgungsbehörde, nicht zugänglicher Beweismittel“ dem deutschen Verfahrensrecht fremd und resultiere auch nicht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens.59 Ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren liege nicht (allein) deshalb vor, weil durch das Messgerät keine Rohmessdaten „aufgezeichnet, abgespeichert, vorgehalten oder sonst nach Abschluss der Messung zur nachträglichen Befundprüfung und ‚Plausibilisierung der Messrichtigkeit‘ bereitgehalten oder diese Daten unterdrückt werden“.60 Auch das Oberlandesgericht Düsseldorf kritisierte das Urteil des VerfGH Saarland vom 5. Juli 2019 unter anderem mit dem Hinweis, dass eine Berücksichtigung des Umstands zu erfolgen habe, dass Bußgeldsachen gegenüber Strafverfahren weniger bedeutsam seien, was sich unter anderem in den geringeren Amtsermittlungspflichten (§ 77 OWiG) wiederspiegle.61 Der VerfGH Rheinland-Pfalz weist „gewissermaßen als ‚obiter dictum‘“62 darauf hin, dass für die Beurteilung eines fairen Verfahrens 53 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2457 ff., insbesondere Rn. 35, 47, 53, 54, 73. 54 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2458 Rn. 52. 55 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2458 Rn. 47. 56 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2458 Rn. 47. 57 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2458 Rn. 47. 58 VerfGH Saarland, Urteil vom 05.07.2019, Az. Lv 7/17, NJW 2019, 2456, 2458 Rn. 49. 59 BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019, Az. 202 ObOWi 1955/19, BeckRS 2019, 31165 Rn. 11. 60 BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019, Az. 202 ObOWi 1955/19, BeckRS 2019, 31165 Rn. 5. 61 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.03.2020, Az. 2 RBs 30/20, BeckRS 2020, 4049 Rn. 4, 13. 62 VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.01.2020, Az. VGH B 19/19, NZV 2020, 92, 97 ff., Anmerkung Krenberger . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 12 „auch die Erfordernisse einer funktionierenden Rechtspflege – zumal im Ordnungswidrigkeitenverfahren – zu berücksichtigen“ seien.63 Zwischen dem Ordnungswidrigkeitenrecht und dem allgemeinen Strafrecht bestünden (auch im Hinblick auf den Schutz des Betroffenen) wesentliche Unterschiede.64 6. Gesetzgebungskompetenz für die Vorschriften des Zweiten Teils des OWiG und der StPO Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben gemäß Art. 72 Abs. 1 GG die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebung unter anderem auf das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Die verfahrensrechtlichen Vorschriften des OWiG (Zweiter Teil, Bußgeldverfahren, §§ 35 bis 110c) gehören zum gerichtlichen Verfahren in diesem Sinne.65 Dies gilt für die Vorschriften betreffend das Verfahren der Gerichte, die mit Bußgeldsachen befasst sind, das Verfahren der Staatsanwaltschaft, aber auch in Bezug auf „das Verfahren der Verwaltungsbehörden zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten“.66 Die Regelungen der StPO fallen ebenfalls unter das „gerichtliche Verfahren“.67 Mit dem OWiG und der StPO hat der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. Änderungen der in diesem Sachstand genannten Vorschriften des Zweiten Teils des OWiG bzw. der StPO – etwa zur Klarstellung im Hinblick auf die Handhabung von Rohmessdaten – könnten folglich ebenso auf diesen Kompetenztitel gestützt werden. 7. Fazit Festzuhalten ist, dass die Rechtsprechung hinsichtlich der Frage divergiert, ob und inwieweit ein Recht auf Beiziehung bzw. Zurverfügungstellung von nicht bei den Akten befindlichen Rohmessdaten besteht. Obwohl sich Gerichte in der Praxis häufig an bestehender Rechtsprechung, insbesondere der der oberen Instanzen orientieren,68 sind die Richter nach Art. 97 Abs. 1 des Grundgesetzes unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Daraus folgt, dass Gerichte sich hinsichtlich der Frage nach einer Notwendigkeit einer Überlassung von Rohmessdaten zu eigenen Rechtsauffassungen bekennen und ihre Entscheidungen danach treffen können, auch wenn andere (auch im Rechtszug übergeordnete) Gerichte gegebenenfalls gegensätzliche Ansichten vertreten.69 63 VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.01.2020, Az. VGH B 19/19, NZV 2020, 92, 97 Rn. 48. 64 VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.01.2020, Az. VGH B 19/19, NZV 2020, 92, 97 Rn. 48. 65 Rogall, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 2 Rn. 5. 66 Rogall, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 2 Rn. 5. 67 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 74 Rn. 23. 68 Vgl. Nachweise bei Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Band 3, Art. 97 GG, Fußnote 111. 69 BVerfG, Beschluss vom 03.11.1992, Az. 1 BvR 1243/88 , BVerfGE 87, 273-282, juris Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 116/20 Seite 13 Allerdings können die Bundesländer Regelungen zur Bindungswirkung von Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte treffen.70 Entscheidungen des VerfGH Saarland binden beispielsweise nach § 10 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 645 über den Verfassungsgerichtshof71 die Verfassungsorgane des Saarlandes sowie alle saarländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden. Offenbar sind auch Verfahren vor dem BVerfG zu der hier in Rede stehenden Thematik anhängig .72 Entscheidungen des BVerfG binden gemäß § 31 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG)73 die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden . *** 70 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Werkstand: 60. EL Juli 2020, § 31 Rn. 314. 71 Gesetz Nr. 645 über den Verfassungsgerichtshof (VerfGHG) vom 17. Juli 1958 in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Februar 2001 (Amtsbl. des Saarlandes S. 582), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 16. Juli 2014 (Amtsbl. des Saarlandes I S. 358), abrufbar unter https://www.verfassungsgerichtshof-saarland .de/vghg.html. 72 Halder/Ittner, Standardisierte Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einsichtsrechte in Rohmessdaten, NJOZ 2020, 865, 870; vgl. auch die Übersicht für das Jahr 2020 des Bundesverfassungsgerichts (Az. 2 BvR 1451/18, 2 BvR 1616/18), abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren /Jahresvorausschau/vs_2020/vorausschau_2020.html;jsessionid =874DC8D97CC1810BC65FE485074517FA.1_cid386. 73 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1724) geändert worden ist.