© 2017 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 116/17 Rechtskraft von Urteilen der kaiserlichen Militärjustiz Die Todesurteile gegen Reichpietsch und Köbis im Sommer 1917 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 2 Rechtskraft von Urteilen der kaiserlichen Militärjustiz Die Todesurteile gegen Reichpietsch und Köbis im Sommer 1917 Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 116/17 Abschluss der Arbeit: 8. November 2017 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Überblick 4 2. Die Kriegsgerichtsurteile gegen Reichpietsch und Köbis 5 2.1. Politischer Hintergrund 5 2.2. Ablauf der Marineunruhen 1917 7 2.3. Kriegsgerichtliche Verfahren 9 2.3.1. Meuterei und militärischer Aufruhr 9 2.3.2. Kriegsverräterische Aufstandserregung: Reichpietsch und Köbis 10 2.3.3. Bestätigung der Urteile und Rechtskraft 12 2.3.4. Kritik 14 2.4. Novemberrevolution und Amnestie 1918 17 3. Wiederaufnahme des Verfahrens 20 4. Literaturverzeichnis 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 4 1. Überblick Gut ein Jahr vor dem Kieler Matrosenaufstand, der die Novemberrevolution 1918 auslösen sollte, kam es im Sommer 1917 in der deutschen Hochseeflotte zu Unruhen. Diese manifestierten sich vor allem darin, dass sich Matrosen und Heizer in großer Zahl unerlaubterweise, wenn auch nur vorübergehend, geschlossen von ihren Schiffen entfernten. Es kam zu kriegsgerichtlichen Verfahren und Verurteilungen wegen Meuterei und militärischem Aufruhr, aber auch wegen sog. kriegsverräterischer Aufstandserregung. Das Kriegsgericht war in tatsächlicher Hinsicht der Überzeugung, dass das Gesamtgeschehen insofern über eine „normale“ Meuterei hinausgegangen war, als unter den Schiffsbesatzungen eine zum Losschlagen bereite Organisation gebildet worden sei, die das Ziel verfolgt habe, den Frieden notfalls durch einem gewaltsamen Flottenstreik zu erzwingen. In rechtlicher Hinsicht war es der Auffassung, dass bereits mit der Bildung solch einer Organisation, nicht erst mit deren Losschlagen , der Tatbestand der kriegsverräterischen Aufstandserregung vollendet sei. Mit dieser schon damals kritisierten Rechtsmeinung war der Weg zur Verhängung der Todesstrafe eröffnet; der Versuch war zwar auch strafbar, aber nur mit Zuchthaus bedroht. Fünf Angeklagte, darunter die Heizer Max Reichpietsch und Albin Köbis, damals 22 und 24 Jahre alt, wurden wegen vollendeter kriegsverräterischer Aufstandserregung zum Tode verurteilt. Im anschließenden, nach der Militärgerichtsordnung vorgesehenen Bestätigungsverfahren wurden drei Todesstrafen in Zuchthausstrafen umgewandelt. Nur die Todesstrafen gegen Reichpietsch und Köbis wurden aufrechterhalten. Schon wenige Tage später wurden die Todesurteile, die mit der Bestätigungsorder rechtskräftig geworden waren, vollstreckt. Die Gültigkeit und der Bestand damaliger Urteile ist von den Verfassungsumbrüchen 1918/1919 und 1949 dem Grunde nach nicht berührt worden, sondern nur, soweit es zu einer zielgerichteten Aufhebung gekommen ist. Insofern ist im vorliegenden Zusammenhang auf die vom Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 mit Gesetzeskraft verkündete Amnestie „[f]ür alle politischen Straftaten“ hinzuweisen. Diese Maßnahme kann man in gewisser Hinsicht als Vorläufer der speziellen Rehabilitierungsgesetze1 begreifen, die, wie z.B. das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile, unter der Geltung des Grundgesetzes erlassen wurden. Solche speziellen Gesetze ergänzen den normalen Weg, den die Rechtsordnung zur Beseitigung rechtskräftiger Urteile zur Verfügung stellt: die Wiederaufnahme des Verfahrens. Diese ist unbefristet möglich, ist aber auf bestimmte Gründe beschränkt. Zu diesen gehört die Mitwirkung eines Richters, der sich einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten, z.B. einer Rechtsbeugung, schuldig gemacht hat. Nach dem Tode des Verurteilten kann die Wiederaufnahme auch von dessen Abkömmlingen und Geschwistern beantragt werden, allerdings nur noch mit dem Ziel des Freispruchs, nicht mit dem Ziel der Strafherabsetzung in Anwendung eines milderen Gesetzes. Die Wiederaufnahme ist zudem kein geeignetes Mittel, um einem grundlegenden Wandel der Rechtsanschauungen oder Gesetzeslage Rechnung zu tragen. 1 Dazu die Ausarbeitung „Parlamentarische Rehabilitierung Verurteilter, Zum Todesurteil gegen die Matrosen Köbis und Reichpietsch“, WD 3 – 3000 – 177/17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 5 2. Die Kriegsgerichtsurteile gegen Reichpietsch und Köbis Das Urteil2 gegen Reichpietsch und Köbis nimmt verschiedentlich auf das politische Geschehen der damaligen Zeit Bezug, z.B. die sog. Stockholmer Friedenskonferenz und die Ziele der USPD, ohne dieses näher zu erläutern. Daher wird im Folgenden zunächst die damalige politische Lage umrissen, soweit sie für das Verständnis der Marineunruhen 1917 und das kriegsgerichtliche Verfahren von Bedeutung ist (bei 2.1.). Sodann wird der äußere Ablauf der Unruhen geschildert (bei 2.2.). Schließlich wird auf das kriegsgerichtliche Urteil, die zugrunde liegenden Vorschriften und sein weiteres Schicksal eingegangen (bei 2.3. und 2.4.). 2.1. Politischer Hintergrund Im sog. Steckrübenwinter 1916/17 hatte sich die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Lebensmitteln dramatisch verschlechtert. Es kam zu lokalen Hungerprotesten und im Frühjahr 1917 zu ersten Streiks.3 In der politischen Diskussion mehrten sich die Stimmen, welche die Regierung aufforderten, sich zu einen Verständigungsfrieden zu bekennen. Ende März 1917 hatte der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat in einem Manifest „An die Völker der Welt“ dazu aufgerufen , den Krieg durch einen Frieden „ohne Annexionen und Kontributionen“ zu beenden.4 Im April griff die SPD diese Forderung auf.5 Anfang Juli schwenkte das Zentrum auf diese Linie ein.6 Dies ebnete den Weg zur sog. Friedensresolution des Reichstags, die dieser am 19. Juli mit den Stimmen von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei verabschiedete.7 Darin hieß es: „Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der 2 Urteil des Feldkriegsgerichts des IV. Geschwaders vom 25. August 1917, abgedruckt in: Schücking 10/1 S. 321 ff. 3 Vgl. Hirschfeld/Krumeich S. 148 ff., 230; Ullrich S. 478 f., 481. 4 Ullrich S. 514 f. Nach der Februarrevolution und dem Ende der Zarenherrschaft übte dieser eine Art Doppelherrschaft mit der Provisorischen Regierung aus (Ullrich a.a.O.). 5 In einem Beschluss vom 19. April erklärte sie es zu ihrer Pflicht, „die Regierungen zum klaren Verzicht auf jegliche Eroberungspolitik zu drängen und so rasch wie möglich entscheidende Friedensverhandlungen auf dieser Grundlage herbeizuführen.“ Am 15. Mai forderte der SPD-Fraktionsvorsitzende Scheidemann in einer Reichstagsrede die Regierung auf zu erklären, dass „die Haltung unserer Reichsleitung für den baldigen Abschluss eines für alle ehrenvollen, für alle erträglichen Friedens kein Hindernis abgeben wird.“ Zitate nach Huber, Dokumente , S. 177, 181. 6 Der Wendepunkt war eine Rede des Zentrumsabgeordneten Erzberger am 6. Juli 1917 im Haushaltsausschuss. Erzberger hatte in der Vergangenheit selbst ausschweifende Kriegsziele propagiert. Vor allem das Scheitern des im Februar 1917 aufgenommenen uneingeschränkten U-Boot-Krieges, veranlasste ihn zu einem Umdenken (Ullrich S. 522 f.; Huber, Verfassungsgeschichte, 288 f., 191 f.). 7 Huber, Verfassungsgeschichte, S. 321 (dort auch das genaue Abstimmungsergebnis). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 6 Völker. Mit einem solchen Frieden sind erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar.“8 Die absolute Formel „Keine Annexionen und Kontributionen!“ war darin nicht enthalten.9 Dies war einer der Gründe dafür, weshalb die Friedensresolution nicht von der USPD mitgetragen wurde. Diese war im April 1917 aus den SPD-Abgeordneten hervorgegangen, welche 1915 und 1916 gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite gestimmt hatten und deshalb im März 1916 aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen worden waren.10 Die USPD-Abgeordneten vermissten an der Friedensresolution die aus ihrer Sicht erforderliche „Klarheit und Bestimmtheit“ und legten einen eigenen Resolutionsentwurf vor, in dem es hieß: „Der Reichstag erstrebt einen Frieden ohne Annexionen irgendwelcher Art und ohne Kriegsentschädigungen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker.“11 Zur Erläuterung verlas der Fraktionsvorsitzende Haase eine Denkschrift, welche die USPD bereits kurz zuvor bei der sog. Stockholmer Friedenskonferenz vorgelegt hatte.12 Diese von den sozialistischen Parteien Hollands und der skandinavischen Ländern vorbereitete Konferenz war ein Versuch, die seit dem Kriegsausbruch stillgelegte sozialistische Internationale zu reaktivieren. An ihr sollten außer den sozialistischen Parteien der neutralen Staaten auch die der kriegführenden Mächte teilnehmen. Das gelang aber nicht, weil die westlichen Regierungen „ihren“ sozialistischen Parteiführern die Ausreise nicht gestattet hatten. Die Vertreter von USPD und SPD, die mit 8 Huber, Dokumente, S. 191. Die Oberste Heeresleitung war gegen die Resolution (Ullrich S. 528; Huber, Verfassungsgeschichte , S. 310 f.; ders., Dokumente, S. 190). Andererseits konnte der neue Reichskanzler Michaelis, der die Zustimmung des Reichstages für weitere Kriegskredite brauchte (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, S. 289, 321), sie nicht ignorieren. Er erklärte daher im Reichstag, dass die Ziele der Regierung im Rahmen der Resolution, „wie ich sie verstehe,“ erreichbar seien (vgl. Huber, Dokumente, S. 191 [192 f.]). 9 Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte, S. 318 f.; Ullrich S. 528. 10 Vgl. Ullrich S. 453 f. Die ausgeschlossenen Abgeordneten hatten zunächst eine eigene Fraktion, die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG), gebildet. 11 Verhandlungen des Reichstags, XIII Legislaturperiode, II. Session, 1914-1918, Band 310, S. 3582 f. (Resolutionstext ), 3588 (mangelnde Klarheit und Bestimmtheit des Mehrheitsentwurfs). 12 Verhandlungen des Reichstags a.a.O. S. 3590 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 7 Erlaubnis der Reichsleitung Anfang Juni angereist waren, referierten ihre unterschiedlichen Vorstellungen daher in einem Treffen mit dem holländisch-skandinavischen Komitee.13 Zu der ursprünglich beabsichtigten Fortsetzung der Konferenz ab 15. August bzw. im September 191714 kam es nicht.15 In der Stockholmer USPD-Denkschrift, die Haase in der Reichstagsdebatte über die Friedensresolution am 19. Juli verlas, hieß es unter anderem, dass die „Gesamtinteressen des internationalen Proletariats und der sozialen Entwicklung […] den sofortigen Frieden [erheischen]“, dass „[z]unächst […] das Proletariat in jedem Lande alles zu tun [hat], um den Abschluss des Weltkrieges herbeizuführen, den Frieden zu erringen“, dass die „Aufstellung eines gemeinsamen Friedensprogramms […] wichtig [ist]“, dass dieses Programm aber „wesensloser Schall und Rauch [ist], wenn es nicht von einer energischen internationalen Aktion der Volksmassen getragen wird […] Von jeder Regierung ist die unbedingte Annahme des internationalen Friedensprogramms zu fordern. Die Kredite sind jeder Regierung zu verweigern, die dieses Programm ablehnt oder auch nur ausweichend beantwortet, oder die sich nicht bereit erklärt, in sofortige Friedensverhandlungen auf Grundlage dieses Programms einzutreten. Sie ist auf das entschiedenste zu bekämpfen .“16 2.2. Ablauf der Marineunruhen 1917 Die allgemeine Verschlechterung der Versorgungslage im Winter 1916/1917 wirkte sich auch auf die Qualität der Verpflegung der Besatzungen der deutschen Großkampfschiffe aus, die seit der Skagerrak-Schlacht (31. Mai/1. Juni 1916) weitgehend untätig vor Wilhemshaven ankerten. Die Verschiedenheit des Essens von Offizieren und Mannschaften erregte vor diesem Hintergrund zunehmend Unmut unter Heizern und Matrosen.17 13 Huber, Verfassungsgeschichte, S. 287, der das Treffen als „Vorkonferenz“ bezeichnet. Der genaue Zeitraum der Konferenz ist unklar. Die Angaben reichen von „2. Juni bis 19. Juni“ (Wikipedia-Artikel „Stockholmer Friedenskonferenz “ [https://de.wikipedia.org/wiki/Stockholmer_Friedenskonferenz_von_1917, letzter Zugriff 7. November 2017]), über „vom 4. Juni 1917 ab“ (Huber a.a.O.) bis zu „Sommer 1917“ (Prager S. 157) und „Juli“ (Dittmann S. 22, ihm folgend Regulski S. 87). 14 Vgl. Dittmann S. 22; Regulski 87. 15 Vgl. Social History portal (http://www.socialhistoryportal.org/stockholm1917, letzter Zugriff 7. November 2017): “The conference never took place”. 16 Verhandlungen des Reichstags a.a.O. S. 3590, 3592. 17 Regulski S. 69 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, S. 361. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 8 Im Juli 1917 wurden auf den Schiffen sog. Menagekommissionen gebildet,18 deren Einrichtung das Reichsmarineamt am 20. Juni angeordnet hatte19. Die Kommission auf „Friedrich der Große“, in der Reichpietsch mitwirkte, der auf diesem Schiff seinen Dienst als Oberheizer20 verrichtete, entwickelte sich dabei zu einer allgemeinen Beschwerdestelle, die sich nicht nur mit der Verpflegung , sondern auch mit der Urlaubsgewährung und sonstigen Fragen des Dienstes befasste. Sie war Vorbild und Ansprechpartner für die Kommissionen auf den anderen Schiffen, wie der auf der „Prinzregent Luitpold“, in der Köbis mitwirkte, der auf diesem Schiff seinen Dienst als Heizer verrichtete. 21 Bei den schiffsübergreifenden Zusammenkünften wurde auch über politische Dinge und hierbei vor allem über die Friedensaussichten diskutiert.22 Unter den Mannschaften kursierten Namenslisten , in denen die Aufgeführten ihren Beitritt zur USPD erklärten und deren Friedenspolitik unterstützten .23 In einer hieß es: „Wir alle, deren Namen und Personalien dieses Verzeichnis enthält , treten hiermit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei, und erklären uns mit deren Politik einverstanden. Gleichzeitig erklären wir hiermit, daß wir mit einem Frieden ohne Annektionen und Kriegsentschädigung einverstanden sind, und wünschen deshalb die Herbeiführung eines schnellen Friedens. Wir hoffen, daß die Stockholmer Konferenz der Sozialisten aller Länder von Erfolg gekrönt sein wird und der Friede auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker herbeigeführt […] wird […]“.24 Mehrfach suchten Matrosen und Heizer während ihres Heimaturlaubs USPD-Politiker auf, so auch Reichpietsch, der sich im Juni 1917 mit den Abgeordneten Dittmann, Vogtherr und Haase sowie der damaligen USPD-Funktionärin und späteren Abgeordneten Zietz traf.25 18 Regulski S. 94 f.; Huber, Verfassungsgeschichte, S. 361; Dittmann, S. 9. 19 Vgl. Dittmann S. 9 f. Dieser berichtet, aus Marineakten zitierend, dass die militärische Flottenleitung zunächst am 20. Juli beim Reichsmarineamt um nähere Erläuterungen zum Erlass gebeten habe, die erst am 2. August erteilt worden seien. Die Mannschaften hätten zwischenzeitlich aber aus der Presse von dem Erlass des Reichsmarineamtes erfahren und die Kommissionen ab Anfang Juli eingefordert (ähnlich Regulski S. 92 ff.). 20 Reichpietsch wird im Urteil (a.a.O . S. 321) als Oberheizer bezeichnet, von Regulski (a.a.O. S. 316) dagegen als Matrose. 21 Regulski S. 94 f.; Dittmann S. 9 ff. 22 Regulski S. 94 f.. 125 ff.; Dittmann S. 13, 22 ff. 23 Regulski S. 128 ff.; Dittmann S. 22 ff. 24 Zitiert nach Dittmann S. 23. 25 Regulski S. 99 ff.; Dittmann S. 30 ff. Gegen Luise Zietz, die als Nichtabgeordnete nicht durch die parlamentarische Immunität nach Art. 31 der Reichsverfassung geschützt war, wurde eine strafrechtliche Voruntersuchung eingeleitet. Diese kam Anfang 1918 zu dem Ergebnis, dass sich eine strafrechtlich relevante Verwicklung der Angeschuldigten nicht nachweisen lasse und das vorliegende Beweismaterial auch keinen Antrag auf Aufhebung der Immunität der genannten Abgeordneten zu rechtfertigen vermöge (vgl. Schlussbericht vom 18. Februar 1918, abgedruckt in: Schücking 9/1 S. 209 ff.; vgl. zusammenfassend auch Huber, Verfassungsgeschichte, S. 371; Regulski S. 206 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 9 Bereits Anfang Juni 1917 war es zu einem ersten „Hungerstreik“ auf der „Prinzregent Luitpold“, also Köbis‘ Schiff, gekommen. Die Mannschaft hatte sich geweigert das Mittagessen abzuholen und sich über dessen Qualität beschwert. Ende Juni wurden aus Protest gegen den 1. Offizier des Schiffes die Seile der Kohlekörbe durchgeschnitten und beim Kohleladen bewusst langsam gearbeitet . Anfang Juli trat dann die Mannschaft des Flottenflaggschiffs „Friedrich der Große“, also Reichpietschs Schiff, zunächst nicht zum Dienst an. Bei der vorangegangen Nachtschießübung, die bis 1 Uhr morgens gedauert hatte, hatten die Mannschaften das für den anderen Tag bestimmte Brot aufgegessen, am nächsten Morgen aber kein neues bekommen. Mitte Juli kam es auf der „Posen“ zu Beschwerden über das Essen, am 19. Juli auf der „Prinzregent Luitpold“ zu einem zweiten Hungerstreik, und am 20. Juli entfernten sich 140 Mann unerlaubt von der „Pillau“, nachdem ihre Urlaubsanträge nicht genehmigt worden waren.26 Am 1. und 2. August fanden auf der „Prinzregent Luitpold“, also auf Köbis‘ Schiff, schließlich die Ereignisse statt, die eine kriegsgerichtliche Untersuchung auf der Grundlage der Militärstrafgerichtsordnung (MilStGO)27 und des Militär-Strafgesetzbuches (MilStGB)28 auslösen sollten: Weil ihnen ein Kinobesuch verweigert wurde, entfernten sich am Morgen des 1. August 49 Mann unerlaubt vom Schiff. Nach ihrer Rückkehr am späten Vormittag wurden elf von ihnen mit Arrest bestraft. Aus Protest gegen die Bestrafung verließen am Morgen des 2. August etwa 400 Mann unerlaubt das Schiff, konnten nach einigen Stunden aber ohne Anwendung von Gewalt wieder zurückgeholt werden.29 2.3. Kriegsgerichtliche Verfahren 2.3.1. Meuterei und militärischer Aufruhr Das Kriegsgericht bewertete die Entfernung von den Schiffen als Meuterei und als militärischen Aufruhr im Sinne von § 103 und § 106 MilStGB.30 § 103 Abs. 1 Satz 1 sah eine Bestrafung wegen Meuterei vor, wenn „Mehrere eine gemeinschaftliche Verweigerung des Gehorsams oder eine gemeinschaftliche Widersetzung oder Thätlichkeit gegen den Vorgesetzen [verabreden]“. Der Tatbestand des militärischen Aufruhrs war gemäß § 106 MilStG verwirklicht, wenn „Mehrere sich zusammenrotten und mit vereinten Kräften es unternehmen, dem Vorgesetzten den Gehorsam zu verweigern, sich ihm zu widersetzen oder ein Thätlichkeit gegen denselben zu begehen“. Das Gericht sah jeweils die Variante der Gehorsamsverweigerung als gegeben an.31 Da die Straftat „im Felde“, d.h. während des mobilen bzw. Kriegszustandes (vgl. § 9 MilStGB), begangen worden 26 Vgl. zu diesen Ereignissen Regulski S. 88 f., 135 f.; Dittmann S. 7 f. 27 Vom 1. Dezember 1889 (RGBl. S. 1189; 1899, S. 132); online unter https://de.wikisource.org/wiki/Milit %C3%A4rstrafgerichtsordnung (letzter Zugriff 7. November 2017). 28 Vom 20. Juni 1872 (RGBl. S. 174-204, 288; 1873, S. 138); online unter http://www.documentarchiv .de/ksr/1872/militaerstrafgesetzbuch_deutsches-reich.html (letzter Zugriff 7. November 2017). 29 Dittmann S. 8; Regulski S. 152 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, S. 366. 30 Urteil des Feldkriegsgerichts des IV. Geschwaders vom 23. August 1917, in: Schücking 10/1 S. 316 ff. 31 A.a.O. S. 320. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 10 war, verhängte das Gericht gegen Rädelsführer gemäß § 107 MilStGB die Todesstrafe, die dann aber in eine Freiheitsstrafe abgemildert wurde.32 2.3.2. Kriegsverräterische Aufstandserregung: Reichpietsch und Köbis Zwei Tage später, am 25. August 1917, wurden von einem anderen Feldkriegsgericht fünf Matrosen und Heizer, darunter Reichpietsch und Köbis, wegen „vollendeter kriegsverräterischer Aufstandserregung “ gemäß §§ 56, 57, 58 Nr. 1 MilStGB in Verbindung mit §§ 89, 90 Nr. 6 des Reichstrafgesetzbuches (RStGB)33 zum Tode verurteilt.34 Eine Strafbarkeit nach diesen Vorschriften hatte unter anderem zur Voraussetzung, dass der Täter „mit dem Vorsatze, einer feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder den deutschen oder verbündeten Truppen Nachtheil zuzufügen, […] während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges […] einen Aufstand unter Angehörigen der deutschen oder einer verbündeten Kriegsmacht erregt.“ Das Gericht bejahte sowohl eine Nachteilszufügung als auch eine Aufstandserregung. Die Nachteilszufügung habe in einer „Lockerung der Disziplin und Infragestellung der Schlagfertigkeit der Flotte“ gelegen.35 In Bezug auf das Merkmal der Aufstandserregung räumte das Gericht ein, dass es weder zu einem „äußeren Losschlagen“ noch zur „Gewaltanwendung“ gekommen war. Gleichwohl bejahte es eine vollendete Aufstandserregung, weil „bereits in der Bildung einer mit bestimmten landesverräterischen Zielen bestehenden Organisation, die auf einen Wink der Leitung jeden Augenblick losschlagen konnte,“ dieser Tatbestand nicht nur versucht, sondern auch verwirklicht sei. Eine derartige zum Losschlagen bereite Organisation habe unter anderem auf „Friedrich der Große“ und „Prinzregent Luitpold“ bestanden. Die Organisation sei auf diesen Schiffen auch so weit gediehen gewesen, dass von einer bloßen Gärung oder versuchten Aufstandserregung nicht mehr die Rede sein könne, zumal es auf „Prinzregent Luitpold“ (also Köbis‘ Schiff) zur Massenentfernung , zum Hungerstreik und zur Beschädigung der Akkumulatoren gekommen sei, und auf einem weiteren Schiff zur Massenentfernung. Reichpietsch sei einer der „Zentralleiter der ganzen Bewegung“ gewesen, Köbis habe ebenfalls „eine Hauptrolle in der ganzen Bewegung gespielt, insbesondere auch einen wesentlichen Anteil an dem Massenstreik am 1. und 2. August auf S. M. S. ‚Prinzregent Luitpold‘.“36 Worin genau es „die Organisation“, welche die Verurteilten gebildet haben sollten, erblickte, führte das Gericht im Folgenden nicht weiter aus. Gleiches gilt für die „bestimmten landesverräterischen Ziele“, die diese Organisation nach Auffassung des Gerichts verfolgte. Berücksichtigt 32 A.a.O. S. 320 f. 33 In der Fassung des Änderungsgesetzes vom 3. Juli 1893 (RGBl. S. 44), online unter http://lexetius .com/StGB/90,13 (letzter Zugriff 7. November 2017). 34 Vgl. Urteil des Feldkriegsgerichts des IV. Geschwaders vom 25. August 1917, in: Schücking 10/1 S. 321 ff. 35 A.a.O. S. 328 f. 36 A.a.O. S. 329. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 11 man die seiner rechtlichen Bewertung vorangestellten Ausführungen zum ermittelten Sachverhalt 37, wird man das Gericht aber wohl folgendermaßen verstehen müssen: Unter dem Deckmantel der Menagekommissionen hatten die Verurteilten eine Organisation geschaffen, deren Ziel es war, die (erwarteten) Beschlüsse der Stockholmer Friedenskonferenz nach Maßgabe von noch zu erteilenden Anweisungen der USPD-Zentrale in Berlin notfalls gewaltsam durch einen Flottenstreik durchzusetzen. Die Hungerstreiks, die Beschädigung der Akkumulatoren, vor allem aber die Massenentfernung von der „Prinzregent Luitpold“ (für die es in erster Linie Köbis verantwortlich machte) dienten dem Gericht dabei als Beleg für die Schlagkraft und Entschlossenheit der Organisation, auch wenn diese Aktionen, wie das Gericht einräumte, noch nicht der Durchsetzung ihrer eigentlichen Ziele, der Erzwingung des Friedens, gedient und auch noch nicht die Dimensionen eines Flottenstreiks angenommen hatten. So heißt es im Urteil: „Wenn auch diese Vorfälle auf ‚Prinzregent Luitpold‘ aus örtlichen Anlässen entstanden sein mögen, so hatte nach Ansicht des Gerichts die Geschlossenheit dieses Losschlagens doch ihre innere Ursache aus dem Umfang der ganzen anarchischen Flottenorganisation. Man fühlte sich kräftig genug, einen Schlag zu wagen. Ähnlich war es mit dem vorangegangenen Hungerstreik auf ‚Prinzregent Luitpold‘ und mit der Beschädigung der Akkumulatoren, ferner mit der Massenentfernung von der ‚Pillau‘.“38 Das Ziel der Organisation ergab sich für das Gericht maßgeblich aus deren Nähe zur USPD, von der das Gericht (ohne dies näher zu begründen) ebenfalls annahm, dass sie für die „nötigenfalls zwangsweise Durchführung der Beschlüsse der Stockholmer Konferenz im Wege des Generalstreiks “ bzw. durch einen „Flottenstreik“ sei.39 Die Nähe zur USPD wiederum manifestierte sich nach Auffassung des Gerichts zum einen in den Kontakten des Reichpietsch zu USPD-Funktionären und zum anderen in den unter den Mannschaften kursierenden Listen, in denen der Beitritt zur USPD und das Einverständnis mit deren Politik erklärt wurde. Dabei behauptete das Gericht freilich nicht, Beweise dafür zu haben, dass die USPD-Funktionäre Reichpietsch dazu aufgefordert hätten, unter den Mannschaften für die Durchsetzung von USPD- Zielen mithilfe eines Flottenstreiks zu werben, auch wenn es Zweifel an dessen Einlassung hegte, dass dies nicht der Fall gewesen sei: „Mehr [als Gespräche über Verpflegungsangelegenheiten, das Verbot des Haltens von USPD-Zeitungen, Mitgliedsbeitritte, Listenformulare und die Verbreitung von Reden von USPD-Abgeordneten] soll angeblich in Berlin nicht geschehen sein.“ Allerdings habe Reichpietsch zugegeben, „daß ihm die Sicht der Partei über die nötigenfalls zwangsweise Durchführung der Beschlüsse der Stockholmer Konferenz im Wege des Generalstreiks bekannt seien.“ Nach den Angaben Sachses (eines weiteren Verurteilten) sei dann nach der Rückkehr des Reichpietsch von Berlin „die Bewegung unter den bis dahin beteiligten Flottenmannschaften mit dem letzten Ziele der USPD, nötigenfalls die gewaltsame Durchführung der Stockholmer Konferenzbeschlüsse durch einen Flottenstreik zu unterstützen, mehr in Fluß [gekommen ]. Insbesondere war man fest entschlossen, bei Hungerstreiks die Befehle, auf aufständige 37 A.a.O. S. 323 - 328. 38 A.a.O. S. 327. 39 A.a.O. S. 324 ff., Zitate auf S. 324. Die von Reichpietsch eingeräumten Aktivitäten der USPD-Funktionäre waren für sich genommen nicht strafbar (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, S. 371). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 12 Massen zu schießen, nicht auszuführen. Im übrigen war man sich im einzelnen über das ‚Wie‘ noch nicht schlüssig. Man wollte Anweisung von Berlin abwarten, auf die man nach der Stockholmer Konferenz mit Bestimmtheit rechnete.“40 Auch in Bezug auf die Listen räumt das Gericht ein, dass diese ihrem Wortlaut nach nicht notwendigerweise als Aufruf zur Gewalt oder zum Streik zu verstehen gewesen seien. Dass ihnen gleichwohl diese Funktion zugekommen sei, ergab sich für das Gericht wieder erst aus den Aussagen Reichpietschs. „Es ist wohl anzunehmen, jedenfalls hat sich das Gegenteil nicht erweisen lassen, daß ein großer Teil der Mitglieder durch Vorspiegelung des bloßen Beitritts zur USPD eingefangen war. Allerdings waren sich die Hauptbeteiligten, wie Reichpietsch erklärt, über die letzten Ziele der Bewegung und nötigenfalls der Gewaltanwendung im Falle eines Flottenstreiks auch vollkommen klar und hierzu auch fest entschlossen. Wenn auch ein entsprechendes Programm schriftlich nicht niedergelegt sein mag, so waren doch sämtlichen Angeklagten zugestanden die Tendenzen desselben bekannt. In Kenntnis dieser Tendenzen haben sämtliche Angeklagten gearbeitet und Mitglieder zum Zwecke der Verwertung auf der Stockholmer Konferenz zur Erzwingung des Friedens geworben […].“41 Das Gericht verurteilte fünf Angeklagte, darunter Reichpietsch und Köbis, damals 22 und 24 Jahre alt, zum Tode.42 Die Annahme einer vollendeten Aufstandserregung war dafür notwendige Voraussetzung. Hätte das Gericht nur eine versuchte Aufstandserregung angenommen, wäre die Strafe zwingend in eine Zuchthausstrafe zu mildern gewesen.43 Vier weitere Angeklagte wurden zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt: zwei, weil das Gericht einen minder schweren Fall annahm, zwei, weil das Gericht bei ihnen von einer nur versuchten kriegsverräterischen Aufstandserregung ausging.44 2.3.3. Bestätigung der Urteile und Rechtskraft Auch Urteile von Kriegsgerichten konnten grundsätzlich mit den Rechtsmitteln der Berufung und der Revision angefochten werden.45 Das galt allerdings nicht, wenn das Urteil, wie vorliegend ,46 „im Felde“ ergangen war,47 d.h. während des mobilen Zustandes der Marine.48 Auch in diesem Falle wurde das Urteil aber nicht sofort rechtskräftig und vollstreckbar, sondern erst, 40 A.a.O. S. 324 f. 41 A.a.O. S. 326. 42 A.a.O. S. 322 f. 43 Vgl. § 44 Abs. 1, 2 RStGB, § 2 MilStGB. 44 Urteil vom 25. August 1917, in: Schücking 10/1 S. 322. 45 Vgl. § 378 Abs. 1, § 397 Abs. 1 MilStGO. 46 Vgl. Urteil vom 25. August 1917, in: Schücking 10/1 S. 321 (322). 47 Vgl. § 419 MilStGO. 48 Vgl. § 5 Nr. 1 des Einführungsgesetzes zur Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1989 (RGBl. S. 1289). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 13 wenn es durch die vom Kaiser bestimmte Person bestätigt wurde.49 Vor der Entscheidung über die Bestätigung war der Verurteilte darüber zu vernehmen, ob und welche Beschwerden er gegen das Urteil vorzugbringen hatte.50 Der Befehlshaber, dem das Bestätigungsrecht zustand, war befugt , eine Vervollständigung der Untersuchung anzuordnen.51 Bei Todesurteilen durfte die Bestätigung nur aufgrund des schriftlichen Rechtsgutachtens eines richterlichen Militärjustizbeamten oder, in Ermangelung eines solches, eines zum Richteramte befähigten Beamten oder Offiziers erfolgen.52 Eine Bindung des Inhabers des Bestätigungs- und Aufhebungsrechts an das Votum des Gutachters bestand nicht. 53 Das Reichpietsch und Köbis betreffende Urteil war von einem Feldkriegsgericht gefällt worden, so dass es Rechtskraft und Vollstreckbarkeit mit der Bestätigung erlangte. In der Bestätigungsorder vom 2. September 1917 milderte Flottenchef Admiral Scheer die Zuchthausstrafen und wandelte drei der fünf Todesurteile in Zuchthausstrafen um, nicht aber die gegen Reichpietsch und Köbis, 54 die bereits wenige Tage später, am 5. September, vollstreckt wurden55. Das vor Erlass der Bestätigungsorder eingeholte Gutachten56 hatte Zweifel an der Auffassung des Gerichts artikuliert, dass eine vollendete und damit die Todesstrafe nach sich ziehende Aufstandserregung vorgelegen habe und nicht nur ein milder zu bestrafender Versuch. Zugleich wurde die Auslegung des Gerichts aber als vertretbar bezeichnet. Wörtlich heißt es: „Da sich Literatur und Rechtsprechung, soweit mir bekannt und zugänglich, – nämlich darüber, worin die Erregung eines Aufstandes zu erblicken ist – völlig ausschweigen, muß versucht werden, die Bedeutung der fraglichen Tatbestandsmerkmale im Wege der Auslegung festzustellen […] Unter Aufstand wird man […] eine größere in der Regel bewaffnete Bewegung gewaltsamer Art gegen die Vorgesetzten und die in ihnen verkörperte staatliche Autorität zu erblicken haben. Eine solche Erhebung war […] wenn nicht schon der Zweck, so doch jedenfalls der unter gewissen Voraussetzungen angenommene Erfolg des Treibens der Angeklagten […] Mit dem Kriegsgericht bin ich der 49 Vgl. §§ 420, 422 MilStGO. 50 Vgl. § 423 Abs. 1 MilStGO. 51 Vgl. § 427 MilStGO. 52 Vgl. 425 Abs. 1 MilStGO. Der Gutachter sollte gemäß § 426 MilStGO nicht an der Hauptverhandlung als Richter, Anklagevertreter oder Verteidiger mitgewirkt haben. 53 Vgl. Koppmann, MilStGO, § 430 Anm. 3 und 4. Eine Ausnahme gab es gemäß § 238 MilStGO, wenn der Bestätigungsberechtigte nicht zugleich der Aufhebungsberechtigte war und das Gutachten wesentliche Bedenken gegen die Gesetzlichkeit des Urteils oder gegen die tatsächlichen Feststellungen erhob. Dann musste der Bestätigungsberechtigte das Urteil dem Aufhebungsberechtigten vorlegen; dieser musste erneut ein Gutachten einholen , war an dessen Votum aber nicht gebunden (vgl. Koppmann a.a.O.). 54 Die Bestätigungsorder ist abgedruckt in Schücking 10/1 S. 330. 55 Dittmann S. 67. 56 Erstattet von Oberkriegsgerichtsrat De Bary am 30. August 1917. Es wird auszugsweise von Dittmann S. 63 f. und Brüninghaus, in: Schücking 9/1, S. 317 f., wiedergegeben, nach denen im Folgenden zitiert wird. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 14 Meinung, daß der geplante und vorbereitete Aufstand […] noch nicht als ‚ausgebrochen‘ (im Gegensatz zu erregt) angesehen werden kann. Das Gericht sieht aber die Aufstandserregung schon damit als vollendet an, daß bereits eine Organisation mit bestimmten landesverräterischen Zielen bestand, die auf einen Wink der Leitung jederzeit losschlagen konnte. Diese Auslegung des Begriffs Erregung eines Aufstandes läßt sich vertreten, ich habe aber Zweifel, ob sie den Sinn der gesetzlichen Bestimmungen richtig wiedergibt und nicht vielmehr den Begriff zu weit faßt. Meiner Ansicht entspricht es mehr, den Tatbestand des § 90 Ziffer 6 erst dann als erfüllt anzusehen, wenn der Aufstand ins Leben getreten, wenn die beabsichtigte gewaltsame Erhebung auch äußerlich in Erscheinung getreten ist. Wenn das Kriegsgericht demgegenüber von einem ‚latenten‘ Aufstand spricht, der infolge der Vorbereitung der Angeklagten als bereits vorhanden, als ‚erregt‘ anzusehen sei, so erscheint das sowohl nach dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens als nach den Regeln der Gesetzesauslegung nicht überzeugend … Ich halte daher die Verurteilungen der 7 Angeklagten wegen vollendeter Aufstandserregung für juristisch anfechtbar [… ]. Aus den angeführten Gründen stehen der unveränderten Bestätigung des Urteils Bedenken entgegen. Eine Aufhebung des Urteils ließe sich dadurch vermeiden, daß die erkannten Strafen […] entsprechend gemildert würden und an Stelle der Todesstrafe lebenslängliche oder zeitliche Zuchthausstrafe träte.“ Gegen die Annahme einer vollendeten Aufstandserregung hatte auch der Verteidiger von Reichpietsch in seiner Beschwerdeschrift plädiert.57 Köbis‘ Verteidiger hatte sogar eine versuchte Aufstandserregung bestritten, weil nicht habe festgestellt werden können, dass die geschaffene Organisation das „ausgesprochene Programm“ gehabt habe, „den Frieden durch Gewaltanwendung zu erzwingen […] Ein solches ist weder aufgestellt, noch zur Beschlussfassung gekommen. Die Organisation bezweckte vielmehr möglichst viele Mitglieder für die USP. zu werben. Es wurden Mitgliederlisten aufgestellt, die die zur Stockholmer Konferenz reisenden Vertreter der USP. nach dort mitnehmen sollten, um darzutun, wie viele Leute der Flotte hinter ihnen stünden.“58 Flottenchef Scheer setzte sich mit dem Gutachten auseinander, folgte aber letztlich der Auffassung des Gerichts: „Die in dem Rechtsgutachten gemachten Bedenken erkenne ich an. Ich gelange aber trotz danach bestehenden Zweifeln zu der Auffassung, daß der Gerichtsherr und das Feldkriegsgericht die Bestimmungen des § 90, 6 StGB richtig ausgelegt haben. Auch nach meiner Überzeugung erregt einen Aufstand, wer in landesverräterischer Absicht zur Herbeiführung eines Aufstandes tätig wird; der Eintritt des von ihm gewollten Erfolges ist keine notwendige Voraussetzung für die Anwendung des Gesetzes.“59 2.3.4. Kritik Die Rechtsauffassung des Gerichts, dass die Erregung eines Aufstandes bereits durch Bildung einer Organisation vollendet sein könne, stieß schon damals auf Verwunderung, auch wenn der Hinweis im Bestätigungsgutachten, dass sich Rechtsprechung und Literatur zu dieser Frage (bis 57 Vgl. Dittmann S. 64. 58 Zitiert nach Dittmann S. 64. 59 Zitiert nach Dittmann S. 66. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 15 dahin) ausgeschwiegen hätten, zutreffend zu sein scheint60. Der Chefjurist des Reichsmarineamtes prognostizierte noch wenige Tage vor der Hauptverhandlung, dass das Gericht die Vorbedingungen des vollendeten Verbrechens nicht als erfüllt ansehen werde, „da ein ‚wirklicher Aufstand ‘ noch nicht ausgebrochen ist.“ 61 Ein Prozessbeobachter drückte seine Kritik am Urteil so aus: „Man kann sich organisieren zur Pflege des Kirchengesanges, zur Erlangung besserer Arbeitsbedingungen , zur Entfesselung eines Aufstandes; die Organisation ist darum aber noch nicht Kirchengesang, besserer Lohn und Aufstand.“62 Für den Abgeordneten Dittmann, der 1925/1926 als Mitglied des Kriegs- bzw. Niederlagenschuld -Untersuchungsausschusses des Reichstages die einschlägigen Marineakten auswertete,63 war diese, den Weg zur Todesstrafe ebnende Auslegung des Kriegsgerichts daher das „Ungeheuerlichste in den Gerichtsverfahren“.64 Indem Flottenchef Scheer sich über die Bedenken seines Gutachters hinweggesetzt und das Urteil bestätigt habe, habe er diesem „den letzten Schein von Recht und Gesetz“ genommen.65 An anderer Stelle spricht Dittmann von „Justizmorden“.66 In der 60 Weder der damalige Standardkommentar zum RStGB geht auf das Merkmal der Aufstandserregung ein (vgl. Olshausen , StGB, § 90) noch der einzige in der Bundestagsbibliothek befindliche Kommentar zum Militärstrafgesetzgesetzbuch (vgl. Romen/Rissom, MilStGB, § 58). 61 Zitiert nach Dittmann S. 62 f. 62 Vermerk des Hauptmanns Brande, zitiert nach Dittmann S. 65. 63 Wilhelm Dittmann (1874 – 1954) war einer der USPD-Abgeordneten, mit denen sich Reichpietsch im Sommer 1917 in Berlin getroffen hatte, er nahm an der Stockholmer Konferenz teil und wurde Anfang 1918 wegen seiner Beteiligung am sog. Januarstreik wegen versuchten Landesverrats zu Festungshaft verurteilt, aus der er aufgrund des Amnestieerlasses der Regierung Max von Baden vom 12. Oktober 1918 vorzeitig entlassen wurde (Huber, Verfassungsgeschichte, S. 287, 446 f., 609). Er gehörte für die USPD dem Rat der Volksbeauftragten an (Huber a.a.O. S. 713). Nach der Wiedervereinigung von USPD und SPD im Jahre 1922 wurde er geschäftsführender Vorsitzender der SPD-Fraktion (https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Dittmann, letzter Zugriff 7. November 2017), die er ab 1925 im Kriegsschuld-Untersuchungsausschuss vertrat (Heinemann S. 155 ff., 266). Als in den an diesen herausgegebenen Akten eine Denkschrift des Nachrichtenwesens der Marine entdeckt wurde, in dem ihm und anderen USPD-Politikern der Vorwurf gemacht wurde, für die Marineunruhen 1917 mitverantwortlich zu sein, der 1925 im Rahmen eines Ehrverletzungsprozesses (dem sog. Münchener Dolchstoßprozess) zudem öffentlich gemacht wurde, forderte der Ausschuss auf Antrag Dittmanns die zugrunde liegenden Marineakten einschließlich der Prozessakten von 1917 an. Dieser wertete sie aus (nach eigenen Angaben etwa 25.000 Seiten) und referierte sie in Auszügen am 22./23. Januar 1926 in einer öffentlichen Sitzung (vgl. Philipp, in: Schücking 9/1 S. 1 f.). Sein Bericht wurde in der Öffentlichkeit als Sensation empfunden und löste die sog. Dittmann-Kontroverse aus (Heinemann S. 188). Da die Prozessakten nicht erhalten sind (Regulski S. 12 Fn. 19, 13 Fn. 25), dürfte der Dittmann-Bericht, welcher 1926 auch als Buch veröffentlicht wurde, heute eine der Hauptquellen für die damaligen Ereignisse sein. 64 Dittmann S. 62 ff. (Zitat auf S. 62). 65 Dittmann S. 66. 66 Dittmann S. 4 und im Titel seines vor dem Untersuchungsausschuss gehaltenen und später als Buch veröffentlichten Referats („Die Marine-Justizmorde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918“). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 16 Sache macht er damit einen Verstoß gegen den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ (nulla poena sine lege) geltend, der seinerzeit bereits einfachrechtlich verankert war,67 seit der Weimarer Reichsverfassung den Rang einer Verfassungsbestimmung hat68 und als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips angesehen wird69. Es ist im Schrifttum darauf hingewiesen worden, dass das Gericht mit seinem weiten Aufstandserregungsbegriff den Straftatbestand des Kriegsverrats letztlich parallel zu dem des Hochverrats ausgelegt habe, der ebenfalls nicht erst mit der Ausführung, sondern bereits mit dem „Unternehmen “ eines Verfassungsumsturzes vollendet sei.70 Im Grunde erhellt aber gerade dieser Vergleich, wie problematisch die Auslegung des Gerichts war und dass es sich eben doch um einen Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege in seiner Ausprägung als Analogieverbot71 gehandelt haben könnte. Während die unterschiedlichen Varianten des Hochverrats nämlich ausdrücklich als „Unternehmensdelikt“ ausgestaltet waren,72 war das beim Kriegsverrat in der hier angewandten Variante der Aufstandserregung gerade nicht der Fall73. Dittmann hat eine Reihe weiterer Kritikpunkte an den Kriegsgerichtsverfahren vorgetragen. Anklage und Gericht hätten den politischen Charakter der Unruhen und die Gewaltbereitschaft der beteiligten Matrosen und Heizer überbewertet.74 Über die Friedensaussichten sei unter den Mannschaften zwar (wie auch im Reichstag) diskutiert worden, eigentliche Ursache der Unruhen 67 § 2 RStGB, der als Teil der „Einleitenden Bestimmungen“ über § 2 MilStGB auch für die Militärgerichtsbarkeit galt (vgl. Romen/Rissom, MilStB, § 2 Anm. 1). 68 Art. 116 WRV, Art. 103 Abs. 2 GG. 69 Vgl. nur Jarrass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 61 m.w.N. 70 Huber, Verfassungsgeschichte, S. 370. 71 Dazu Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 70 f. 72 Unter „Unternehmensdelikt“ versteht man Straftatbestände, bei denen Versuch und Vollendung einander gleichgestellt sind (vgl. § 11 Nr. 6 StGB). So hieß es in § 80 RStGB: „Der Mord und der Versuch des Mordes, welche an dem Kaiser, an dem eigenen Landesherrn, oder während des Aufenthalts in einem Bundesstaate an dem Landesherren dieses Staats verübt worden sind, werden als Hochverrath mit dem Tode bestraft.“ § 81 RStGB lautete: „Wer außer den Fällen des § 80 es unternimmt, 1) einen Bundesfürsten zu tödten, gefangen zu nehmen, in Feindes Gewalt zu liefern oder zur Regierung unfähig zu machen, 2) die Verfassung des Deutschen Reichs oder eines Bundesstaats […] gewaltsam zu ändern […], wird wegen Hochverraths mit lebenslänglichem Zuchthaus oder lebenslänglicher Festungshaft bestraft.“ In § 82 hieß es klarstellend: „Als ein Unternehmen, durch welches das Verbrechen des Hochverraths vollendet wird, ist jede Handlung anzusehen, durch welche das Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden soll“ (Hervorhebungen nicht im Original). 73 § 58 Nr. 1 MilStGB verlangte, dass der Täter eine der in § 90 RStGB bezeichneten „Handlungen begeht“. In § 90 Nr. 6 RStGB heißt es, wer „einen Aufstand unter Angehörigen der deutschen oder einer verbündeten Kriegsmacht erregt“, nicht, wer es „unternimmt“, einen solche Aufstand zu erregen. – Der Kriegsverrat in der Variante des § 58 Nr. 8 MilStGB war hingegen als Unternehmensdelikt ausgestaltet (wer „es unternimmt, mit Personen im feindlichen Herr […] über Dinge, welche die Kriegführung betreffen, […] Verkehr zu pflegen.)“ Dies kann als weitere indirekte Bestätigung dafür aufgefasst werden, dass § 58 Nr. 1 MilStGB nicht als Unternehmensdelikt zu verstehen war. 74 Dittmann S. 20 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 17 seien aber die Missstände an Bord der Schiffe gewesen.75 Die Besprechungen an Bord hätten nur deshalb „unter Beobachtung von allerlei Heimlichkeiten“ stattgefunden, weil die Flottenleitung die Einrichtung der Menagekommissionen verzögert habe.76 Es mögen durchaus von einzelnen Rednern Wendungen gebraucht worden sein, aus denen Gewaltabsichten gesprochen hätten, doch etwas anderes wäre angesichts der Zahl der Mannschaften, ihrem jugendlichen Lebensalter, dem letzten Endes auf Gewalt eingestellten militärischen Drill und dem Milieu an Bord auch verwunderlich und dürfe deshalb nicht auf die Goldwaage gelegt werden.77 Ihre übertriebene und verzerrte Darstellung des Geschehens habe die Anklage dabei auf erzwungene und manipulierte Aussagen von Zeugen und Beschuldigten gestützt, wobei sich insbesondere die Marinehilfskriegsgerichtsräte Dobring und Lösch, die auch in dem Verfahren gegen Reichpietsch und Köbis die Anklage vertreten hatten, hervorgetan hätten. Dittmann spricht insoweit vom „Terror der Untersuchungsführer “, die „bei den Vernehmungen der Angeschuldigten und der Zeugen eine unerhörte Pression auf diese ausgeübt und ihnen immerfort ihrer eigenen Auffassungen unterstellt [haben], auch in den protokollarischen Niederschriften, die nicht in der Sprache der Leute, sondern ganz im alldeutschen Jargon abgefasst sind.“ Die „einfachsten und elementarsten Grundsätze objektiver Untersuchungsführung und Justiz“ seien verletzt, „politische Tendenzjustiz“ betrieben und „förmlich Menschenjagd und Menschenfang“ organisiert worden.78 Der 4. Unterausschuss des Reichstagsuntersuchungsausschusses ist in seiner Beweisaufnahme dem Vorwurf nachgegangen, Aussagen seien manipuliert oder erzwungen worden, um eine Belastung der USPD zu bewirken. In einer gegen die Stimme des KPD-Vertreters einstimmig angenommenen Entschließung heißt es dazu: „In die Verfahren verwickelt gewesene Zeugen haben ausgesagt, daß abweichende Erklärungen, die sie als Angeklagte gemacht haben, ihnen suggeriert oder abgezwungen worden seien. Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist nicht erbracht .“79 Im wissenschaftlichen Schrifttum wird sich dieser Einschätzung zum Teil angeschlossen ,80 zum Teil wird das vorliegende Material eher im Dittmann’schen Sinne gedeutet81. 2.4. Novemberrevolution und Amnestie 1918 Mit der Novemberrevolution und dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (WRV) verloren das bis dahin geltende Recht und die darauf gestützten Vollzugsakte nicht automatisch ihre 75 Dittmann S. 13, 20 ff. 76 Dittmann S. 9 ff. 77 Dittmann S. 59 f. 78 Dittmann S. 44 ff. 79 Entschließung vom 1. März 1928, abgedruckt in: Schücking 9/1 S. XXI (XXIII). Zu Beginn der Entschließung betont der Ausschuss, dass es ihm um die politische Dimension des Geschehens („Marine und Zusammenbruch “) gehe, nicht um „eine juristische Nachprüfung der Prozeßverfahren sowie der ergangenen Erkenntnisse […], da der Untersuchungsausschuß keine Revisionsinstanz bilde“ (a.a.O. S. XXI). 80 So Huber, Verfassungsgeschichte, S. 367, 362 mit Fn. 8. 81 So Regulski S. 173 ff., 187, 214 ff., 281 f., der auf S. 287 ff. auch einen Überblick über den Meinungsstand gibt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 18 Gültigkeit. Art. 178 Abs. 2 Satz 1 WRV stellte vielmehr ausdrücklich klar, dass Gesetze und Verordnungen des Reiches, soweit sie nicht der Weimarer Reichsverfassung widersprachen, grundsätzlich in Kraft blieben. Noch weitergehender hieß es in Art. 178 Abs. 3 WRV in Bezug auf Anordnungen der Behörden, die aufgrund bisheriger Gesetze in rechtsgültiger Weise getroffen worden waren, dass sie ihre Gültigkeit bis zur Aufhebung im Wege anderweitiger Anordnung oder Gesetzgebung behalten. Der Grundgedanke dieser Regelungen, dass die Umwälzungen des Jahres 1918 keine tabula rasa in Bezug auf die Rechtsordnung bewirkt hatten,82 spricht dafür, dass erst recht auch gerichtliche Urteile (vorbehaltlich einer späteren Aufhebung) ihre Gültigkeit behalten sollten bzw. unter den Begriff der behördlichen Anordnung im Sinne des Art. 178 Abs. 3 WRV zu subsumieren waren83. Entsprechendes, die Fortgeltung behördlicher und gerichtlicher Vollzugsakte , ist auch für das Grundgesetz anzunehmen, 84 auch wenn dieses nicht einmal eine Art. 178 Abs. 3 WRV entsprechenden Regelung für die Weitergeltung von Vollzugsakten enthält. Es ist daher davon auszugehen, dass die Umwälzungen 1918/1919 wie auch das Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 als solche den Fortbestand und die Rechtskraft der Kriegsgerichtsurteile vom August 1917 nicht berührt haben, sondern dass es hierzu eines zielgerichteten Aktes der neu organisierten Staatsgewalt bedurft hätte. In diesem Zusammenhang ist der „Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk“ vom 12. November 1918 zu berücksichtigen, in dem dieser als die „aus der Revolution hervorgegangene Regierung“ „mit Gesetzeskraft“ unter Punkt 6 Folgendes verkündete: „Für alle politischen Straftaten wird Amnestie gewährt. Die wegen solcher Straftaten anhängigen Verfahren werden niedergeschlagen.“85 Die Verordnungen des Rates der Volksbeauftragten wurden von der Weimarer Nationalversammlung , vom Reichsgericht und der herrschenden Lehre als „gültig und für das Reich verbindlich“ erachtet, „da die Regierung, welche sie erlassen hat, ihren Bestand zwar einer gewaltsamen Umwälzung verdankt, sich aber mit Erfolg in ihrer Machtstellung behauptet hat, ihrer Regierungsgewalt daher staatsrechtlich anzuerkennen ist.“86 Die Regelung schloss alle politischen Straftaten 82 Vgl. Anschütz, WRV, S. 4 mit Fn. 7; RGSt 53, 65 (66). 83 In der Kommentarliteratur wird die Auslegung des Art. 178 Abs. 3 WRV nicht näher besprochen, vgl. Anschütz, WRV, Art. 178; Poetzsch-Heffter, WRV, Art. 178. 84 Vgl. Wolff, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 123 Rn. 16, der erklärt, dass Einzelakte nicht unter Art. 123 GG (Fortgeltung vorkonstitutionellen Rechts, soweit es dem GG nicht widerspricht) fielen, weil bei Einzelakten die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz intensiver auf Aufrechterhaltung des Rechtsaktes hinwirkten. Damit wird implizit anerkannt, dass vorkonstitutionelle Vollzugsakte grundsätzlich gültig bleiben, und zwar sogar weiter gehend als bei vorkonstitutionellem Recht. 85 RGBl. S. 243. 86 So RGZ 99, 285 (287); siehe ferner § 1 Satz 2 des Übergangsgesetzes der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vom 4. März 1919 (RGBl. I S. 63); Anschütz, WRV, S. 1 ff., insbesondere S. 5 und 7 f.; ders., JW 1919, S. 751 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 19 ein, die bis zum 14. November 1918 (dem Tag ihrer Bekanntgabe im Reichsgesetzblatt) begangen worden waren.87 Unterschiedliche Auffassungen wurden zu der Frage vertreten, was eine „politische Straftat“ ausmacht , ob es (ähnlich wie im Auslieferungsrecht) auf den Charakter der Strafnorm ankommt oder ob (außerdem oder allein) die individuellen Beweggründe des Täters maßgebend sind.88 So lehnte das Reichsgericht in einem Fall von versuchtem Landesverrat (einem klassischen politischen Straftatbestand) die Anwendung der Amnestievorschrift ab, weil der Täter „im Sold […] der Franzosen“ und damit „lediglich aus eigennützigen Beweggründen“ gehandelt habe.89 Bei den Reichpietsch und Köbis betreffendem Urteil sind beide Voraussetzungen gegeben, weil sowohl die angewandten Strafnormen90 als auch die vom Kriegsgericht angenommenen Beweggründe der Verurteilten politischer Natur waren. Die „Amnestie“ wurde vom Reichsgericht nicht nur als Verfahrenshindernis betrachtet, sondern als besonderer Strafausschließungsgrund, der den staatlichen Strafanspruch selbst zum Erlöschen bringt und Straffreiheit gewährt mit der Wirkung, dass neue Strafverfahren nicht eingeleitet, anhängige Strafverfahren eingestellt und bereits erkannte Strafen erlassen werden.91 Dass die Regelung dabei auch als Rehabilitierung der bereits Verurteilten verstanden wurde, legt folgende, sich auf die Kriegsgerichtsurteile vom August 1917 beziehende Formulierung Dittmanns, eines der Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten, nahe: „[D]iese Amnestie gab auch den 1917 zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen Verurteilten die Freiheit und die Ehre wieder.“92 Insofern ließe sich die mit Gesetzeskraft verkündete Anordnung des Rates der Volksbeauftragten als Vorläufer der unter der Geltung des Grundgesetzes erlassenen speziellen Rehabilitierungsgesetze begreifen, also des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege, des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet und des Gesetzes zur strafrechtli- 87 Lessing, Sächsisches Archiv für Rechtspflege, 1919, S. 30 (31). 88 Vgl. Volkmann/Böttger-Berlin, S. 48 f.; Lessing, a.a.O., S. 30 (31 ff.); Conrad, DJZ 1919, Sp. 661 f.; rückblickend Hock S. 17 f. 89 Vgl. Conrad, DJZ 1919, Sp. 661 f. 90 Vgl. Volkmann/Böttger-Berlin, S. 48; Lessing, a.a.O., S. 31 mit Fn. 4. 91 So RGSt 53, 39 (41). Das Zitat bezieht sich unmittelbar auf die Amnestieverordnung vom 3. Dezember 1918, ist aber auf die Verordnung vom 12. November 1918 übertragbar. 92 Dittmann S. 5 (Hervorhebung nicht im Original). Ansonsten wurde diese Frage, soweit ersichtlich, nicht thematisiert (vgl. Anschütz, JW 1919, S. 751 f.; Volkmann/Böttger-Berlin, S. 48 f.; Lessing, a.a.O., S. 30 ff.; Conrad, DJZ 1919, Sp. 661 ff., 742 ff., 1008 ff.; Jellinek, JöR 1920, S. 1 [9 f.]; rückblickend: Hock S. 17 f.; Melzer S. 131 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, S. 738 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 20 chen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen93. Der normale Weg, den die Rechtsordnung zur Beseitigung bereits rechtskräftiger Urteile eröffnet, ist allerdings die Wiederaufnahme des Verfahrens. 3. Wiederaufnahme des Verfahrens Rechtskraft bedeutet, dass ein Urteil grundsätzlich nicht mehr geändert werden kann, selbst wenn es falsch sein sollte.94 Dies liegt im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden und basiert auf der Prämisse, dass die Regelungen des Strafverfahrens (einschließlich der Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln) das Risiko von Fehlurteilen grundsätzlich hinreichend minimieren . Für Fälle, in denen sich diese Prämisse als falsch erweist und ein Festhalten an dem Urteil aus Gründen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Rechtsbewährung unerträglich erscheint, hat der Gesetzgeber den außerordentlichen Rechtsbehelf95 der Wiederaufnahme des Verfahrens geschaffen .96 Sie ist in den §§ 359 bis 373a der Strafprozessordnung (StPO)97 geregelt. Mit der Wiederaufnahme kann die Rechtskraft ausnahmsweise durchbrochen, das Fehlurteil beseitigt und so der Gerechtigkeit im Einzelfall zum Sieg über die Belange der Rechtssicherheit verholfen werden .98 Eine Wiederaufnahme ist zugunsten des Verurteilten möglich, z.B. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, die ihn entlasten,99 wenn sich herausstellt, dass ein Belastungszeuge in strafbarer Weise falsch ausgesagt hat100 oder der Verurteilte Opfer einer Rechtsbeugung geworden ist101. Sie ist aber auch zulasten des Freigesprochenen zulässig, z.B. wenn dieser nach der Verurteilung ein glaubwürdiges Geständnis ablegt.102 93 Zu diesen Rehabilitierungsgesetzen vgl. die Ausarbeitung „Parlamentarische Rehabilitierung Verurteilter, Zum Todesurteil gegen die Matrosen Köbis und Reichpietsch“, WD 3 – 3000 – 177/17. 94 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, Einl. Rn. 164. Die Rechtskraft ist Voraussetzung dafür, dass das Urteil vollstreckt werden kann (§ 449 StPO), sie verhindert aber auch, dass der Verurteilte wegen derselben Tat nochmals strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann (Art. 103 Abs. 3 GG). 95 Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 1013. 96 Hannich, in: ders., StPO, Vor § 359 Rn. 1 ff. 97 In der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1974, ber. S. 1319), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. August 2017 (BGBl I. S. 3295). 98 Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 1106. 99 § 359 Nr. 5 StPO. 100 § 359 Nr. 2 StPO. 101 § 359 Nr. 3 StPO i.V.m. § 339 StGB. 102 Vgl. § 362 Nr. 4 StPO. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 21 Die Wiederaufnahme ist auch bei Urteilen, die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes gefällt wurden , möglich.103 Der Antrag unterliegt keiner Frist.104 Er kann auch nach Vollstreckung des Urteils und sogar nach dem Tod des Verurteilten gestellt werden.105 Dies zeigt, dass es bei der Wiederaufnahme nicht nur darum geht, einen zu Unrecht Verurteilen vor der Vollstreckung des Urteils zu bewahren, sondern auch darum, seinen durch das Fehlurteil geschädigten Ruf wiederherzustellen .106 Deshalb soll auch eine zwischenzeitlich erfolgte Amnestie der Wiederaufnahme nicht entgegenstehen, 107 eine Aufhebung durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile aber schon108. Im Falle des Todes kann der Antrag auf Wiederaufnahme vom Ehegatten , dem Lebenspartner, einem Verwandten in auf- oder absteigender Linie (also Kinder, Enkel, Urenkel usw. bzw. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern usw.)109 oder einem Bruder bzw. einer Schwester des Verstorbenen gestellt werden.110 Allerdings kann die Wiederaufnahme nach dem Tod des Verurteilten nur noch mit dem Ziel des Freispruchs beantragt werden. Ein auf ein anderes Ziel gerichteter Antrag ist unzulässig. Insbesondere kann die Strafherabsetzung in Anwendung eines milderen Gesetzes weder beantragt noch angeordnet werden.111 Die Wiederaufnahme ist auf eine begrenzte Anzahl besonderer Ausnahmetatbestände beschränkt .112 Was die Gründe für eine Wiederaufnahme zugunsten des Betroffenen angeht, ist zunächst § 359 StPO einschlägig. Dieser lautet: „Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, 1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Ungunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war; 103 Vgl. BGH, NStZ 1982, 214 f.; 1983, 424; KG, NJW 1991, 2505 (2506); BGH, NJW 1993, 1481 (1482). 104 Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 1117. 105 § 361 Abs. 1 StPO. 106 Schmidt, in: Hannich, StPO, § 361 Rn. 1. 107 Vgl. Schmidt, in: Hannich, StPO, § 361 Rn. 1; Meyer-Goßner, StPO, § 361 Rn. 1. 108 So OLG Köln, Beschluss vom 18. Februar 2005 – 2 Ws 540/04 –, BeckRS 2005, 03850, weil es durch die Aufhebung an einem durch „rechtskräftiges Urteil abgeschlossenem Verfahren“ fehle und das NS-AufhG als „Schlussstrichlösung “ gedacht sei; dem folgend Schmidt, in: Hannich, StPO, § 361 Rn. 1. 109 Vgl. § 1589 Abs. 1 Satz 1 BGB. 110 § 361 Abs. 1 StPO. 111 Meyer-Goßner, StPO, § 371 Rn. 3; Fischer, in: Hannich, StPO, Einl. Rn. 488. 112 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, Vor § 359 Rn. 1; Fischer, in: Hannich, StPO, Einl. Rn. 487. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 22 2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zuungunsten des Verurteilten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat; 3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat, sofern die Verletzung nicht vom Verurteilten selbst veranlaßt ist; 4. wenn ein zivilgerichtliches Urteil, auf welches das Strafurteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben ist; 5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind; 6. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihre Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.“ Hinzu kommt § 79 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes113. Dieser nennt als weiteren Grund, dass das Strafurteil „…auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, …“114 Die Wiederaufnahmegründe des § 359 StPO betreffen überwiegend Urteile, die auf einer falschen Tatsachengrundlage, z.B. der Lüge eines Zeugen,115 beruhen. Eine fehlerhafte Rechtsanwendung ist grundsätzlich kein Wiederaufnahmegrund.116 Andernfalls würde dies die Wiederaufnahme 113 In der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3546). 114 Weitere spezielle Wiederaufnahmegründe wurden 1952 in § 18 Abs. 1 und Abs. 2 des Zuständigkeitsergänzungsgesetzes (BGBl. III 1958 S. 1) für Urteile von Wehrmachtgerichten, Gerichten wehrmachtähnlicher Formationen (z.B. SS- und Polizeigerichten) und Sondergerichten geschaffen, unter anderen um die Möglichkeit zu eröffnen, Urteile zu beseitigen, die unter „Verletzung der wesentlichsten zum Schutze des Angeklagten gegebenen Verfahrensvorschriften“ ergangen sind (vgl. BT-Drs. 1/3313, S. 17, 13). 115 Vgl. § 359 Nr. 2 StPO. 116 BGH, NJW 1993, S. 1481 (1482); Brauns, JZ 1995, S. 492 (493). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 23 praktisch von einem außerordentlichen Rechtsbehelf zu einer zeitlich unbefristeten Revision umfunktionieren .117 Eine fehlerhafte Rechtsanwendung kann allerdings dann ausnahmsweise eine Wiederaufnahme begründen, wenn sie den Straftatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) verwirklicht. Denn dann hätte sich der betreffende Richter einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht, was gemäß § 359 Nr. 3 StPO ein Wiederaufnahmegrund ist.118 Nicht jede fehlerhafte Rechtsanwendung erfüllt allerdings den Straftatbestand der Rechtsbeugung . Abgesehen davon, dass es sich bei § 339 StGB um ein Vorsatzdelikt handelt, muss die fehlerhafte Rechtsanwendung objektiv auch eine besondere Qualität aufweisen. Nach herrschender Lehre ist das dann der Fall, wenn die Auffassung des Richters nicht einmal mehr vertretbar erscheint . Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs reicht selbst bloße Unvertretbarkeit noch nicht aus. Der Rechtsbruch müsse sich vielmehr als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege darstellen , bei dem sich der Amtsträger bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hat. Angenommen wurde Derartiges bei einer Überdehnung von Straftatbeständen bzw. einem Überschreiten der Wortlautgrenze, bei einem unerträglichen Missverhältnis zwischen Strafe und abgeurteilter Handlung sowie bei schweren Menschenrechtsverletzungen.119 Bei der Beurteilung der Vertretbarkeit der richterlichen Rechtsanwendung ist zudem – jedenfalls im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens – auf das Rechtsverständnis zur Zeit der mit dem Wiederaufnahmeantrag angegriffenen Entscheidung abzustellen.120 Ein zwischenzeitlich eingetretener Wandel der Auslegung einer Norm muss also außer Betracht bleiben. Dieser ist auch nicht etwa als „neue Tatsache“ im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO anzusehen, ebenso wenig wie eine zwischenzeitlich erfolgte Änderung des der Verurteilung zugrundeliegenden Gesetzes.121 Die Wiederaufnahme in ihrer derzeitigen Form ist damit kein geeignetes Instrument zur nachträglichen Korrektur von Verurteilungen, die aufgrund eines zwischenzeitlichen Wandels der Rechtsanschauungen oder der Gesetzeslage heute nicht mehr erfolgen könnten.122 Der Gesetzgeber hat allerdings mehrfach punktuell mit dem Erlass bereichsspezifischer Regelungen auf derartige Problemlagen reagiert, indem er die Aufhebung der entsprechenden Strafurteile außerhalb des 117 Brauns, JZ 1995, S. 492 (493). 118 Vgl. Brauns, JZ 1995, S. 492 (493, 495). Ein weiterer Fall, in dem eine fehlerhafte Rechtsanwendung die Wiederaufnahme begründet, ist § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. Brauns a.a.O. S. 493). Denn das Strafgericht, welches eine später vom BVerfG für nichtig erklärte Norm angewandt hat, hätte deren Verfassungsmäßigkeit prüfen, das Verfahren aussetzen und dem BVerfG die Norm vorlegen müssen (Art. 100 Abs. 1 GG). 119 Vgl. Heine/Hecker, in: Schönke-Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 339 Rn. 10 m.w.N. 120 BGH, NJW 1993, S. 1481 (1484). 121 BGH, NJW 1993, S. 1481 (1482). 122 Vgl. Braun, JZ 1995, S. 492 ff., der (auf S. 489) einen entsprechenden Reformvorschlag unterbreitet, um einem „Bewertungswandel besonderer Qualität“ im Wege der Wiederaufnahme Rechnung tragen zu können. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 24 regulären Wiederaufnahmeverfahrens ermöglicht oder sogar unmittelbar von Gesetzes wegen bewirkt hat. *** Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 116/17 Seite 25 4. Literaturverzeichnis Anschütz, Gerhard, Das Programm der Reichsregierung, in: Juristische Wochenschrift 1919, S. 751 f. (Anschütz, JW 1919, S. …). 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