© 2020 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 – 115/20 „Catcalling“ als strafrechtlich relevante Beleidigung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 2 „Catcalling“ als strafrechtlich relevante Beleidigung Aktenzeichen: WD 7 - 3000 – 115/20 Abschluss der Arbeit: 02. November 2020 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Behandlung in der Rechtsprechung 4 2.1. Äußerungen mit sexuellem Bezug als Beleidigung 4 2.2. Die Beleidigung und das Sexualstrafrecht 7 3. Statistische Erfassung des „Catcallings“ in der Praxis 8 4. Fazit 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 4 1. Einleitung Der Straftatbestand der Beleidigung gemäß § 185 Strafgesetzbuch (StGB)1 regelt nach allgemeinem Verständnis Angriffe auf die Ehre einer anderen Person durch die Kundgabe eigener Missoder Nichtachtung.2 Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurden mit der Prüfung der Frage beauftragt, inwieweit auch das „Catcalling“ hierunter in der Praxis erfasst werde. Mit dem aus der englischen Umgangssprache3 stammenden Begriff werden überwiegend Belästigungen im öffentlichen Raum durch sexuell konnotiertes Rufen, Reden, Pfeifen oder sonstige Laute beschrieben,4 wobei das Verständnis des Begriffes im Einzelnen uneinheitlich ist.5 Die Fragestellung legt einen Fokus auf die verbale sexualisierte Belästigung von Frauen. Nachfolgend werden die strafgerichtliche Rechtsprechung und die Kriminalstatistik in Bezug auf das Phänomen analysiert. 2. Behandlung in der Rechtsprechung 2.1. Äußerungen mit sexuellem Bezug als Beleidigung Soweit ersichtlich, hat die Rechtsprechung bislang noch keinen Sachverhalt unter dem Begriff „Catcalling“ strafrechtlich geprüft. Der Bundesgerichtshof (BGH) vertritt jedoch zur Frage, wann überhaupt eine Äußerung mit sexuellem Bezug als Beleidigung aufzufassen ist, seit den 1980er Jahren eine stetige Auffassung. Hierbei nimmt er keine geschlechtsspezifischen Differenzierungen vor. Zuletzt wiederholte er seine Rechtsprechung in einem Beschluss aus dem Jahr 2017: „Ein Angriff auf die Ehre liegt vor, wenn der Täter einem anderen zu Unrecht Mängel nachsagt, die, wenn sie vorlägen, den Geltungswert des Betroffenen minderten. Eine „Nachrede“, die in einem herabsetzenden Werturteil oder einer ehrenrührigen Tatsachenbehauptung bestehen kann, verletzt den aus der Ehre fließenden Achtungsanspruch. Mit einer 1 Strafgesetzbuch (StGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. 1998 I. S. 3322), zuletzt geändert durch Art. 1 59. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei Bildaufnahmen vom 9. Oktober 2020 (BGBl. 2020 I S. 2075), abrufbar unter: https://www.gesetze -im-internet.de/stgb/ (letzter Abruf dieser und aller weiteren Internetquellen: 02. November 2020). 2 Vergleiche statt vieler Valerius, in: Beck’scher Online-Kommentar, 47. Edition (1. August 2020), § 185 StGB, Randnummer 16 mit weiteren Nachweisen. 3 Vergleiche das Internetwörterbuch für englische Slangwörter „Urban Dictionary“, Stichwort „Cat Calling“, abrufbar in englischer Sprache unter: https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Cat%20Calling. 4 So im weitesten Sinne bei Spiegel.de, „Alles neu!“, Artikel vom 25. September 2020, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/gesetzgebung-alles-neu-kolumne-von-thomas-fischer-a-c0a57139-23af- 447c-b163-5dbe1cfa19ba; Rheinische Post, „Wenn Männer sich wie Kater aufführen“, Artikel vom 7. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.pressreader.com/germany/rheinische-post-duisburg/20201007/281535113449613. 5 So werden teilweise in einem weiteren Verständnis „sexuelle Belästigungen aller Art“ auf offener Straße unter den Begriff gefasst, gleichzeitig jedoch enger nur „Belästigungen von Männern gegenüber Frauen und Mädchen“ hierunter verstanden (so bei Honnacker/Weber/Thum/Ebert/Thum, Öffentliche Sicherheit und Ordnung in Bayern , 205. Lieferung (15. Januar 2020), Band 2, 20.03, Stichwort: „Catcalling“). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 5 solchen „Nachrede“ wird die Missachtung, Geringschätzung oder Nichtachtung kundgegeben, die den Tatbestand verwirklicht […]. Im Zusammenhang mit der Vornahme sexuell motivierter Äußerungen liegt ein Angriff auf die Ehre nur vor, wenn der Täter zum Ausdruck bringt, der Betroffene weise insoweit einen seine Ehre mindernden Mangel auf. Eine ehrverletzende Kundgabe von Missachtung liegt regelmäßig nicht allein in der sexuell motivierten Äußerung des Täters. Denn allein die sexuelle Motivation des Täters, mit der er den Betroffenen unerwünscht und gegebenenfalls in einer ungehörigen, das Schamgefühl betreffenden Weise konfrontiert, genügt für die erforderliche , die Strafbarkeit begründende, herabsetzende Bewertung des Opfers nicht. Eine Herabsetzung des Betroffenen kann sich bei sexuell motivierten Äußerungen im Einzelfall nur durch das Hinzutreten besonderer Umstände unter Würdigung des Gesamttatgeschehens ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 1986 - 3 StR 504/85, NStZ 1986, 453, 454; Senat, Urteil vom 15. März 1989 - 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 150; BGH, Beschluss vom 12. August 1992 - 3 StR 318/92, aaO; Senat, Beschluss vom 26. Juli 2006 - 2 StR 285/06, BGHR StGB § 185 Ehrverletzung 6; BGH, Beschluss vom 16. Februar 2012 - 3 StR 13/12, NStZ-RR 2012, 206)“.6 Dementsprechend reiche nicht aus, dass eine Person ohne weitere Umstände einer anderen Person gegenüber eine sexuell motivierte Äußerung tätigt – auch wenn dies in unflätiger Weise geschehe . Hierin liege noch nicht die der Beleidigung innewohnende Ehrverletzung. Denn das Rechtsgut der Ehre dürfe nicht mit der Personenwürde oder der (ideellen) Persönlichkeitssphäre gleichgesetzt werden, sonst verlöre es seine Konturen.7 In einer vorherigen Entscheidung hatte sich der BGH bereits näher zu den Anforderungen an die Einzelfallumstände geäußert: „Hierfür [für eine Beleidigung] ist aber nicht schon ausreichend, dass die betreffende Person keinen Anlass zu der Annahme gegeben hat, sie sei an solcherlei [sexuellen] Kontakten interessiert ; Voraussetzung ist vielmehr, dass der Täter selbst das der betroffenen Person angesonnene Verhalten als verwerflich oder ehrenrührig ansieht und durch die Äußerung zum Ausdruck bringen will, dass er dem Tatopfer eine entsprechende verachtenswerte Haltung zu Unrecht unterstellt“.8 6 BGH, Beschluss vom 2. November 2017 – 2 StR 415/17 –, Randnummern 13 f. (zitiert nach juris) [Hervorhebungen diesseits; Nachweise aus dem Originalzitat teilweise entfernt]. 7 So schon BGH, Urteil vom 15. März 1989 – 2 StR 662/88 –, Randnummer 15 (zitiert nach juris). 8 BGH, Beschluss vom 26. Juli 2006 – 2 StR 285/06 –, Randnummer 3 (zitiert nach juris) [Hervorhebungen und Anmerkungen diesseits; Nachweise aus dem Originalzitat entfernt]. Zustimmend Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 66. Auflage 2019, § 185 StGB, Randnummer 11d; Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, Randnummer 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 6 Die herabwürdigende Unterstellung lässt sich in der Rechtsprechung somit kurzfassen als Darstellung der adressierten Person als jemand, mit der man „so etwas ohne weiteres machen kann“.9 Beispielhaft hat die Rechtsprechung aus den dargestellten Grundsätzen gefolgert, dass es nicht beleidigend sei, wenn anderen Personen anlasslos mittels kurzer, sexuell motivierter Äußerungen die Durchführung geschlechtlicher Praktiken angetragen werde, ohne dass weitere Umstände hinzuträten.10 Solche weiteren Umstände hat der BGH etwa darin gesehen, wenn neben dem anlasslosen Ansinnen einer geschlechtlichen Handlung auch hierfür Geld geboten werde, obwohl die anbietende Person keinerlei Anlass hätte, das Gegenüber als käuflich zu erachten.11 Denn hierdurch werde die adressierte Person sinngemäß der Prostitution bezichtigt, was eine Missachtung der persönlichen Ehre ausdrücke.12 Hinsichtlich der Rechtsprechungsbeispiele ist allerdings zu berücksichtigen, dass Gerichte lediglich über Einzelfälle rechtskräftig entscheiden. Insbesondere kann nicht notwendigerweise davon ausgegangen werden, dass bestimmte Konstellationen in Zukunft in einer bestimmten Weise entschieden werden. Bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen übt die gerichtliche Rechtsauslegung – auch die der obersten Fachgerichte wie dem BGH13 – keine formale Bindungswirkung auf spätere gerichtliche Entscheidungen aus.14 Gleichwohl orientieren sich Gerichte in der Praxis häufig an bestehender Rechtsprechung, insbesondere der der oberen Instanzen.15 9 BGH, Urteil vom 19. September 1991 – 1 StR 509/91 –, Randnummer 5 (zitiert nach juris) [Hervorhebung diesseits ]. Zustimmend Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, Randnummer 4. Vergleiche aber auch Oberlandesgericht (OLG) Hamm, Urteil vom 27. November 2007 – 3 Ss 410/07 –, Leitsatz (zitiert nach juris): „Die Kundgabe einer abschätzigen Bewertung der Persönlichkeit kann darin liegen, dass eine Person mit einem jederzeit zur Verfügung stehenden (Lust-)Objekt zur Befriedigung von sexuellen Bedürfnissen gleichgesetzt wird“. 10 BGH (Fußnote 6), Randnummern 4 ff. 11 BGH (Fußnote 9), Randnummer 4. So auch zu einem ähnlichen Sachverhalt OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 6. Januar 2011 – 1 Ss 204/10 –, Leitsatz (zitiert nach juris). 12 BGH (Fußnote 9), Randnummer 4. 13 Als Fachgerichte werden alle Gerichte außer den Verfassungsgerichten bezeichnet (Weber, in: Creifelds, Rechtswörterbuch , 24. Auflage 2020, Stichwort „Fachgerichte“). 14 Dies folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG, Beschluss vom 3. November 1992 – 1 BvR 1243/88 –, Randnummer 15 mit weiterem Nachweis (zitiert nach juris)), dessen Entscheidungen in Ausnahme hiervon grundsätzlich alle Gerichte binden (§ 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerf GG)), aus dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG). 15 Nachweise bei Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Band 3, Art. 97 GG, Fußnote 111. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 7 Im Übrigen ist der Beleidigungstatbestand nur erfüllt, wenn die objektiv als beleidigend erachtete Äußerung auch vorsätzlich kundgetan wird.16 Vorsatz bedeutet nach der Rechtsprechung allgemein , wenn die Täterin oder der Täter den Erfolg (hier: die Ehrverletzung) als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und dabei billigend in Kauf nimmt beziehungsweise sich wenigstens mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet.17 2.2. Die Beleidigung und das Sexualstrafrecht Die Rechtsprechung ist hierbei im Kontext zur Frage der „lückenbüßenden“ Funktion der Beleidigungsdelikte als „kleines Sexualstrafrecht“ zu sehen.18 Denn insbesondere sexualbezogene Äußerungen werden nicht von den in §§ 174 ff. StGB geregelten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst: Diese knüpfen maßgeblich an den Begriff einer „sexuellen Handlung“ an.19 In Bezug auf eine andere Person setze dies nach der Rechtsprechung deren körperliche Berührung voraus.20 Sexualbezogenes Reden alleine reicht nicht aus.21 Die Rechtsprechung bringt folglich zum Ausdruck, dass der Beleidigungstatbestand in Fällen der verbalen Belästigung keine subsidiäre Anwendung zum Sexualstrafrecht findet. Stattdessen betont sie die allein ehrschützende Funktion von § 185 StGB (siehe bereits unter 2.1.). Explizit in dieser Hinsicht äußerte sich der BGH bereits 1989: „§ 185 StGB ist insbesondere kein „Auffangtatbestand", der es erlaubt, Handlungen allein deshalb zu bestrafen, weil sie der Tatbestandsverwirklichung eines Sittlichkeitsdelikts nahekommen “.22 Das von der Rechtsprechung geäußerte Verständnis des Beleidigungstatbestandes deckt sich auch mit dem der herrschenden Meinung in der rechtswissenschaftlichen Literatur.23 16 Vergleiche statt vieler Valerius, in: Beck’scher Online-Kommentar, 47. Edition (1. August 2020), § 185 StGB, Randnummer 36 mit weiteren Nachweisen. 17 Vergleiche statt vieler BGH, Beschluss vom 5. März 2008 – 2 StR 50/08 –, Randnummer 4 mit weiteren Nachweisen (zitiert nach juris). 18 Näher Renzikowski, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Auflage 2017, Band 3, Vorbemerkung zu §§ 174 ff. StGB, Randnummern 35 f. 19 Vergleiche insbesondere die Regelungen zum „Sexuellen Übergriff“, zur „Sexuellen Nötigung“ und der „Vergewaltigung “ in § 177 StGB. 20 BGH, Urteil vom 20. Mai 1992 – 2 StR 73/92 –, Orientierungssatz 1 (zitiert nach juris). 21 So auch Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 66. Auflage 2019, § 184h StGB, Randnummer 2. 22 BGH (Fußnote 7), Randnummer 18 [Literaturnachweise entfernt]. Vergleiche auch die annähernd wortgleiche Formulierung des OLG Hamm, Urteil vom 27. November 2007 – 3 Ss 410/07 –, Randnummer 12 (zitiert nach juris). 23 Regge/Pegel, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Auflage 2017, Band 4, § 185 StGB, Randnummer 12 mit weiteren Nachweisen zur herrschenden Literaturmeinung. Vergleiche im Übrigen bereits die Literaturverweise in den Fußnoten zu den Rechtsprechungszitaten unter 2.1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 8 An dieser Orientierung hat sich auch nichts durch den 2016 eingeführten Straftatbestand der „Sexuellen Belästigung“ gemäß § 184i StGB24 geändert: Nach dessen Wortlaut ist zwar keine sexuelle Handlung erforderlich, aber eine körperliche Berührung in sexuell bestimmter Weise.25 Denn die Regelung ist nach dem Willen des Gesetzgebers vor allem als Auffangtatbestand für die Fälle gedacht, in denen die im StGB vorgesehene Erheblichkeitsschwelle einer sexuellen Handlung nicht erreicht ist.26 Auch hätten Fälle der sexuellen Belästigung im Sinne von § 184i StGB zuvor allenfalls im Einzelfall als Beleidigung erfasst werden können.27 Verbale Einwirkungen auf das Opfer sollen aber (weiter) nicht erfasst werden.28 3. Statistische Erfassung des „Catcallings“ in der Praxis Eine systematische Untersuchung der Klassifizierung von „Catcalling“ als Beleidigung in der Strafverfolgungspraxis existiert – soweit ersichtlich – nicht. Das Statistische Bundesamt führt in seiner jährlich erscheinenden Strafverfolgungsstatistik lediglich Daten zu Verurteilungen gemäß dem Beleidigungstatbestand insgesamt.29 Nicht erfasst werden nähere Angaben zur Tat oder Art der Opfer.30 Demnach wurden im Jahr 2018 24 295 Personen gemäß § 185 StGB verurteilt, wovon ca. 86,4 % männlich waren.31 Von den 23 233 Personen , die nach allgemeinem Erwachsenenstrafrecht wegen eines Deliktes aus der Gruppe der Beleidigungsstraftaten (§§ 185 – 200 StGB) verurteilt wurden, wurden ca. 95,3 % zu einer Geldstrafe und ca. 4,6 % zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe in ca. 62,3 % zur 24 Vergleiche Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. 2016 I S. 2460). 25 § 184i Abs. 1 StGB. 26 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 6. Juli 2016, BT-Drs. 18/9097, S. 29, abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/090/1809097.pdf. Nach § 184h Nr. 1 StGB sind sexuelle Handlungen nach dem StGB „nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind“. 27 Ebenda, S. 21. 28 Ebenda, S. 30. 29 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege – Strafverfolgung (2018), Fachserie 10, Reihe 3, Erscheinungsdatum: 18. Dezember 2019, S. 32 ff., abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Service/Bibliothek/_publikationenfachserienliste -10.html?nn=206136. 30 Ebenda, S. 10. 31 Ebenda, S. 33 (Berechnung der Prozentwerte diesseits). Verurteilte sind gemäß der Strafverfolgungsstatistik „Angeklagte, gegen die nach allgemeinem Strafrecht Freiheitsstrafe, Strafarrest oder Geldstrafe (auch durch einen rechtskräftigen Strafbefehl) verhängt worden ist, oder deren Straftat nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe, Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln geahndet wurde“ (ebenda, S. 15). Auf der genannten S. 33 der Strafverfolgungsstatistik findet sich ebenfalls eine Aufgliederung nach Altersgruppen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 9 Bewährung ausgesetzt wurde.32 Weiter finden sich in der Strafverfolgungsstatistik Angaben zur Länge der einzelnen Freiheitsstrafen33 beziehungsweise Höhe der einzelnen Geldstrafen.34 Die Zahlen zur Strafmaßverteilung sind zur Ergründung der tatsächlichen Strafhöhe der Beleidigung allerdings von vornherein nur von verminderter Aussagekraft: So kann es in der Urteilspraxis dazu kommen, dass jemand wegen mehrerer erfüllter Straftatbestände verurteilt wird, sich die Strafhöhe allerdings vorwiegend nur aus einem, dem Delikt mit der höchsten angedrohten Strafe ergibt. Wenn etwa eine Handlung im strafrechtlichen Sinne mehrere Delikte erfüllt (Tateinheit), bei einer Beleidigung z.B. noch gleichzeitig eine Nötigung begangen wird, so wäre für die Strafhöhe nur der Strafrahmen der Nötigung maßgeblich, denn dieser ist im Vergleich zur Beleidigung höher.35 Die „wegfallenden“ Delikte, wie im Beispiel die Beleidigung, sind durch das Gericht nur noch in der Strafzumessung des schwereren Deliktes und nicht mehr mit einer eigenen, „abgrenzbaren “ Strafe zu berücksichtigen.36 Eine präzise zahlenmäßige Erfassung des Strafmaßes der sonstigen erfüllten Straftatbestände scheidet somit in diesen Fällen aus. Beim Beleidigungsdelikt mit seiner niedrigen Maximalstrafe (höchstens ein Jahr Freiheitsstrafe)37 kann dies zudem vergleichsweise häufig vorkommen. Zudem finden sich weitere Daten zur Handhabung des Beleidigungsdeliktes in der Praxis in der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). In der PKS werden die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie abschließend bearbeiteten Fälle erfasst.38 Die Registrierung erfolgt bei Abgabe des Falles an die Staatsanwaltschaft und beruht somit allein auf der polizeilichen Beurteilung als Straftat bei (vorläufigem) Ermittlungsabschluss.39 Sie ist somit nur bedingt vergleichbar mit der oben genannten Strafverfolgungsstatistik, in der die spätere strafgerichtliche, für eine tatsächliche Verurteilung nötige Sachverhaltsbewertung abgebildet wird. 32 Ebenda, S. 96 f. (Berechnung der Prozentwerte diesseits). 33 Ebenda, S. 164 f. 34 Ebenda, S. 202 ff. 35 Gemäß § 240 Abs. 1 StGB kann eine Nötigung in ihrer Grundform mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe), die Beleidigung in ihrer Grundform (§ 185 Alternative 1 StGB) nur bis zu einem Jahr (oder Geldstrafe) bestraft werden. Die alleinige Maßgeblichkeit des höheren Strafrahmens bei Tateinheit ergibt sich aus § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB. 36 Heintschel-Heinegg, in: Beck’scher Online-Kommentar Strafgesetzbuch, 47. Edition (1. August 2020), Randnummer 64. 37 Siehe bereits Fußnote 35. 38 Bundeskriminalamt (BKA), Polizeiliche Kriminalstatistik – Bundesrepublik Deutschland, 67. Ausgabe 2019, Band 1 (Fälle, Aufklärung, Schaden), S. 5, abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/Statistiken Lagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2019/PKSJahrbuch/pksJahrbuch_node.html. Um in der PKS als Fall erfasst zu werden muss nicht notwendigerweise eine tatverdächtige Person bekannt sein, es reichen überprüfte Anhaltspunkte um Tatbestand, Tatort und Tatzeit/Tatzeitraum (ebenda, S. 49). 39 Ebenda, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 115/20 Seite 10 Die PKS enthält unter anderem Zahlen zur „Beleidigung auf sexueller Grundlage“ als Untergruppe zur „allgemeinen“ Beleidigung.40 Mangels rechtsverbindlicher Definition des Begriffes fallen solche Sachverhalte in diese Statistik, die im Einzelfall durch die Polizei als eine solch spezielle Beleidigung aufgefasst worden sind.41 Gemäß der PKS wurden im Jahr 2019 21 562 Fälle als Beleidigung auf sexueller Grundlage erfasst .42 Dies entspricht einem Anteil von ca. 11,5 % aller erfassten Beleidigungen gemäß § 185 StGB (insgesamt 186 693).43 Bei einer Gesamtaufklärungsquote von 87 % waren gerundet 78,7 % der 18 649 tatverdächtigen Personen männlich.44 Die Zahlen entsprechen hierbei annähernd denen aus dem Vorjahr (2018).45 4. Fazit Nach der Rechtsprechung ist „Catcalling“ nur insoweit als Beleidigung strafbar, als in oder neben der sexuell motivierten Äußerung im Einzelfall auch eine vorsätzliche Ehrverletzung zu erkennen ist. Eine Auffangfunktion als „kleines Sexualstrafrecht“ solle dem Beleidigungstatbestand nicht zukommen. Eine empirische Nachzeichnung von „Catcalling“ in der Strafverfolgungspraxis ist nur sehr eingeschränkt möglich. * * * 40 BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik – Bundesrepublik Deutschland, 67. Ausgabe 2019, Grundtabelle – Fälle (V1.0 – 27. Januar 2020), Summenschlüssel 673110, abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen /StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2019/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen .html. 41 So die Auskunft des BKA vom 29. Oktober 2020 auf eine Anfrage des Fachbereichs. 42 Siehe bereits Fußnote 40. 43 Berechnung des Prozentwertes diesseits nach Addition der Beleidigungen auf sexueller Grundlage mit denen „ohne sexuelle Grundlage“ (Fußnote 40, Summenschlüssel 673010). 44 Ebenda, Summenschlüssel 673110 (Berechnung der Prozentwerte diesseits). Die unterschiedliche Zahl von Fällen und tatverdächtigen Personen kann damit erklärt werden, dass eine Person unter Umständen als tatverdächtig in mehreren Fällen in Betracht kommt. 45 BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik – Bundesrepublik Deutschland, 67. Ausgabe 2019, Grundtabelle – Fallentwicklung (V2.0 – 20. Mai 2020), Summenschlüssel 673110, abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen /StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2019/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen .html.