© 2014 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 115/14 Wertungsunterschiede zwischen Arbeitsstätten- und Versammlungsstättenrecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 2 Wertungsunterschiede zwischen Arbeitsstätten- und Versammlungsstättenrecht Verfasser: Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 115/14 Abschluss der Arbeit: 19. Mai 2014 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Wertungsunterschiede zwischen Bauordnungsrecht und Baunebenrecht 4 2.1. Begriff des Baunebenrechts 4 2.2. Schutzziel der Versammlungsstättenverordnung 6 2.3. Schutzziele der Arbeitsstättenverordnung 8 2.4. Wertungsunterschiede 9 2.5. Zwischenergebnis 10 3. Übergangsvorschriften des § 8 Abs. 1 ArbStättV 10 3.1. Bestandsschutz (§ 8 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV) 11 3.2. Umgestaltung der Arbeitsstätte (§ 8 Abs. 1 Satz 2 ArbStättV) 12 3.3. Umfang des Bestandsschutzes 12 3.4. Umfangreiche Änderungen 13 3.5. Zwischenergebnis 14 4. Zusammenfassung 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 4 1. Einleitung Für das Reichstagsgebäude sind aktuell im Rahmen von Baugenehmigungsverfahren die zulässigen maximalen Personenanzahlen auf der Dachterrasse (unter dem Aspekt des Brandschutzes /Evakuierungssituation) für zwei Nutzungsszenarien überprüft/neu ermittelt worden. Im Ergebnis sind hierbei 700 bzw. 668 Personen auf der Dachterrasse durch die aufgestellten bautechnischen Nachweise genehmigt worden (Beurteilungsgrundlage Bauordnung für das Land Berlin - BauO Bln, Muster-Versammlungsstättenverordnung - MVStättV). Als Teil des sogenannten nicht aufgedrängten Baunebenrechts wurde in diesem Zusammenhang eine arbeitsschutzrechtliche Stellungnahme der für die Prüfung des Arbeitsstättenrechts zuständigen Unfallkasse des Bundes eingeholt (Beurteilungsgrundlage: Arbeitsstättenverordnung –ArbStättV -; Technische Regel für Arbeitsstätten A2.3, Fluchtwege und Notausgänge, Flucht- und Rettungsplan). Im Ergebnis gibt die Anwendung des Arbeitsstättenrechts und eine baugenehmigungsrechtliche sowie unter Brandschutzgesichtspunkten abgesicherte Nutzung Anlass zu der Frage der rechtlichen Bindung des Arbeitsstättenrechts und des Verhältnisses zum Versammlungsstättenrecht. Hierzu werden die Wertungsunterschiede zwischen dem Bauordnungsrecht und dem Baunebenrecht herausgearbeitet (Ziffer 2.). Es wird zunächst der Begriff des Baunebenrechts vorgestellt (Ziffer 2.1.), um im Anschluss daran die Schutzziele des Versammlungsstättenrechts (Ziffer 2.2.) und des Arbeitsstättenrechts (Ziffer 2.3.) zu erläutern. Hieraus ergeben sich dann Schlussfolgerungen , ob beziehungsweise welche Wertungsunterschiede zwischen beiden Rechtsmaterien in Betracht kommen. In einem weiteren Teil der vorliegenden Ausarbeitung wird dann die Frage geprüft, ob und wie im Laufe der Zeit sich verschärfende Anforderungen des Arbeitsstättenrechts auf Bestandsbauten Anwendung finden (Ziffer 3.). Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages erstellen nach ihren Verfahrensgrundsätzen keine Rechtsgutachten im Einzelfall. Die vorliegende Ausarbeitung nimmt deshalb unter Berücksichtigung der einleitenden Ausführungen zu Fragen des Arbeitsstättenrechts allgemein und summarisch Stellung. 2. Wertungsunterschiede zwischen Bauordnungsrecht und Baunebenrecht Um die Wertungsunterschiede zwischen dem Versammlungsstättenrecht und dem Arbeitsstättenrecht herauszuarbeiten, ist es zunächst notwendig, beide Rechtsmaterien in die Systematik des Öffentlichen Baurechts einzuordnen. 2.1. Begriff des Baunebenrechts Eine Baugenehmigung bescheinigt seit der Änderung der Bauordnung für Berlin (BauO Bln)1 im Jahr 2005 nicht mehr die umfassende Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit allen öffentlich- 1 Bauordnung für Berlin (BauO Bln) vom 29.09.2005 (GVBl. S. 495), zuletzt geändert durch Art. I Zweites Änderungsgesetz vom 29.06.2011 (GVBl. S. 315), abrufbar unter (Stand: 15.05.2014): http://gesetze.berlin.de/default.aspx?typ=reference&y=100&g=BlnBauO . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 5 rechtlichen Vorschriften (Aufgabe der sog. Schlusspunkttheorie). Vielmehr muss der Bauherr eigenverantwortlich die Einhaltung solcher Vorschriften sicherstellen, die die Bauaufsichtsbehörde nicht überprüft, und ggf. von anderen Behörden die Genehmigungen einholen. Innerhalb der Baugenehmigungsverfahren (gemäß den §§ 64, 64a und 65 BauO Bln) wird sonstiges öffentliches Recht nur dann geprüft, wenn das jeweilige Fachrecht es dem Baugenehmigungsverfahren ausdrücklich zuweist (sog. aufgedrängtes Baunebenrecht) und im Gegenzug auf ein eigenes Genehmigungsverfahren verzichtet. Das Fachrecht trifft die Entscheidung, ob seine Belange vor Baubeginn durch die Bauaufsichtsbehörde geprüft werden müssen oder baubegleitend in einem eigenen Verfahren berücksichtigt werden können, wie beispielsweise das Denkmalschutzrecht . Wird im Fall eines Baugenehmigungsverfahrens für ein Baudenkmal von dem Bauherrn kein gesonderter Antrag nach dem Denkmalschutzgesetz Berlin (DSchG Bln)2 gestellt, schließt die Baugenehmigung die denkmalrechtliche Genehmigung ein (§ 12 Abs. 3 Satz 2 DSchG Bln). Das Arbeitsstättenrecht hat demgegenüber keine entsprechende Regelung getroffen (sog. nicht aufgedrängtes Baunebenrecht). Sind bei der Errichtung einer Versammlungsstätte Belange des Arbeitsstättenrechts berührt, wird die für den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zuständige Behörde im bauaufsichtlichen Verfahren nicht beteiligt und auch die Übereinstimmung mit dem Arbeitsstättenrecht nicht geprüft.3 Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, der Frage nachzugehen, ob die rechtspolitischen Intensionen des Landesgesetzgebers im Jahre 2005, hierdurch die Eigenverantwortung der Bauherren zu stärken, wünschenswert oder sinnvoll waren. Fraglich ist allerdings, ob hierdurch ein angestrebter Bürokratieabbau und Rechtssicherheit herbeigeführt werden konnte. Allgemein wird beklagt, dass auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene zur Thematik Flucht- und Rettungswege unterschiedliche teilweise sich widersprechende Landes- oder Fachbauordnungen, staatliche Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Regeln, berufsgenossenschaftliche Vorgaben (Vorschriften , Regeln, Informationen), Ausführungsbestimmungen und Normen zu berücksichtigen sind.4 Erschwerend kommt hinzu, dass diese Regelwerke unabhängig voneinander auf allen möglichen Ebenen einem ständigen Wandel unterworfen sind. So gestalte sich in der Praxis oftmals die Umsetzung der jeweiligen Versammlungsstättenverordnung schwierig. Dies betreffe in Versammlungsstätten nicht nur die Besucher, sondern im Rahmen des Regelungsbereichs der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes auch die Mitarbeiter.5 Es kann damit nicht ausgeschlos- 2 Gesetz zum Schutz von Denkmalen in Berlin (Denkmalschutzgesetz Berlin – DSchG Bln) vom 24.04.1995 (GVBl. S. 274), zuletzt geändert durch Art. II des Gesetzes vom 08.07.2010 (GVBl. S. 396), abruf bar unter (Stand: 16.05.2014): http://www.stadtentwicklung.berlin.de/service/gesetzestexte/de/denkmal.shtml. 3 Vgl. Senatsverwaltung Berlin, Leitfaden zum Baunebenrecht, abrufbar unter (Stand: 15.05.2014): http://www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/bauaufsicht/de/leitfaden.shtml. IHK Berlin, Entschlackung des Baunebenrechts, abrufbar unter (Stand: 15.05.2014): http://www.ihk-berlin.de. 4 Vgl. Online-Enzyklopädie Wikipedia, abrufbar unter (Stand: 16.05.2014): http://de.wikipedia.org/wiki/Fluchtweg. 5 Vgl. Online-Enzyklopädie Wikipedia, abrufbar unter (Stand: 18.05.2014): http://de.wikipedia.org/wiki/Versammlungsst%C3%A4tte. . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 6 sen werden, dass ein Bauvorhaben unterschiedlichen oder sogar sich widersprechenden Regelungen unterworfen ist. Hierbei stellt sich auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt, welche Regelungen vorrangig oder nachrangig anzuwenden sind. 2.2. Schutzziel der Versammlungsstättenverordnung Als Versammlungsstättenverordnung (VStättV) bezeichnen viele Bundesländer die jeweilige landesspezifische Rechtsverordnung, die sich auf den Bau und den Betrieb von sogenannten Versammlungsstätten bezieht. Die von der Bauministerkonferenz (ARGEBAU) erstellte Muster- Versammlungsstättenverordnung (MVStättV) soll als Grundlage einer bundesweiten Vereinheitlichung dieser Länderregelungen dienen.6 Derartige Mustervorschriften und Mustererlasse dienen lediglich als Grundlage für die Umsetzung in das jeweilige Landesrecht. Sie entfalten somit keine unmittelbare Rechtswirkung. Jedes Bundesland entscheidet somit, in welchem Umfang es dem Muster folgt. Auf der Grundlage einer Musterbauordnung aus dem Jahre 1997 wurde dann die Muster-Versammlungsstättenverordnung (MVStättV 2002) verfasst. Diese wurde danach überarbeitet und liegt nunmehr in der Fassung einer MVStättV 2005 vor. Die Versammlungsstättenverordnung des Landes Berlin7 ist mit In-Kraft-Treten der Anlagen- Prüfverordnung8 am 11. Juni 2004 außer Kraft getreten. Um die Wertungsunterschiede zwischen dem Bauordnungs- bzw. Versammlungsstättenrecht einerseits und dem Arbeitsschutzrecht andererseits herauszuarbeiten, wird auf die Muster-Versammlungsstättenverordnung (MVStättV 2005) zurückgegriffen. Die MVStättV ist, wie andere Sonderbauordnungen auch, keine in sich abgeschlossene Regelung. Grundlage auch einer Genehmigung für den Bau von Versammlungsstätten ist zunächst die BauO Bln, deren Bestimmungen durch weiteres Landesrecht modifiziert werden.9 Für Tatbestände, für die die MVStättV keine spezielleren – erleichternden oder erschwerenden – Regelungen enthält, gelten unverändert die Vorschriften der BauO Bln und gegebenenfalls weiteres Landesrecht. Die MVStättV verzichtet weitgehend auf die bisher mit geregelten Betriebesvorschriften und arbeits- 6 Die MVStättV ist rechtlich weder für den Bürger noch für die Landesregierungen verbindlich. 7 Verordnung über Versammlungsstätten - Versammlungsstättenverordnung – (VStättVO) vom 15.09.1970 (GVBl. S. 1664), zuletzt geändert durch Verordnung vom 15.06.2000 (GVBl. S. 361). 8 Verordnung über Prüfungen von technischen Anlagen und Einrichtungen (Anlagen-Prüfverordnung - AnlPrüfVO) vom 01.06.2004 (GVBl. S. 235), zuletzt geändert durch § 41 Abs. 1 Nr. 2 Betriebs-VO vom 10. 10. 2007 (GVBl. S. 516), abrufbar unter (Stand: 15.05.2014): http://gesetze.berlin.de/?vpath=bibdata%2Fges%2FBlnAnlPruefVO%2Fcont%2FBlnAnlPruefVO.htm. 9 Am 10.10.2007 wurde die bisherige Sonderbau-Betriebs-Verordnung von 2005 durch die Verordnung über den Betrieb baulicher Anlagen - BetrVO abgelöst. Berlin verfügt damit weiterhin nicht über eine dezidierte Versammlungsstättenverordnung nach der MVStättV und beschreitet einen Sonderweg. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 7 rechtlichen Schutzvorschriften.10 Auch hier wird deutlich, dass neuerdings das Versammlungsstättenrecht nicht mehr gesetzgebungstechnisch auf das Arbeitsschutzrecht (sog. nicht aufgedrängtes Baunebenrecht) abgestimmt wird. In der MVStättV sind dagegen die Betriebspflichten , die dem Schutz der Besucher von Versammlungsstätten dienen und die Anforderungen der BauO Bln konkretisiert.11 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass sich das Versammlungsstättenrecht aus den unterschiedlichsten bauordnungssrechtlichen Rechtsquellen des Landes Berlin speist, wobei das speziellere Recht mit dem Bezug zu Versammlungsstätten das allgemeinere landesspezifische Bauordnungsrecht verdrängt. Hierbei könnte gegebenenfalls auch unter Gesichtspunkten des Bestandsschutzes die Frage problematisch werden, welches Recht zu welchem Zeitpunkt anzuwenden ist. Ungeachtet dessen soll aber weiter untersucht werden, welche Wertungsunterschiede zwischen dem Arbeitsstätten- und dem Versammlungsstättenrecht in Betracht kommen. Schutzziel des Versammlungsstättenrechts ist es, durch Regelungen zum Bau und Betrieb von Versammlungsstätten einen möglichst optimalen Schutz von Personen während ihres Aufenthalts und eine rasche Evakuierung bei Eintritt von Schadensfällen aus Versammlungsstätten zu gewährleisten. In der auf 48 Paragraphen reduzierten MVStättV wurde konsequent darauf geachtet , dass das für die Neuerrichtung und den Betrieb bestehender Versammlungsstätten erforderliche Sicherheitsniveau dem aktuellen Erkenntnisstand der Sicherheitstechnik angepasst wird.12 Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die MVStättV in ihrer derzeitigen Fassung sich allenfalls auf dem Erkenntnisstand der Sicherheitstechnik im Jahre 2005 befindet. Es bedarf einer gesonderten Prüfung, aus welchen Gründen in der MVStättV von einer gesetzestechnischen Abstimmung auf das Baunebenrecht (Arbeitsschutzrecht) Abstand genommen worden ist. Als weiteres Zwischenergebnis ist aber festzustellen, dass die Regelungen in der MVStättV zu Flucht- und Rettungswegen oder die zulässige Anzahl der Besucher den sicherheitstechnischen Standard und die entsprechenden sicherheitstechnischen Regeln wohl allenfalls bis zum Jahre 2005 umsetzten. 10 Vgl. bspw. § 19 VStättVO (a. F.): „(1) Gänge im Versammlungsraum, Ausgänge zu den Fluren, Flure, Treppen und andere Ausgänge (Rettungswege) müssen in solcher Anzahl und Breite vorhanden und so verteilt sein, dass Besucher, Mitwirkende und Betriebsangehörige auf kürzestem Wege leicht und gefahrlos ins Freie auf Verkehrsflächen gelangen können. (2) Die lichte Mindestbreite eines jeden Teiles von Rettungswegen muss 1 m je 150 darauf angewiesene Personen betragen. Gänge in Versammlungsräumen mit fester Bestuhlung müssen mindestens 90 cm, Flure mindestens 2 m, alle übrigen Rettungswege mindestens 1,10 m breit sein. § 23 Abs. 8 bleibt unberührt. Bei Logen mit nicht mehr als 20 Plätzen genügen Türen von 75 cm lichter Breite. (3) Bei mehreren Benutzungsarten sind die Rettungswege nach der größtmöglichen Besucherzahl zu berechnen. Soweit keine Sitzplätze angeordnet werden, sind auf 1 m² Grundfläche zwei Personen zu rechnen. (4) Haben mehrere in verschiedenen Geschossen gelegene Versammlungsräume gemeinsame Rettungswege, so ist bei deren Berechnung die Besucherzahl des größten Raumes ganz, die der übrigen Räume nur zur Hälfte zugrunde zu legen.(5) Verkaufsstände , Wandtische, Wandsitze, Bordbretter und ähnliche feste Einrichtungen dürfen die notwendige Mindestbreite von Rettungswegen nicht einengen.“ 11 Löhr/Gröger, Bau und Betrieb von Versammlungsstätten, 2. Auflage 2006, S. 78/79. 12 Löhr/Gröger, Bau und Betrieb von Versammlungsstätten, 2. Auflage 2006, S. 76. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 8 2.3. Schutzziele der Arbeitsstättenverordnung Die ArbStättV13 dient der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Beschäftigten beim Betreiben einer Arbeitsstätte. Nach 30 Jahren wurde die ArbStättV von 1975 im Rahmen eines Novellierungsverfahrens grundlegend durch die ArbStättV 2004 ersetzt, die am 25. August 2004 in Kraft trat. Erst hierdurch wurde die EG-Arbeitsstättenrichtlinie 89/654/EWG endgültig in nationales Recht umgesetzt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verweist darauf, dass unter anderem die „Modernisierung des bestehenden Rechtssystems (Deregulierung)“ die Novellierung erforderlich werden lies. Die ArbStättV 1975 enthielt eine Vielzahl von konkreten Maßzahlen und Detailregelungen. „Anstelle dieser starren Vorgaben traten flexible Grundvorschriften mit Schutzzielbestimmungen und allgemein gehaltene Anforderungen in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen.“14 Mit der ArbStättV 2004 wird der Wille und das rechtspolitische Bestreben des Verordnungsgebers verfolgt, den Betrieben Raum für eine an die individuelle Situation angepasste, praxisnahe und bedarfsgerechte Gestaltung der Arbeitsstätte und der dort nötigen betriebsspezifischen Arbeitsschutzmaßnahmen zu geben. Dies soll letztlich der „Flexibilisierung des Arbeitsschutzrechts “ dienen und dem Arbeitgeber mehr „Entscheidungs- und Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung der Arbeitsstätte“ verschaffen. Ziel der ArbStättV 2004 ist es in verfahrensrechtlicher Hinsicht mithin, alle an der Umsetzung der Verordnung Beteiligten zu verpflichten, nach flexiblen Lösungen im Arbeitsstättenrecht zu suchen.15 § 3a Abs. 4 ArbStättV regelt das Verhältnis zwischen den Vorgaben des Arbeitsstättenrechts und den Anforderungen, die für die Arbeitsstätte durch andere Rechtsvorschriften, insbesondere den Bauordnungen der Länder, aufgestellt werden. Soweit es Doppelregelungen gibt, deren Vorgaben sich widersprechen und deshalb miteinander kollidieren, sollen nach Lorenz die daraus entstehenden Normenkonflikte grundsätzlich so gelöst werden, dass jeweils die Rechtsvorschrift einzuhalten ist, die weitergehende Anforderungen an den Normadressaten enthält.16 . In Härtefällen könne bei der jeweils zuständigen Aufsichtsbehörde eine Ausnahmegenehmigung beantragt werden .17 13 Verordnung über Arbeitsstätten (Arbeitsstättenverordnung –ArbStättV) vom 12.08.2004 (BGBl. I S. 2407), zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 2006/25/EG vom 19.07.2010 (BGBl. I S. 960). 14 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Übersicht über das Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, Ausgabe 2011/2012, S. 688. 15 Vgl. hierzu im Einzelnen, Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Übersicht über das Arbeitsrecht /Arbeitsschutzrecht, Ausgabe 2011/29012, S. 682 ff., insbesondere Ziffer 248. 16 Lorenz, in: Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz (2011), 3a ArbStättV Rdnr. 16. 17 Vgl. § 3a Abs. 3 ArbStättV und die entsprechenden Ausnahmebestimmungen der Landesbauordnungen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 9 2.4. Wertungsunterschiede Das Versammlungsstättenrecht zielt auf den präventiven Schutz der Besucher einer Veranstaltung , während das Arbeitsstättenrecht auf den Schutz der dort beschäftigten Arbeitnehmer gerichtet ist. Beide Rechtsbereiche, zumindest die Regelungen über Flucht- und Rettungswege oder die zulässige Anzahl der Besucher, stellen Rechtsvorschriften zur Gefahrenabwehr18 dar. Sowohl das Arbeitsstättenrecht als auch das Versammlungsstättenrecht haben als gemeinsames Schutzgut das verfassungsrechtlich garantierte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses Grundrecht soll für Arbeitnehmer während der Arbeitstätigkeit und für die Besucher einer Veranstaltung durch die dargestellten Rechtsbereiche sichergestellt werden. Es wäre dem Verfassungsrecht fremd, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eines Arbeitnehmers während seiner Arbeitstätigkeit höher zu bewerten als das eines Besuchers einer Versammlungsstätte. Grundsätzlich können deshalb für Arbeitnehmer keine höheren Standards zum Schutz des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit als für Besucher gefordert werden, wenn die Arbeitsstätte gleichzeitig eine Versammlungsstätte darstellt.19 Der Gesetzgeber strebt deshalb sowohl im Bauordnungsrecht/Versammlungsstättenrecht als auch im Arbeitsstättenrecht an, auf die sich fortentwickelnden allgemein anerkannten Regeln der Technik zu verweisen. Diese technischen Regeln besitzen als Regelwerke keine Rechtsnormqualität und haben lediglich die Funktion, als Hilfsmittel oder Beweislastregeln die Feststellung der Übereinstimmung der Bauausführung mit den rechtlichen Anforderungen der Bauordnung zu ermöglichen. Unter bestimmten Voraussetzungen – meist in atypischen Fällen – darf von den technischen Regeln auch ausdrücklich abgewichen werden. Es ist also durchaus denkbar, den Nachweis der Erfüllung bauordnungsrechtlicher Anforderungen auch auf andere Weise zu erbringen als durch die Übereinstimmung mit den einschlägigen Regelwerken.20 Ebenso verhält es sich mit den Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR). Diese geben den Stand der Technik, Arbeitsmedizin und sonstige arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse für das Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten wieder. Sie werden vom Ausschuss für Arbeitsstätten (ASTA) ermittelt und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach der ArbStättV im Gemeinsamen Ministerialblatt bekannt gemacht. Die ASR konkretisieren die Anforderungen der Arbeitsstättenverordnung hinsichtlich der Ermittlung und Bewertung von Gefährdungen sowie die Ableitung von geeigneten Schutzmaßnahmen. Bei Anwendung der beispielhaft genannten Maßnahmen kann der Arbeitgeber insoweit die Vermutung der Einhaltung der Vorschriften der ArbStättV für sich geltend machen. Wählt der Arbeitgeber eine andere Lösung, muss er damit die gleiche Sicherheit für die Beschäftigten erreichen.21 Es versteht sich von selbst, dass eine absolute 18 Vgl. auch Entwurf der ArbStätttV der Bundesregierung, Bundesrat-Drucks. 450/04, S. 22. 19 Zu Abweichungen von der VStättVO, allerdings nicht unter Gesichtspunkten der ArbStättV, vgl. Liehr, Der Betrieb von Versammlungsstätten – oder die Versammlungsstättenverordnung, eine vernachlässigte Regelung, VBlBW 2013, S. 169 (172). 20 Vgl. im Einzelnen Grotefels, in Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches Baurecht, 4. Auflage 2010, § 15 Rdnr. 13 – 15 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 21 ASR A2.3 – Fluchtwege und Notausgänge, Flucht- und Rettungsplan, Ausgabe: August 2007, S. 1, zuletzt geändert GMBl 2014, S. 286, abrufbar unter (Stand: 16.05.2014): www.bua.de. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 10 Sicherheit wohl auch nicht durch die ASR A2.3 hergestellt, sondern nur der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts vermindert werden kann. Der Arbeitgeber muss daher bei der Wahl anderer Lösungen oder „gleichwertiger Ersatzmaßnahmen“22 eine ähnlich verminderte Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts nachweisen. Die ASR A2.3 stellen - wie bereits ihre Bezeichnung deutlich macht - „Technische Regeln“ dar. Es ist davon auszugehen, dass diese wiederum ihrerseits auf weiteren anerkannten technischen Regeln beruhen, wie beispielsweise den DIN-Normen des Deutschen Instituts für Normung oder europäischen Normen, den sog. DIN-EN-Normen etc. Diese technischen Regeln im Baunebenrecht (Arbeitsstättenrecht) besitzen daher als Regelwerke wie im allgemeinen Bauordnungsrecht keine Rechtsnormqualität, „müssen also nicht zwingend befolgt werden“.23 Die ASR A2.3 haben deshalb auch im Arbeitsstättenrecht lediglich die Funktion, als Hilfsmittel oder Beweislastregeln die Feststellung der Übereinstimmung der Arbeitsstätten mit den rechtlichen Anordnungen der ArbStättV zu ermöglichen. Auch im Baunebenrecht (Arbeitsstättenrecht) ist es also möglich, den Nachweis der Erfüllung der arbeitsstättenrechtlichen Anforderungen auch auf andere Weise zu erbringen als durch die Übereinstimmung mit den einschlägigen Vorschriften der ASR A2.3. Dies kann etwa durch Sachverständigengutachten oder anderweitige sicherheitstechnische Regelwerke (sog. antizipierte Sachverständigengutachten) erfolgen, die im Versammlungsstättenrecht Anwendung finden. 2.5. Zwischenergebnis Das Schutzziel des Bauordnungsrechts/Versammlungsstättenrecht sowie des Arbeitsstättenrechts besteht darin, durch entsprechende Regelungen für Versammlungs- und Arbeitsstätten einen möglichst optimalen Schutz von Personen vor einer Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität und eine rasche Evakuierung bei Eintritt von Schadensfällen zu gewährleisten. Zumindest für diesen Bereich dürften keine Wertungsunterschiede zwischen dem Arbeitsstättenrecht als Teil des Baunebenrechts und dem Bauordnungsrecht bestehen. Unterschiede zwischen dem Versammlungsstättenrecht und dem Arbeitsstättenrecht können sich daraus ergeben, dass die MVStättV den Stand sicherheitstechnischer Regelwerke bis allenfalls 2005 widerspiegeln, während die ASR A2.3 den Stand sicherheitstechnischer Regelwerke möglicherweise bis zum Jahr 2014 berücksichtigt. Möglicherweise kommen aber die aktuellen ASR A2.3 nicht oder nur modifiziert zur Anwendung, wenn die Übergangsregelungen der ArbStättV greifen. 3. Übergangsvorschriften des § 8 Abs. 1 ArbStättV Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) enthält Regelungen, die dem schutzwürdigen Interesse am Bestandsschutz einmal getroffener Verwaltungsentscheidungen für Arbeitsstätten Rechnung 22 Lorenz, in: Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz (2011), 3a ArbStättV Rdnr. 7. 23 Lorenz, in: Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz (2011), ArbStättV Einführung Rdnr. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 11 tragen, mit deren Errichtung bereits vor der Novellierung der ArbStättV 2004 begonnen worden war. Bereits an dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass das aus dem allgemeinen Öffentlichen Baurecht bekannte Rechtsinstitut des Bestandsschutzes24 auf das Arbeitsstättenrecht nur eingeschränkt übertragbar ist. Die maßgebliche diesbezügliche Vorschrift der ArbStättV wird wohl auch deshalb als „Übergangsvorschrift“ bezeichnet.25 3.1. Bestandsschutz (§ 8 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV) Reduzierte Anforderungen bestehen für Arbeitsstätten, die unter die Ausnahmeregelungen (Übergangsvorschrift) des § 8 Abs. 1 ArbStättV fallen. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut: „(1) Soweit für Arbeitsstätten, 1. die am 1. Mai 1976 errichtet waren oder mit deren Einrichtung vor diesem Zeitpunkt begonnen worden war oder 2. die am 20. Dezember 1996 eingerichtet waren oder mit deren Einrichtung vor diesem Zeitpunkt begonnen worden war und für die zum Zeitpunkt der Einrichtung die Gewerbeordnung keine Anwendung fand, in dieser Verordnung Anforderungen gestellt werden, die umfangreiche Änderungen der Arbeitsstätte, der Betriebseinrichtungen, Arbeitsverfahren oder Arbeitsabläufe notwendig machen, gelten hierfür nur die entsprechenden Anforderungen des Anhangs II der Richtlinie 89/654/EWG des Rates vom 30. November 1989 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz in Arbeitsstätten (ABl. EG Nr. L 393 S. 1).26 Soweit diese Arbeitsstätten oder ihre Betriebseinrichtungen wesentlich erweitert oder umgebaut oder die Arbeitsverfahren oder Arbeitsabläufe wesentlich umgestaltet werden, hat der Arbeitgeber die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit diese Änderungen, Erweiterungen oder Umgestaltungen mit den Anforderungen dieser Verordnung übereinstimmen.“ Die Vorschrift soll dem schutzwürdigen Vertrauen der Arbeitgeber in die Beständigkeit der früheren Rechtslage für Arbeitsstätten Rechnung tragen, die erst seit der Ausdehnung des Geltungsbereichs zum 20. Dezember 1996 den Vorschriften der Arbeitsstättenverordnung unterliegen, und mit deren Errichtung bereits zu diesem Zeitpunkt begonnen worden war. Mit der Errichtung von Arbeitsstätten auf der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes wurde bereits vor dem Jahre 1996 begonnen. Für diese Arbeitsstätten gelten deshalb grundsätzlich weiterhin nur die Anforderun- 24 Vgl. hierzu Lindner, Der passive Bestandsschutz im öffentlichen Baurecht, DÖV 2014, S. 313 ff.; Bahnsen, Der Bestandsschutz im öffentlichen Baurecht (2011), Uschkereit, Der Bestandsschutz im Bau- und Immissionsschutzrecht (2007); Brenndörfer, Reichweite und Grenzen des baurechtlichen Bestandsschutzes (2008). 25 Vgl. Lorenz, in: Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz, 2. Auflage 2011, § 8 ArbStättV Rdnr. 2. 26 § 8 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV entspricht den Abs. 1 und 3 des § 56 ArbStättV 1975, vgl. Wiebauer/Kollmer, in: Landmann/Rohmer, GewO, 65. Ergänzungslieferung 2013, § 8 ArbStättV Rdnr. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 12 gen des Anhangs II der EG-Arbeitsstättenrichtlinie aus dem Jahre 1989. Diese Anforderungen sind für Fluchtwege und Notausgänge nur allgemein gehalten. Hieraus lässt sich nicht ermitteln, wie viele Personen sich beispielsweise auf der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes aufhalten dürfen. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass diese sogenannten Alt-Arbeitsstätten auf der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes, so wie sie letztlich eingerichtet worden sind, grundsätzlich Bestandsschutz genießen. Zu prüfen ist, ob oder inwieweit dieser Bestandschutz Einschränkungen unterworfen ist. 3.2. Umgestaltung der Arbeitsstätte (§ 8 Abs. 1 Satz 2 ArbStättV) Dieser Bestandsschutz wird jedenfalls durch § 8 Abs. 1 Satz 2 ArbStättV nicht eingeschränkt oder modifiziert. Diese Vorschrift setzt Regelungen der EG-Arbeitsstättenrichtlinie in nationales Recht um und stellt klar, dass auch bei Arbeitsstätten mit Bestandsschutz gegebenenfalls durchgeführte wesentliche Änderungen, Erweiterungen oder Umgestaltungen der Arbeitsstätte oder der Arbeitsabläufe mit den Anforderungen der ArbStättV in Einklang stehen müssen.27 Der maßgebliche Art. 5 der EG-Arbeitsstättenrichtlinie hat folgenden Wortlaut: „Werden an Arbeitsstätten nach dem 31. Dezember 1992 Änderungen, Erweiterungen und/oder Umgestaltungen vorgenommen, so hat der Arbeitgeber die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit diese Änderungen, Erweiterungen und/oder Umgestaltungen mit den entsprechenden Mindestvorschriften des Anhangs I übereinstimmen.“ Die Arbeitsstätten auf der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes sind weder geändert, erweitert oder umgestaltet, sondern waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhanden und sind völlig neu eingerichtet worden. Die Herrichtung der Dachterrasse stellt auch keinen Neubau dar, da die darauf befindliche, am historischen Vorbild orientierte Kuppel einen integralen Bestandteil des bestandsgeschützten Reichstagsgebäudes darstellt. Im Ergebnis findet § 8 Abs. 1 Satz 2 der ArbStättV deshalb keine Anwendung. 3.3. Umfang des Bestandsschutzes Die derzeit geltende ArbStättV 2004 soll aber auch unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles auf Alt-Arbeitsstätten im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz1 ArbStättV Anwendung finden.28 In diesem Rahmen gilt der Bestandsschutz nicht nur gegenüber den Vorschriften 27 Kollmer, ArbStättV, § 8 Rdnr. 9; Wiebauer/Kollmer, in: Landmann/Rohmer, GewO, 65. Ergänzungslieferung 2013,, § 8 ArbStättV Rdnr. 2. 28 Wiebauer/Kollmer, in: Landmann/Rohmer, GewO, 65. Ergänzungslieferung 2013, § 8 ArbStättV Rdnr. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 13 der ArbStättV, sondern auch gegenüber Anforderungen, die erst in Technischen Regeln (ASR) bzw. den früheren Arbeitsstättenrichtlinien29 formuliert worden sind. Die ArbStättV war von Anfang an durch die Bezugnahme auf die allgemein anerkannten sicherheitstechnischen , arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln bzw. auf den Stand der Technik dynamisch30 angelegt, sodass die Anforderungen mit neuen Entwicklungen steigen. Als Stichtag für den Bestandsschutz gilt daher auch hinsichtlich der Anwendung der ASR der 20. Dezember 1996 unabhängig davon, wann die betreffende Regel erlassen wurde.31 Nach Wiebauer/Kollmer sollen demnach grundsätzlich diese Technischen Regeln, insbesondere die ASR A2.3 über Fluchtwege und Notausgänge, Flucht – und Rettungsplan,32auf Arbeitsstätten Anwendung finden, mit deren Einrichtung vor dem 20. Dezember 1996 begonnen wurde. 3.4. Umfangreiche Änderungen Dies soll bei Alt-Arbeitsstätten nur dann nicht der Fall sein, wenn die ArbStättV an den Arbeitsschutz Anforderungen stellt, die umfangreiche bauliche Änderungen der Arbeitsstätte oder Arbeitsabläufe notwendig machen. Damit wird in erster Linie auf den Umfang der notwendigen baulichen Änderungen abgestellt. Dieser lässt sich technisch (Umfang des Eingriffs in die Bausubstanz ) oder wirtschaftlich (Kosten der Änderungsmaßnahmen) betrachten. In beiden Fällen ist letztlich der finanzielle Aufwand das entscheidende Beurteilungskriterium.33 Die Dachterrasse des Reichstagsgebäudes, dessen wesentlicher Bestandteil die begehbare Kuppel darstellt, ist für eine Besucherzahl von ca. 700 Personen bautechnisch ausgerichtet sowie unter versammlungsrechtlichen Gesichtspunkten genehmigt. Die insgesamt bauordnungsrechtlich zulässige Nutzung der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes mit seiner Kuppel würde entwertet und für die Öffentlichkeit funktionslos, wenn die Besucherzahl auf max. 80 Personen beschränkt würde. Um den bestimmungsgemäßen Gebrauch dieses Gebäudeteils für die Öffentlichkeit auch arbeitsschutzrechtlich im bisherigen Umfang zu gewährleisten, würden wohl umfangreiche Änderungen an der Substanz des historischen Reichstagsgebäudes erforderlich. Dies könnte denkmalschutzrechtlich problematisch und dürfte aus Kostengründen nicht zu rechtfertigen sein. 29 Vgl. Ast, Verordnung über Arbeitsstätten – Textausgabe mit amtlicher Begründung und Arbeitsstättenrichtlinien, 12. Auflage 1991, S. 63 ff. 30 Vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ArbStättV 1975/1996; § 3 Abs. 1 Satz 2 ArbStättV 2004, jetzt § 3a Abs. 1 Satz 2 ArbStättV. 31 Kollmer, Arbeitsstättenverordnung, 3. Auflage 2009, § 8 Rdnr. 6; Wiebauer/Kollmer, a.a.O. § 8 ArbStättV Rdnr. 5. 32 Ausgabe: August 2007, zuletzt geändert im Jahre 2014. 33 Wiebauer/Kollmer, in: Landmann/Rohmer, GewO, 65. Ergänzungslieferung 2013, § 8 ArbStättV Rdnr. 6 mit weiteren Nachweisen.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 14 3.5. Zwischenergebnis Festzustellen ist daher, dass die neueren technischen Regeln (ASR A 2.3) zum Arbeitsschutz auf sog. Alt-Arbeitsstätten unter Gesichtspunkten des Einzelfalles nur eine eingeschränkte oder modifizierte Anwendung entfalten können. 4. Zusammenfassung Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Bauvorhaben unterschiedlichen oder sogar sich widersprechenden Regelungen im Versammlungsstättenrecht und im Arbeitsstättenrecht unterworfen ist. Eindeutige gesetzliche Bestimmungen, zu welchem Zeitpunkt, welche Regelungen (mit oder ohne Rechtsnormqualität) im Einzelfall vorrangig oder nachrangig zur Anwendung gelangen , sind nicht ersichtlich. Schutzziel des Versammlungsstättenrechts ist es, durch Regelungen zum Bau und Betrieb von Versammlungsstätten einen möglichst optimalen Schutz von Personen während ihres Aufenthalts und eine rasche Evakuierung bei Eintritt von Schadenfällen aus Versammlungsstätten zu gewährleisten. Entsprechendes gilt nach dem Arbeitsstättenrecht für die dort beschäftigten Arbeitnehmer . Unterschiede zwischen dem Versammlungsstättenrecht und dem Arbeitsstättenrecht können sich daraus ergeben, dass wohl die Regelungen der MVStättV den Stand sicherheitstechnischer Regelwerke bis allenfalls 2005 widerspiegeln, während die ASR A2.3 den Stand sicherheitstechnischer Regelwerke möglicherweise bis zum Jahr 2014 berücksichtigt. Mit der ArbStättV wird der Wille und das rechtspolitsche Bestreben des Verordnungsgebers verfolgt , den Arbeitgebern Raum für eine an die individuelle Situation angepasste, praxisnahe und bedarfsgerechte Gestaltung der Arbeitsstätte und der dort nötigen betriebsspezifischen Arbeitsschutzmaßnahmen zu geben. Dies soll letztlich der Flexibilisierung des Arbeitsschutzrechts dienen und dem Arbeitgeber mehr Entscheidungs- und Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung der Arbeitsstätte verschaffen. Ziel der ArbStättV ist es mithin in verfahrensrechtlicher Hinsicht, alle an der Umsetzung der ArbStättV Beteiligten zu verpflichten, nach flexiblen und bedarfsgerechten Lösungen im Arbeitsstättenrecht vor Ort zu suchen. Die Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) haben keine Rechtsnormqualität und sind nicht zwingend anzuwenden. Die ASR A2.3 haben deshalb lediglich die Funktion, als Hilfsmittel oder Beweislastregel die Feststellung der Übereinstimmung der Arbeitsstätten mit den rechtlichen Anforderungen der ArbStättV zu ermöglichen. Auch und vor allem im Arbeitsstättenrecht ist es möglich, den Nachweis der Erfüllung der entsprechenden Anforderungen auf andere Weise zu erbringen als durch die Übereinstimmung mit den einschlägigen Vorschriften der ASR A2.3. Dies kann etwa durch Sachverständigengutachten oder anderweitige sicherheitstechnische Regelwerke (sog. antizipiere Sachverständigengutachten ) erfolgen, die beispielsweise im Versammlungsstättenrecht Anwendung finden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 115/14 Seite 15 Im Übrigen genießt die Dachterrasse auf dem Reichstagsgebäude Bestandsschutz im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV. Dies hat zur Folge, dass die aktuellen Technischen Regeln für Arbeitsstätten , insbesondere die ASR A2.3, nicht oder nur mit geringeren Anforderungen zur Anwendung gelangen.