© 2016 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 112/16 Russisch-eurasische organisierte Kriminalität in Gestalt der „Diebe im Gesetz“ Hintergrund und aktueller Sachstand Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Bereits seit längerem wird in einschlägigen Fachveröffentlichungen über die so genannten „Diebe im Gesetz“ als einer Erscheinungsform der russisch-eurasischen organisierten Kriminalität berichtet .1 In neuester Zeit wird zudem seitens des Bundeskriminalamtes (BKA) ein verstärktes Vordringen der „Diebe im Gesetz“ – die auch bereits Gegenstand deutscher höchstrichterlicher Rechtsprechung waren2 – in Westeuropa konstatiert.3 Nachfolgend soll vor diesem Hintergrund ein summarischer Überblick über diese Gruppierung gegeben werden. 2. Geschichte Über die historischen Wurzeln der „Diebe im Gesetz“ bestehen unterschiedliche Auffassungen: Zum Teil wird festgestellt, die Wurzeln lägen „in der Gefängnisstruktur des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert“.4 Andere Stimmen hingegen datieren das Entstehen auf die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts.5 Verbreitet wird festgestellt, gerade die Zeitspanne während und nach der Oktoberrevolution habe zu Umständen geführt, die das Entstehen der „Diebe im Gesetz“ besonders begünstigt hätten: „Gerade die Zeit der ‚Neuen Ökonomischen Politik (NEP)‘ ab 1921, in der Lenin die Parole ausgab ‚zwei Schritt vor und einen zurück‘, führte zu einem Wiedererstarken kapitalistischen Wirtschaftens und zu einer ‚goldenen Zeit‘ der Schattenwirtschaft. Persönliche Bereicherung war für einige Jahre politische Doktrin und führte nicht nur zur wirtschaftlichen Konsolidierung der jungen Sowjetmacht nach den Wirren des so genannten ‚Kriegskommunismus‘ der Bürgerkriegszeit, sondern auch zum Aufblühen der ‚Diebe im Gesetz‘.“6 Mit diesen für kriminelle Aktivitäten günstigen äußeren Rahmenbedingungen einher ging offenbar der Aufbau einer erheblichen Machtposition im Strafvollzug: „Die ‚Diebesorganisation‘ brachte es durch ihre straffe Organisation und ihre Skrupellosigkeit bald zum Ordnungsfaktor. Im Lager (russ. ‚zona‘) herrschte tagsüber das Wachpersonal und in 1 Vgl. etwa Roth, Organisierte Kriminalität in Russland – Die Rolle der „Diebe im Gesetz“, Kriminalistik 2000, 725; Daschko, „Diebe im Gesetz“ – vom Aufbau der russischen Mafia, Wostok, 1996, 67; Shalikashvili, „Diebe im Gesetz“: Eine kriminelle Organisation im deutschen Jugendstrafvollzug?, 2009. 2 Vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 13.09.2011, 3 StR 262/11. 3 Vgl. nur „Brutale Bruderschaft“, Welt am Sonntag, 10.07.2016, abrufbar unter http://www.welt.de/print/wams/article156929195/Brutale-Bruderschaft.html; „BKA warnt vor Ausbreitung der Russenmafia“, Zeit-online, 10.07.2017, abrufbar unter http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016- 07/kriminalitaet-bka-russenmafia-ausbreitung-deutschland. 4 So Kattge, Russisch Eurasische OK am Beispiel der „Diebe im Gesetz“, Kriminalistik 2014, 196. 5 So etwa Roth (oben Fußn. 1), S. 725. 6 Osterloh, Kriminelle Subkulturen bei MigrantInnen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, ZJJ 2004, 149, 150. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 5 der Nacht übernahmen die ‚vory‘ das Regime. Es existierte also faktisch eine Art von tolerierter Doppelgesellschaft. Die ‚Diebe‘ wurden systematisch als parallele ‚Ordnungsmacht‘ im Lager eingesetzt. Dies diente einerseits der weiteren Demütigung und Terrorisierung der politischen Gefangenen und andererseits entstand so eine Lagerelite, die bei Bedarf entsprechend von der Lagerleitung funktionalisiert werden konnte (das altbekannte ‚Teile und Herrsche- Prinzip‘). (…) Trotz einer zaghaften Entstalinisierung nach dem 20. Parteitag 1956 hatte sich in den Lagern nichts Entscheidendes geändert.“7 Die einschlägigen Strukturen hätten schließlich auch das Ende der Sowjetunion in den 1990er Jahren überdauert: „Auch wenn es keine explizit politischen Gefangenen mehr gibt, existierten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion Mitte der neunziger Jahre noch ca. 2.000 Lager mit insgesamt 600.000 Häftlingen. Es ist davon auszugehen, dass dieses illegale Subsystem in den Gefängnissen überlebt hat. Angesichts der permanenten Unterversorgung der Knäste mit Lebensmitteln und Medikamenten ist wahrscheinlich die Organisation der Selbstversorgung über die schwarzen Gemeinschaftskassen (rus. ‚obschtschak‘) die einzige Möglichkeit, ein etwas erträgliches Leben zu führen. Auch die Tatsache, dass das Personal chronisch unterbezahlt ist, lässt den Schluss zu, dass auch heute lieber nicht so genau hingeschaut wird.“8 3. Merkmale und Strukturen 3.1. Grundsätzliche Merkmale Traditionell handelt es sich bei den „Dieben im Gesetz“ „… um eine Art Geheimbund, eine Selbstorganisation von Kriminellen, die sich eine eigene Verfassung gaben. (…) Es handelte sich dabei … nicht nur um klassische Diebe im Sinne des Strafgesetzbuches, sondern um verschiedene Arten von sogenannten ‚Ganoven‘ und Kriminellen , sozusagen die ‚Aristokratie‘ der Kriminellen, die sich mit ihrem Organisationsstatut eine Form von eigenem Gesetz gegeben hatten, wobei der Begriff ‚Dieb‘ zu einem ‚Ehrentitel‘ wurde, der nur durch besondere ‚Leistungen‘ zu erwerben war. Über die Titelvergabe wachte eine ‚Diebesversammlung‘, die ‚s´chodka‘, die auch bei Konflikten als eine Art Schiedsgericht diente. Das ‚Diebesgesetz‘ war das einzig verbindliche Regelwerk, nach dem jeder ‚vor‘ (dt. Dieb) leben und handeln musste. Gesetze des Staates wurden als feindlich angesehen und schlichtweg ignoriert.“9 7 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 151. 8 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 151. 9 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 150. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 6 Das vorstehend genannte, grundsätzlich nicht schriftlich fixierte „Diebesgesetz“, das auch als Ehrenkodex bezeichnet wird, soll nach wie vor von hoher Bedeutung sein, auch wenn es ständigen Wandlungen unterliege.10 Es wird jedoch beispielhaft wie folgt zitiert: – „Der Dieb muss seiner leiblichen Familie den Rücken kehren (Mutter, Vater, Geschwistern). Die kriminelle Gemeinschaft ist seine einzige Familie. – Ein Dieb darf keine eigene Familie gründen (keine Frauen und Kinder haben). – Ein Dieb darf keiner Arbeit nachgehen und nur von den Erträgen seiner kriminellen Handlungen leben. – Ein Dieb muss anderen Dieben mittels der gemeinsamen Kasse oder des obschtschak (schwarze Solidarkasse, A.d.V.) moralische und materielle Unterstützung gewähren. – Ein Dieb darf Informationen über Komplizen und deren Aufenthaltsort nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergeben. – Ist ein Dieb ins Ziel von Ermittlungen geraten, muss der andere Dieb für seine ‚Deckung‘ sorgen und ihm die Flucht ermöglichen. – Tritt innerhalb einer Bande oder zwischen Dieben ein Konflikt auf, muss ein Treffen zur Beilegung dieses Konflikts organisiert werden. – Sofern dies notwendig wird, muss ein Dieb diesem Treffen beiwohnen, um über einen anderen Dieb zu urteilen, wenn dessen Lebensführung oder Verhalten Anlass zu Kritik geben. – Die in diesem Treffen gegen den Dieb ausgesprochene Strafe muss vollstreckt werden. – Ein Dieb muss die Ganovensprache beherrschen. – Ein Dieb darf nur dann an einem Kartenspiel teilnehmen, wenn er genügend Geld hat, um eventuelle Schulden zu bezahlen. – Ein Dieb muss Novizen seine ‚Kunst‘ lehren. – Ein Dieb muss immer einen ‚boy‘ oder schestjorka in seinem Dienst halten. – Ein Dieb darf nur soviel Alkohol trinken, dass er noch klaren Verstand bewahren kann. – Ein Dieb darf sich unter keinen Umständen mit den Behörden einlassen; ein Dieb nimmt nicht am gesellschaftlichen Leben teil; ein Dieb darf keinen gesellschaftlichen Vereinigungen angehören. 10 Kattge (oben Fußn. 4), S. 196; Osterloh (oben Fußn. 6), S. 150. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 7 – Ein Dieb darf vom Staat keine Waffe annehmen und nicht in der Armee dienen. – Ein Dieb muss jedes Versprechen, dass er einem anderen Dieb gegeben hat, einhalten.“11 3.2. Strukturen Aus Berichten über die „Diebe im Gesetz“ geht nicht immer eindeutig hervor, ob und ggf. inwieweit es sich hierbei um ein eher durch gleichförmige Regeln, Verhaltenskodices und ggf. Herkunft gekennzeichnetes subkulturelles Kriminalitätsphänomen oder tatsächlich um eine konkrete kriminelle Organisation mit zentraler Führung handelt.12 So wird hierzu etwa grundlegend ausgeführt , die „Diebe im Gesetz“ ähnelten „… einer Gewerkschaft oder einem ‚Klub‘ von Bandenführern, die einander durch kriminelle Traditionen und Gesetze verbunden und von daher verpflichtet sind, eine gemeinsame kriminelle Politik zu betreiben. Die ‚Diebe im Gesetz‘ kontrollieren die Zonen, in die ganz Russland gegliedert ist. Jeder ‚Dieb im Gesetz‘ verfügt über einen eigenen Apparat und hat ‚Poloschenzen ‘ (Stellvertreter), ‚Aufseher‘ (Leiter vor Ort), ‚Brigadiere‘ (untergeordnete Bandenchefs ), ‚Kassierer‘ (Buchhalter der ‚Obstschak‘ genannten Organisationskassen) und ‚Kämpfer‘ (einfache Banditen).“13 Diese Strukturelemente seien denen der italienischen Mafia vergleichbar: „Ähnlich wie bei den sizilianischen Mafiastrukturen, wo an der Spitze der Organisation der ‚Padrone‘ steht, gibt es auch in der russischen Variante einen zentralen Führer, der von einem Beratergremium (italienisch: consigliere) umgeben wird.“14 Zu Verfasstheit und regionaler Gliederung der „Diebe im Gesetz“ führte unter Bezugnahme auf die Vorinstanz der Bundesgerichtshof in einem Beschluss, in dem er grundsätzlich das Vorliegen der Voraussetzungen einer kriminellen Vereinigung im Sinne der §§ 129 ff. StGB15 in Bezug auf die „Diebe im Gesetz“ bejahte, aus: „Die Verbandsstruktur ist regional organisiert und überregional koordiniert. An oberster Stufe steht jeweils ein ‚Dieb im Gesetz‘, der diese Stellung mittels ‚Krönung‘ durch alle ‚Diebe im Gesetz‘ in Moskau erhält. Diesem wird ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, in dem sich kein anderer ‚Dieb im Gesetz‘ ansiedeln darf. Organisatorische Aufgaben übernehmen als seine unmittelbaren Vertrauenspersonen ‚Nahestehende‘, unter denen ‚Statthalter‘ oder ‚Kassenhalter‘ 11 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 150 f. 12 Vgl. Kattge (oben Fußn. 4), S. 196. 13 Daschko (oben Fußn. 1), S. 70. 14 Otto/Pawlik-Mierzwa, Kriminalität und Subkultur inhaftierter Aussiedler, DVJJ-Journal 2001, 124, 128. 15 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Juli 2016 (BGBl. I S. 1610) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 8 stehen, welche die untergeordneten Mitglieder zu leiten und Beiträge zur Gemeinschaftskasse einzusammeln und abzuführen haben. Die Willensbildung unterliegt verbindlichen, in der Organisation anerkannten Regeln. Die Verhaltensregeln gebieten den Mitgliedern eine Abschottung nach außen sowie Solidarität nach innen und untersagen jegliche Kooperation mit staatlichen Behörden. Verstöße werden abgestuft sanktioniert. Im Konfliktfall werden höhere Autoritätsstufen angerufen; deren ‚Schiedssprüche‘ erkennen die Mitglieder als bindend an und machen sie zur Maxime ihres Handelns. Verbindlich festgelegte Zielsetzung der Organisation ist, bestimmte Straftaten zu begehen und einen Teil der hieraus gewonnenen Erlöse in die Gemeinschaftskasse (‚Abschtschjak‘) zu zahlen. Diese dient der Bereicherung der höherrangigen Mitglieder sowie allgemein der Unterstützung der Mitglieder in besonderen Situationen , etwa im Falle einer Inhaftierung.“16 Hinsichtlich der vorstehend geschilderten heutigen Stukturen erscheinen die Feststellungen in der Literatur allerdings nicht immer widerspruchslos, wie auch der Bundesgerichtshof – wenn auch nur in der konkreten, von ihm zu beurteilenden Fallkonstellation – kritisch ausführt: „Die bisherigen Feststellungen zu der Vereinigung als solcher und ihrer Gründung in Moskau erscheinen teilweise nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Danach agiert die Vereinigung der Gebrüder S. einerseits europaweit; andererseits erhält ein ‚Dieb im Gesetz‘ nach seiner ‚Krönung ‘ ein eigenes Gebiet zugewiesen, in dem ihm gestattet ist, durch kriminelle Handlungen jedweder Art Geld zu verdienen, und in dem sich kein anderer ‚Dieb im Gesetz‘ ansiedeln darf. Danach wäre naheliegend die Gruppierung um die Brüder S. die einzige Vereinigung der ‚Diebe im Gesetz‘ in Europa. Dem könnten allerdings die sonstigen Urteilsgründe widersprechen , denen zu entnehmen ist, dass es mehrere ‚Diebe im Gesetz‘ gibt, ohne dass festgestellt ist, dass sich deren Organisationen über Europa hinaus ausgebreitet haben. Somit bleibt offen, wo sich die diesen zugewiesenen Gebiete befinden sollen.“17 Während gerade die Begrifflichkeit „Diebe im Gesetz“ mitunter als Oberbegriff der gesamten russischen Mafia verwendet zu werden scheint18, wird in Fachveröffentlichungen überwiegend betont , dass die „Diebe im Gesetz“ vor allem historisch als eine wesentliche Wurzel der heutigen russischen Mafia anzusehen seien, sich diese jedoch zu einem sehr komplexen und vielgestaltigen Gefüge entwickelt habe und damit nicht mehr nur aus „Dieben im Gesetz“ bestehe.19 So wird 16 BGH, Beschluss vom 13.09.2011, 3 StR 262/11. 17 BGH, Beschluss vom 13.09.2011, 3 StR 262/11. 18 Vgl. Otto/Pawlik-Mierzwa (oben Fußn. 14), S. 128. 19 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 153. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 9 etwa übereinstimmend berichtet, dass sich von den klassischen „Dieben im Gesetz“ eine Strömung der „Modernisierer“20 bzw. der „neuen Diebe“21, die auch „Reife“ genannt würden22, abgespalten habe, die ab den 1980er Jahren verstärkt andere Tätigkeitsfelder im Bereich der Schattenwirtschaft erschlossen hätten und in legalen Geschäftsbereichen tätig würden.23 Zwischen diesen beiden Strömungen komme es immer wieder zu Konflikten, da die „neuen Diebe“ kein Interesse mehr an Diebstählen und Einbrüchen hätten, sondern am „Florieren ihrer Firmen“.24 Entsprechend ihren historischen Wurzeln bestünde eine wesentliche Machtposition der „Diebe im Gesetz“ jedoch nach wie vor darin, dass sie „die meisten russischen Straf- und Besserungsanstalten kontrollieren. So stark jemand auch ‚in Freiheit‘ sein mag, im Gefängnis muss er sich schließlich doch den Regeln der ‚Diebe im Gesetz‘ unterordnen. Daher bemühen sich viele Kriminelle, Schattenwirtschaftler und auch legale Unternehmer, allen Eventualitäten vorzubeugen, das heißt, sie legen sich nicht mit den ‚Dieben im Gesetz‘ an , sondern führen lieber ‚freiwillig‘ Geld an die Gemeinschaftskasse ab.“25 4. Verbreitung und Auftreten in Deutschland und Europa In der Literatur wurde bereits im Jahr 2001 festgestellt, die deutschlandweite Vernetzung von russisch-eurasischen mafiaähnlichen Strukturen außerhalb wie innerhalb des Strafvollzuges werde mittlerweile von den zuständigen Ermittlungsbehörden als Realität anerkannt, der „Dieb im Gesetz“ habe sich außerhalb der GUS-Staaten etabliert.26 Dies gelte insbesondere für den Bereich des Strafvollzugs, in dem junge russischsprachige Delinquenten auch infolge der zahlenmäßig erheblichen Zuwanderung von Spätaussiedlern bzw. Russlanddeutschen seit den 1990er Jahren um das Zwei- bis Dreifache überrepräsentiert27 seien und versuchten, die „Diebesgesetze“ auf deutsche Gefängnisse zu übertragen28: „Der ‚Dieb im Gesetz‘ weist eine langjährige Gefängniskarriere auf, die ihn nicht ‚gebrochen‘ hat. Er personifiziert damit seine Unabhängigkeit von Gesetzen. … als ‚Dieb im Gesetz‘ geht er 20 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 153. 21 Daschko (oben Fußn. 1), S. 70. 22 Daschko (oben Fußn. 1), S. 70. 23 Vgl. auch Kattge (oben Fußn. 4), S. 197. 24 Daschko (oben Fußn. 1), S. 70. 25 Daschko (oben Fußn. 1), S. 70. 26 Otto/Pawlik-Mierzwa (oben Fußn. 14), S. 128. 27 Osterloh (oben Fußn. 6), S. 155. 28 Kattge (oben Fußn. 4), S. 197. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 10 nicht mehr selbst ins Gefängnis, sondern hat Gefolgsleute, die sich den Strafverfolungsorganen als Täter präsentieren. Diesen Gefangenen ‚in Vertretung‘ wird der Haftaufenthalt umfassend angenehm gestaltet. In der russlanddeutschen Subkultur der hiesigen Gefängnisse lassen sich diese Mechanismen wiederfinden. … Der strenge Ehrenkodex des ‚Diebes im Gesetz‘ wird neuerdings in der Insassenschaft umzusetzen versucht. Es liegen nunmehr schriftliche Aufzeichnungen über Organisationsbestrebungen in deutschen Gefängnissen vor, die der Romantisierung des ‚Diebes im Gesetz‘ alle Ehre machen. (…) Mittlerweile sind Gefangene zu beobachten, die wiederholt in Deutschland in Haft sitzen und sich innerhalb der Subkultur als Aspiranten oder sogar höhergestellte Personen der Organisation des ‚Diebes im Gesetz‘ sehen : sie weisen u.a. die entsprechende Tätowierung ‚Priviet woram‘ – das bedeutet ‚Gruß und Respekt‘ an und Verbeugung vor dem ‚Dieb im Gesetz‘ – auf. Diese Auffälligkeit muss besonders ernst genommen werden, denn es ist niemandem erlaubt, sich aus eigenem Entschluss ohne entsprechende Reputation in die Nähe der Organisation zu stellen.“29 Konstatiert wird zudem, dass sich über den Bereich des Strafvollzugs hinaus der direkte Einfluss der „Diebe im Gesetz“ aus dem russisch-eurasischen Raum zunehmend auch auf Westeuropa ausgedehnt habe: „Wichtige Vertreter der ‚Diebe im Gesetz‘ halten sich in europäischen Staaten wie Spanien, Frankreich, Österreich, Italien und Griechenland auf. Im Jahr 1997 sollen sich nach einem im Jahr 2011 veröffentlichten Bericht etwa 15 russischsprachige ‚Diebe im Gesetz‘ in Deutschland aufgehalten haben. Die Existenz der Russisch-eurasischen Organisierten Kriminalität zeigt sich auch im OK30-Lagebild: Im Jahr 2011 wurden 40 OK-Verfahren Russisch-Eurasischen OK-Gruppierungen zugerechnet, die einen Anteil von 7 % aller in Deutschland geführten OK-Verfahren ausmachen. Als Hauptaktivitätsfelder wurden die Eigentumskriminalität, der Rauschgifthandel, Cybercrime (Phising) und die Wirtschaftskriminalität registriert. Außerdem werden in fast allen westeuropäischen Staaten zunehmend Kleinkriminelle aus dem Russisch-Eurasischen Raum insbesondere im Bereich der Eigentums- und Rauschgiftkriminalität festgestellt. Dabei ist davon auszugehen, dass viele als kriminelle Brigaden im System der ‚Diebe im Gesetz‘ agieren oder es zumindest unterstützen.“31 5. Strafrechtliche Implikationen Von besonderem, auch zukünftigem Interesse im Zusammenhang mit der strafrechtlichen staatlichen Reaktion auf kriminelle Aktivitäten von „Dieben im Gesetz“ in Deutschland sind Feststellungen des Bundesgerichtshofes, wonach gerade die spezifischen international verteilten Organisations - und Entscheidungsstrukturen der „Diebe im Gesetz“ ihrer Einordnung als inländischer krimineller Organisation im Sinne des § 129 StGB entgegen stehen können: „Als wesentliches Zuordnungskriterium ist der Schwerpunkt der Organisationsstruktur anzusehen (…). Dieser Schwerpunkt der organisatorischen Strukturen ist seinerseits anhand verschiedener Merkmale zu ermitteln (…). Er kann sich insbesondere aus dem Ort ergeben, an 29 Otto/Pawlik-Mierzwa (oben Fußn. 14), S. 128 f. 30 OK = Organisierte Kriminalität. 31 Kattge (oben Fußn. 4), S. 197. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 11 dem gleichsam ‚die Verwaltung geführt wird‘ (…). Anhaltspunkt dafür kann die Konzentration personeller und/oder sachlicher Ressourcen sein, beispielsweise für Organisationszwecke genutzte Gebäude, Ausbildungsstätten oder Material, wie Tatwerkzeuge, Unterlagen oder auch Datenverarbeitungsanlagen. … Ferner ist in den Blick zu nehmen, wo nach den Strukturen der Vereinigung deren Gruppenwille gebildet wird, d.h. wo der durch die entscheidungsbefugten Organe der Vereinigung gebildete Verbandswille zustande kommt und erstmals durch konkrete Umsetzungsakte nach außen in Erscheinung tritt (…). Auch kann zu berücksichtigen sein, an welchem Ort sich die Vereinigung gegründet hat. Demgegenüber sind die Staatsangehörigkeit der Mitglieder und deren bloßer Wohnsitz regelmäßig nicht von entscheidendem Belang (….). … Daneben kann das eigentliche Aktionsfeld Bedeutung erlangen, mithin der Ort, an dem die Straftaten, auf deren Begehung die Zwecke oder Tätigkeit der Vereinigung gerichtet sind, begangen werden sollen bzw. begangen werden (…). Allerdings genügt es für die Einordnung einer Gruppierung als inländische oder EU-Vereinigung nicht, dass sie auf dem jeweiligen Gebiet lediglich Straftaten begeht oder begehen will. Erforderlich ist vielmehr zumindest, dass in Deutschland bzw. dem Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Organisationsstrukturen bestehen und die Vereinigungsmitglieder nicht nur zur Vorbereitung und Begehung der Straftaten, auf die die Vereinigung gerichtet ist, in die betreffende Region einreisen und sich dort aufhalten. … Nach diesen Maßstäben wies die Organisation der Gebrüder S. auf der Grundlage der bisherigen Urteilsfeststellungen keine ausreichende räumlich-organisatorische Inlandsverankerung auf. Weder befand sich der Schwerpunkt der Organisationsstrukturen im Inland, noch war das Aktionsfeld der Vereinigung auf Deutschland beschränkt. Die ‚Diebe im Gesetz‘, die Gebrüder S., die im Konfliktfall die maßgebliche Autorität und mithin für die Bildung des Gruppenwillens von entscheidender Bedeutung waren, hielten sich nicht in Deutschland auf. Die Weiterleitung der Listen, die über die für die Organisation gesammelten Gelder geführt wurden, an K. S. nach Spanien ist ein Indiz dafür, dass dort wesentliche Aufgaben betreffend die Organisation bzw. ‚Verwaltung ‘ der Vereinigung vorgenommen wurden. Da die Vereinigung – etwa durch Statt- und Kassenhalter – regional organisiert war, liegt es nahe, dass neben der ‚Verwaltung‘ in Spanien auch in weiteren Staaten außerhalb Deutschlands Organisationsstrukturen bestanden. Die Vereinigungsmitglieder wurden in mehreren europäischen Staaten tätig. Schließlich wurde die Gruppierung nicht in Deutschland, sondern in Moskau gegründet. Nach alldem genügt der Umstand, dass die Strukturen und Aktivitäten der Vereinigung teilweise in die Bundesrepublik Deutschland hineinreichten, nicht, um die Vereinigung als inländische anzusehen. … Die in Deutschland agierende Gruppierung ist auch nicht als eigenständige inländische Vereinigung im Sinne einer Teilorganisation zu werten. Eine solche eigenständige Vereinigung setzt … voraus, dass die Gruppierung für sich genommen alle für eine Vereinigung notwendigen personellen, organisatorischen, zeitlichen und voluntativen Voraussetzungen erfüllt. Dazu muss sie ein ausreichendes Maß an organisatorischer Selbstständigkeit aufweisen und insbesondere einen eigenen, von der ausländischen (Haupt-)Organisation unabhängigen Willensbildungsprozess vollziehen (…). Daran fehlt es hier. Die Listen über die in die Gemeinschaftskasse eingezahlten Gelder wurden nach Spanien zu K. S. weitergeleitet. Im Konfliktfall oder bei groben Verstößen gegen die Regeln der Vereinigung schalteten sich die Gebrüder S. in ihrer Eigenschaft als ‚Anführer‘ der Vereinigung ein. Angesichts der gerade bei Fragen von besonderer Bedeutung von diesen ‚Dieben im Gesetz‘ abhängigen Willensbildung vollzog sich der Willensbildungsprozess somit nicht vollständig im Inland. Die Gruppierung war deshalb Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 112/16 Seite 12 in Deutschland nur in begrenztem, für die Annahme einer eigenständigen Vereinigung nicht ausreichendem Umfang autonom.“32 Allerdings weist das Gericht auch darauf hin, dass in dem Fall, dass sich ausreichend sichere Feststellungen zur örtlichen Einordnung der Vereinigung vor dem Hintergrund der aufgezeigten Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen nicht getroffen werden können, grundsätzlich auch eine wahlweise Verurteilung wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer inländischen oder ausländischen kriminellen oder terroristischen Vereinigung in Betracht komme.33 6. Fazit Bei den „Dieben im Gesetz“ handelt es sich um eine historisch im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion insbesondere im Bereich des Strafvollzugs gewachsene Gruppierung bzw. Erscheinungsform organisierter Kriminalität, die sich insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion auch aufgrund von Migrationsbewegungen verstärkt seit den 1990er Jahren nach Westeuropa ausgedehnt hat und hier wiederum im Bereich der organisierten Kriminalität und auch im Bereich des Strafvollzugs zunehmend in Erscheinung tritt. - Ende der Bearbeitung - 32 BGH, Beschluss vom 13.09.2011, 3 StR 262/11. 33 BGH, Beschluss vom 13.09.2011, 3 StR 262/11.