© 2018 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 106/18 Zur Wertgrenze bei Nichtzulassungsbeschwerden (§ 26 Nr. 8 EGZPO) Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Januar 2002 in Kraft getretenen Zivilprozessreform1 hängt die Möglichkeit, beim Bundesgerichtshof Revision gegen ein Urteil einzulegen, grundsätzlich davon ab, dass die vorhergehende Instanz, das Berufungsgericht, die Revision zulässt (vgl. § 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Berufungsgericht lässt die Revision in drei Fällen zu: wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, wenn die Fortbildung des Rechts sie erfordert oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Dass der Streitwert eine bestimmte Summe übersteigt , ist hingegen nicht erforderlich. Anders ist es, wenn das Berufungsgericht die Revision nicht zulässt, die unterlegene Partei aber der Auffassung ist, dass das Berufungsgericht das Vorliegen eines Revisionszulassungsgrundes fälschlicherweise verneint hat. Dann kann sie beim Bundesgerichtshof eine sog. Nichtzulassungsbeschwerde einlegen (vgl. § 544 ZPO). Dieser entscheidet dann selbst über die Zulassung der Revision (vgl. § 543 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) und setzt, wenn er einen Zulassungsgrund als gegeben erachtet , das Verfahren als Revisionsverfahren fort (vgl. § 544 Abs. 6 Satz 1 ZPO). Das gilt gemäß § 26 Nr. 8 Satz 1 EGZPO allerdings nur, wenn „der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer zwanzigtausend Euro übersteigt.“2 Ist das nicht der Fall, wird die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig abgelehnt und das Urteil wird rechtskräftig (vgl. § 26 Nr. 8 Satz 1 EG- ZPO, § 544 Abs. 5 Satz 2 ZPO). Dass der Zugang zur Revisionsinstanz (partiell) vom Streitwert abhängt, ist keine Neuerung, die mit dem Instrument der Nichtzulassungsbeschwerde im Jahre 2002 eingeführt worden wäre. Streitwertabhängige Beschränkungen gab es vielmehr schon vorher. Die entsprechenden Wertgrenzen betrugen 6.000 DM (ab 1950), 15.000 DM (ab 1964), 25.000 DM (ab 1969), 40.000 DM (ab 1975) und 60.000 DM (von 1991 bis 2002).3 Das Ziel der 2002 in Kraft getretenen ZPO-Reform war es gerade, die Streitwertabhängigkeit der Revision zu reduzieren.4 Der Gesetzgeber hatte allerdings die Befürchtung, dass ein vollständiger Verzicht auf Wertgrenzen (also auch bei Nichtzulassungsbeschwerden ) zu einer Überlastung des BGH führen könnte. Deshalb wurde beschlossen, „für eine Übergangszeit, in der die Entwicklung beobachtet werden kann, die Nichtzulassungsbeschwerde in Abhängigkeit von der Beschwer zu begrenzen […] In der Übergangszeit besteht Gelegenheit , Grundsätze zur Zulassung der Revision zu entwickeln, die sich auf die Zulassungspraxis der Berufungsgerichte auswirken werden. Es ist zu erwarten, dass hierdurch längerfristig die Zahl der Nichtzulassungsbeschwerden rückläufig sein wird. Davon wird es letztlich abhängen, 1 Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz - ZPO-RG) vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887), in Kraft getreten am 1. Januar 2002. 2 Gemäß § 26 Nr. 8 Satz 2 EGZPO gilt die Wertgrenze wiederum nicht, wenn das Berufungsgericht die Berufung bereits als unzulässig verworfen hat. 3 Vgl. BGH, Anzahl der beim BGH eingegangenen Revisionen in Zivilsachen seit 1950 (http://www.bundesgerichtshof .de/DE/Service/Statistik/Taetigkeitsberichte/Taetigkeit2017/Taetigkeit2017Anlagen/anlage 1.html?nn=6004752; letzter Zugriff: 9. Mai 2018). – Gleichwohl stieg die Zahl der eingegangenen Revisionen kontinuierlich an, nämlich von 628 im Jahre 1950 bzw. 1.256 im Jahre 1951 auf 4.595 im Jahre 2002 (vgl. BGH a.a.O.). 4 Vgl. BTDrs. 14/4722, S. 58, 59 f., 61 f., 65 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 106/18 Seite 5 ob und gegebenenfalls wann die Beschränkung für die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde eingeschränkt oder aufgehoben werden kann.“5 Die zunächst auf vier Jahre angesetzte Übergangszeit6 wurde in der Folge mehrfach verlängert7, zuletzt bis zum 30. Juni 20188, weil die Befürchtung einer Überlastung des BGH bei Wegfall der Wertgrenze weiterhin bestehe9. Zwischenzeitlich wurde im Jahre 2011 der Anwendungsbereich der Nichtzulassungsbeschwerde erweitert , indem Berufungszurückweisungsbeschlüsse nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die bis dahin unanfechtbar waren, für anfechtbar erklärt wurden.10 2. Statistisches Bis zur Einführung der Zulassungsrevision ist die Arbeitsbelastung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen mehr oder weniger kontinuierlich gestiegen. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung , die auch durch die zwischenzeitlichen Erhöhungen der Revisionssummen nicht nachhaltig gebremst werden konnte, 2002, also in dem Jahr, in dem die Zulassungsrevision eingeführt wurde. In diesem Jahr gingen insgesamt 4.595 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden beim BGH ein. 1950 waren noch 628 Revisionen eingegangen, 1951 waren es bereits 1.256. 1962 wurde erstmals die 2000er-Marke überschritten, 1987 die 3.000er-Marke, zehn Jahre später, 1997, dann die 4.000er-Marke, bis schließlich im Jahre 2002 der bisherige Höchststand von 4.595 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden erreicht wurde.11 2003, also ein Jahr nach der Einführung der Zulassungsrevision, ging die Zahl der Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden dann auf 3.888 zurück. Danach, im Zeitraum von 2004 bis 2011, schwankten die jährlichen Eingänge zwischen 3.179 und 3.633, bis im Jahr 2012 dann wieder die 4.000er-Marke überschritten wurde (4.238). Das war das Jahr, in dem der Anwendungsbereich der Nichtzulassungsbeschwerde erweitert wurde. Seitdem hat sich die jährliche Gesamtzahl der Eingänge zwischen 4.127 (2017) und 4.545 (2016) bewegt.12 5 BTDrs. 14/4722, S. 68, 126. 6 Die erste Übergangszeit endete gemäß Art. 3 Nr. 3 ZPO-RG (BGBl. I S. 1887) am 31. Dezember 2006. 7 Nämlich im Jahre 2006 (BGBl. I S. 3416), 2011 (BGBl. I S. 2082) und 2014 (BGBl. I S. 1962) und 2017 (BGBl. 2016 I S. 1962). 8 Durch Art. 4 des Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung und zur Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I S. 1962). 9 Vgl. BTDrs. 16/3038, S. 35; 18/2644, S. 5 f.; 18/10470, S. 13; 19/1686, S. 1, 5. 10 Durch das Gesetz zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung vom 21. Oktober 2011 (BGBl. I S. 2082), das am 27. Oktober 2011 in Kraft getreten ist, erhielt § 522 Abs. 3 ZPO, der diese Anfechtbarkeit statuiert, seine heutige Fassung. Vgl. dazu BTDrs. 17/5334, S. 1. 11 Vgl. BGH, Anzahl der beim BGH eingegangenen Revisionen in Zivilsachen seit 1950 (Fn. 3). 12 Vgl. BGH, Anzahl der beim BGH eingegangenen Revisionen in Zivilsachen seit 1950 (Fn. 3). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 106/18 Seite 6 Das Verhältnis von vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerde betrug im Zeitraum 2003 bis 2017 ungefähr 1:4. 80 % aller Neueingänge in Revisionsangelegenheiten waren also Nichtzulassungsbeschwerden.13 Davon führten (auf den gesamten Zeitraum bezogen) nicht einmal 10 % zur Zulassung der Revision durch den BGH.14 Nur bei 6 % der im Zeitraum zwischen 2003 und 2017 erhobenen Nichtzulassungsbeschwerden wurde die Streitwertgrenze von 20.000 Euro nicht überschritten. Die meisten Nichtzulassungsbeschwerden (70 %) hatten einen Streitwert von mehr als 40.000 Euro. Einzelheiten können der folgenden Tabelle15 entnommen werden, welche die eingegangenen Nichtzulassungsbeschwerden nach Streitwertgruppen ordnet. Jahr insgesamt bis 20.000 € über 20.000 € 20.000 € bis 40.000 € über 40.000 € 2003 3381 203 6% 3178 94% 682 20% 2496 74% 2004 2789 172 6% 2617 94% 581 21% 2036 73% 2005 2611 175 7% 2436 93% 570 22% 1866 71% 2006 2461 165 7% 2296 93% 535 22% 1761 72% 2007 2404 140 6% 2264 94% 521 22% 1743 73% 2008 2399 164 7% 2235 93% 544 23% 1691 70% 2009 2074 144 7% 1930 93% 467 23% 1463 71% 2010 2300 157 7% 2143 93% 586 25% 1557 68% 2011 2252 181 8% 2071 92% 485 22% 1586 70% 2012 2507 174 7% 2333 93% 614 24% 1719 69% 2013 3102 197 6% 2905 94% 704 23% 2201 71% 2014 3162 206 7% 2956 93% 797 25% 2159 68% 2015 3111 179 6% 2932 94% 854 27% 2078 67% 2016 3333 160 5% 3173 95% 900 27% 2273 68% 2017 3724 210 6% 3514 94% 1.130 30% 2384 64% Summe 41610 2627 6% 38983 94% 9.970 23% 29013 70% Nichtzulassungsbeschwerden nach Streitwertgruppen 13 BGH, Verhältnis der vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen zu den Nichtzulassungsbeschwerden, Spalte 6 (n.v.). Auf die einzelnen Jahre bezogen schwankte der Anteil zwischen 74 % (z.B. 2009) und 85 % (2016 und 2017). 14 Vgl. BGH, Zulassungsquote der Nichtzulassungsbeschwerden seit 2003, in: Limperg, Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung – anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 14. Mai 2018 (http://www.bundestag .de/blob/554640/28e21aefce37aa188a8f0a8cd3983624/limperg-data.pdf; letzter Zugriff: 11. Mai 2018). – Auf die einzelnen Jahre bezogen schwankte die Zulassungsquote zwischen 5 % (z.B. 2017) und 13 % (z.B. 2007). 15 Vom BGH per E-Mail vom 8. Mai 2018 übermittelt. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 106/18 Seite 7 Bei den zwischen 2003 und 2017 zugelassenen Revisionen hatten hingegen nur 28 % einen Streitwert von mehr als 20.000 Euro. Bei 38 % lag der Streitwert sogar unterhalb von 5000 Euro.16 3. Situation in anderen Staaten Nach einer auf der Homepage des französischen Cour de Cassation abrufbaren Übersicht17 aus dem Jahre 2014, welche Deutschland, Österreich, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Spanien, Finnland , Italien, Lettland, die Niederlande, Polen, Tschechien und Großbritannien umfasst, kann lediglich in Deutschland, Österreich, Polen und Spanien der Streitwert für den Zugang zum höchsten Zivilgericht relevant werden. In Österreich gibt es laut dieser Übersicht eine allgemeine Streitwertgrenze für Revisionen in Höhe von 5.000 Euro und für sog. außerordentliche Revisionen , in denen das Berufungsgericht der Revision nicht zugestimmt hat, von 30.000 Euro. In Polen liegt die Streitwertgrenze bei 12.500 Euro, in Handels- und Wirtschaftssache bei 19.000 Euro. In Spanien eröffnet ein Streitwert von mehr als 150.000 Euro die Revision; es gibt daneben aber auch eine streitwertunabhängige Revision. *** 16 Vgl. BGH, Revisionen nach Streitwertgruppen, in: Limperg (Fn. 14). 17 La sélection des recours par les Cours suprêmes européennes, Mécanisme de sélection, degré de motivation des décisions d’irrecevabilité et jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’Homme, 2014 (https://www.courdecassation.fr/IMG/48_SDER_s%C3%A9lection_recours_Europe_1114.pdf; letzter Zugriff: 11. Mai 2018).