WD 7 - 3000 - 102/20 (01.10.2020) © 2020 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Nach § 170 Abs. 1 Satz 1 StPO erhebt die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht, sofern die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage bieten. Hierfür ist erforderlich, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO besteht, also - nach vorläufiger Bewertung des sich aus dem gesamten Akteninhalt ergebenen Sachverhalts und der Beweisergebnisse - eine Verurteilung des Beschuldigten wahrscheinlicher ist als ein Freispruch (Gorf, Rn. 1, 2). Fehlt es daran, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO ein. Wissenschaftliche Debatten zu der Frage, inwieweit deutsche Staatsanwaltschaften missbräuchlich von der Einstellungsmöglichkeit nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO Gebrauch machen, waren nicht zu recherchieren. Es ist aber in diesem Kontext festzuhalten, dass sogenannte Klageerzwingungsverfahren, die es dem Verletzten ermöglichen, die Staatsanwaltschaft trotz ihres Anklagemonopols (§ 152 Abs. 1 StPO) in einem gerichtlichen Verfahren zur Anklageerhebung zu zwingen (vgl. § 175 StPO; Moldenhauer , Rn. 1), eine geringe Erfolgsquote aufweisen. Wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO eingestellt hat, kann sich der durch die Straftat Verletzte unter bestimmten Voraussetzungen nach § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO bei dem vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft förmlich beschweren (Moldenhauer, Rn. 2). Wenn diese sogenannte Vorschaltbeschwerde (Moldenhauer, Rn. 4) keinen Erfolg hat, kann ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO statthaft sein. In den Jahren 2005 bis 2019 wurden jährlich zwischen 2.391 und 3.324 Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 StPO gestellt , wobei in diesen Angaben auch Prozesskostenhilfeanträge enthalten sind (Destatis, Tabellenteil 6.1). Die Erfolgsquote solcher Klageerzwingungsanträge soll nach Angaben in der Kommentarliteratur bei unter 1 Prozent liegen (Fischer, Rn. 162). Als Beleg für die geringen Erfolgsaussichten wird mitunter auf Untersuchungen in einzelnen Bundesländern verwiesen (Moldenhauer , Rn. 1; vgl. auch in Bezug auf Niedersachsen für die Jahre 1998 und 1999: Meyer-Krapp, S. 101, 103 und in Bezug auf Berlin für die Jahre 2010 bis 2014: Berliner Senat). In erwähnenswerten Fallanteilen erfolgreich sollen die Verfahren lediglich in der Beschwerdestufe sein (Kölbel, Rn. 9). Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Einzelfragen zur Anwendungspraxis des § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO Kurzinformation Einzelfragen zur Anwendungspraxis des § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Beispielhaft für einen erfolgreichen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO kann ein Beschluss des OLG Brandenburg aus dem Jahr 2018 angeführt werden, in welchem dieses wegen Fehlens jeglicher bzw. völlig unzureichender Ermittlungen nicht die Erhebung einer öffentlichen Klage, wohl aber die Aufnahme sachdienlicher Ermittlungen anordnete (OLG Brandenburg, Rn. 5, 6). Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, obwohl zureichende tatsächliche Anhaltspunkte i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO dafür vorlagen, dass die angezeigten Polizeibeamten im Rahmen einer möglicherweise unrechtmäßigen Identitätsfeststellung bzw. Ingewahrsamnahme Straftatbestände nach §§ 239, 240 und/oder 340 StGB verwirklicht haben könnten (OLG Brandenburg, insb. Rn. 1, 10 ff.). Zu einem Fall, in dem nachweislich im Zuge der Einstellung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO vorsätzliche Straftaten begangen wurden, kann ein in der Revisionsinstanz ergangener Beschluss des BGH aus dem Jahr 2017 angeführt werden (BGH, Rn. 1, 2). Der angeklagte Staatsanwalt hatte es unterlassen, gegen verschiedene Beschuldigte Anklage zu erheben, obwohl er wusste, dass die Beschuldigten bei Erhebung der öffentlichen Klage bestraft werden würden und war in der Vorinstanz wegen Rechtsbeugung nach § 339 StGB in Tateinheit mit Strafvereitelung im Amt gemäß §§ 258, 258a StGB verurteilt worden (BGH, Rn. 1, 2). Um einer Berichtspflicht nicht nachkommen zu müssen, hatte der Angeklagte Verfahren entgegen der von ihm zutreffend gewürdigten Sach- und Rechtslage unter anderem nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, ohne die Beschuldigten oder die Polizei zu benachrichtigen oder Anzeigenerstatter zu bescheiden (BGH, Rn. 5, 8, 11, 12). In einem Fall stellte er die Sache mit bewusst unzutreffender Begründung nach § 170 Abs. 2 StPO ein, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits anklagereif war (BGH, Rn. 12). Der BGH entschied , dass der Schuldspruch wegen Rechtsbeugung nicht getragen wird, soweit der Verfahrensabschluss lediglich verzögert wurde (BGH, Rn. 16). In den Fällen, in denen der Angeklagte es unterließ , durch eine rechtzeitige Anklageerhebung oder die Stellung eines Strafbefehlsantrags den Eintritt einer Verfolgungsverjährung zu verhindern, halte eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung der Überprüfung stand (BGH, Rn. 16). Quellen: – Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 10. Juli 2020 (BGBl. I S. 1648) geändert worden ist. – Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 10. Juli 2020 (BGBl. I S. 1648) geändert worden ist. – BGH: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.09.2017, Az. 4 StR 274/16, BeckRS 2017, 127543. – OLG Brandenburg: Oberlandesgericht Brandenburg, Beschluss vom 18.10.2018, Az. 1 Ws 109/18, BeckRS 2018, 32198. – Berliner Senat: Antwort des Berliner Senats auf eine Schriftliche Anfrage, Abgeordnetenhaus Berlin-Drucksache 17/16725. – Fischer: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, Einleitung. – Gorf: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar StPO mit RiStBV und MiStra, 37. Edition, Stand: 01.07.2020, Kommentierung zu § 170 StPO. – Kölbel: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Band 2, 1. Auflage 2016, Kommentierung zu § 172 StPO. – Meyer-Krapp: Das Klageerzwingungsverfahren, Dissertation 2008. – Moldenhauer: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, Kommentierung zu § 172 StPO. – Destatis: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafgerichte, 2019, Fachserie 10, Reihe 2.3, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Service/Bibliothek/_publikationen-fachserienliste-10.html?nn=206136, letzter Abruf: 30. September 2020.