© 2020 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 101/20 Fluggastrechte in der Insolvenz Einzelfragen zum Gläubigerstatus von Fluggästen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 2 Fluggastrechte in der Insolvenz Einzelfragen zum Gläubigerstatus von Fluggästen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 101/20 Abschluss der Arbeit: 28. September 2020 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Der fluggastrechtliche Erstattungsanspruch 4 2.1. Anspruchsinhalt 4 2.2. Rechtsnatur 7 3. Rangfolge der Gläubiger in der Insolvenz 10 3.1. Insolvenzforderungen 10 3.2. Masseforderungen 11 3.3. Besonderheiten des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) 12 4. Schlussfolgerungen für in der Insolvenz entstehende Fluggastrechte 13 5. Fazit 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 4 1. Einleitung Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens stellt für Fluggesellschaften eine Zäsur im Geschäftsbetrieb dar. Ungeachtet eigentlicher Unternehmensziele dient das Insolvenzverfahren nach deutschem Recht primär dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen.1 Hiermit geht eine in der Insolvenzordnung (InsO) festgelegte Rangfolge von Gläubigeransprüchen einher, die erheblichen Einfluss auf deren Befriedigung nehmen kann. Auch Fluggäste können zu Gläubigern von Fluglinien werden, maßgeblich über vertragliche Beförderungsansprüche durch rechtsverbindliche Buchung eines Fluges, aber auch durch das Erlangen von Fluggastrechten gemäß der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 („Fluggastrechte-VO“).2 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche insolvenzrechtliche Stellung Inhabern von Fluggastrechten zukommt, die diese erst während des laufenden Insolvenzverfahrens erwerben . Hierbei liegt der Fokus auf dem Erstattungsanspruch aus Art. 8 Fluggastrechte-VO.3 Es wird darauf hingewiesen, dass die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages nach ihren Verfahrensgrundsätzen keine Rechtsauskünfte im Einzelfall erteilen. Die rechtlichen Aussagen dieses Gutachtens sind demgemäß abstrakt und können nicht pauschal auf tatsächliche Geschehnisse übertragen werden. Die Fragestellung erfordert eine tiefergehende Darstellung verschiedener Rechtsmaterien: Zunächst sollen die Grundlagen des fluggastrechtlichen Erstattungsanspruchs erläutert werden mit dem Schwerpunkt der Einordnung in die klassische Struktur des deutschen Schuldrechts (2.). Anschließend wird – unter Berücksichtigung der Besonderheiten der insolvenzrechtlichen Eigenverwaltung – ein Überblick über die Unterscheidung von Insolvenz- und Masseforderungen im Rahmen der Insolvenz von Fluggesellschaften gewährt (3.). Auf Basis der vorherigen Ausführungen lassen sich schließlich Schlussfolgerungen in Bezug auf die zugrundeliegende Problemstellung ziehen (4.). 2. Der fluggastrechtliche Erstattungsanspruch 2.1. Anspruchsinhalt Seit 2005 sind in der Europäischen Union (EU) über die Fluggastrechte-VO Mindestrechte für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung gegen ihren Willen, Flugannullierung und -verspätung 1 § 1 Satz 1 Insolvenzordnung (InsO) vom 5. Oktober 1994 (BGBl. 1994 I S. 2866), zuletzt geändert durch Art. 24 Abs. 3 Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz vom 23. Juni 2017 (BGBl. 2017 I S. 1693), abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/inso/ (letzter Abruf dieser und aller weiteren Internetquellen: 28. September 2020). 2 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004 L 46 S. 1, berichtigt ABl. 2019 L 119 S. 202), abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/eli/reg/2004/261/oj/deu. 3 Art. 8 Abs. 1 Buchstabe a) Spiegelstrich 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a) Fluggastrechte-VO. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 5 niedergelegt.4 Als Verordnung im Sinne des europäischen Rechts hat sie – im Gegensatz etwa zur Richtlinie – allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat.5 Im Falle der Annullierung eines Fluges gewährt die Fluggastrechte-VO in ihrem Anwendungsbereich unter anderem nach Wahl des Fluggastes den Anspruch auf vollständige Erstattung des Ticketpreises binnen sieben Tagen.6 Auf ein etwaiges Verschulden seitens der Fluggesellschaft kommt es nicht an.7 Die Verordnung definiert den Begriff der „Annullierung“ allgemein mit der „[…] Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“.8 Mangels inhaltlicher Einschränkungen können Annullierungen im Sinne der Fluggastrechte-VO verschiedenste Gründe haben, wie Wetterbedingungen oder der Gesundheitsschutz der Besatzung während der Covid-19-Pandemie.9 Unter Umständen kann jedoch auch die vollständige Einstellung des Flugbetriebes, etwa im Zuge der Insolvenz, Flugannullierungen und somit Erstattungsansprüche gemäß Art. 8 Fluggastrechte-VO auslösen. Denn zur Erstattung des Flugticket- 4 Art. 1 Abs. 1 Fluggastrechte-VO. Die Verordnung ist am 17. Februar 2005 in Kraft getreten, Art. 19 Abs. 1 Fluggastrechte -VO. 5 Art. 288 Abs. 2, 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 2008 (ABl. 2008 C 115 S. 47), zuletzt geändert durch Art. 2 Änderungsbeschluss 2012/419/EU vom 11. Juli 2012 (ABl. 2012 L 204 S. 131), abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A12012E%2FTXT. Die Norm ist wortgleich mit dem zur Zeit des Erlasses der Fluggastrechte-VO geltenden Art. 249 Abs. 2, 3 EG- Vertrag. 6 Art. 8 Abs. 1 Buchstabe a) Spiegelstrich 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a) Fluggastrechte-VO. Neben der Erstattung kann der Fluggast etwa auch eine anderweitige Beförderung in zwei verschiedenen Alternativen wählen (Art. 8 Abs. 1 Buchstaben b), c) Fluggastrechte-VO). 7 Siehe auch Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO, der nur den zum Erstattungsanspruch eventuell danebentretenden Ausgleichsanspruch aus Art. 7 Fluggastrechte-VO verwehrt, falls die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. 8 Art. 2 Buchstabe l) Fluggastrechte-VO. 9 Vergleiche allgemein zu Annullierungen und speziell zu solchen während der Covid-19-Pandemie: EU-Kommission, Auslegungsleitlinien zu den EU-Verordnungen über Passagierrechte vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Situation im Zusammenhang mit Covid-19 vom 18. März 2020 (ABl. 2020 C 89 I S. 1), S. 3 f., abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52020XC0318%2804%29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 6 preises im Fall der Insolvenz einer Fluggesellschaft enthält die Fluggastrechte-VO keine Sonderregelungen .10 Anders als etwa für Pauschalreisen kennt das deutsche Recht auch keine Insolvenzsicherung für vorbezahlte Flugreisen.11 Die Erstattung hat durch Barzahlung, durch elektronische /gewöhnliche Überweisung oder durch Scheck zu erfolgen.12 Reisegutscheine und/oder andere Dienstleistungen anstatt einer Rückzahlung genügen in solchen Fällen nur mit schriftlichem Einverständnis des Fluggastes als hinreichende Erstattung.13 Durch den Erstattungsanspruch verpflichtet ist laut der Fluggastrechte-VO das „ausführende Luftfahrtunternehmen“.14 Dies wird in der Verordnung weiter definiert als „[…] Luftfahrtunternehmen , das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“.15 Somit knüpft eine Erstattungs- 10 Vergleiche bereits Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), Christian Lange, vom 14. Mai 2020 auf die schriftliche Frage des Mitglieds des Deutschen Bundestages, Sebastian Münzenmaier, BT-Drs. 19/19240, S. 61 f., abrufbar unter: https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/192/1919240.pdf. Vergleiche auch Mitteilung der (EU-)Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Schutz der Fluggäste bei Insolvenz des Luftfahrtunternehmens vom 18. März 2013, COM (2013) 129 final, S. 8: „Fluggastrechte […] sind unabhängig von der Finanzlage des Luftfahrtunternehmens“, abrufbar unter: https://op.europa.eu/de/publication-detail/- /publication/b873099d-6157-44b6-9d1d-2f734313438c/language-de/format-PDF/source-155840012. 11 Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 16. Februar 2016 – X ZR 98/14 –, Randnummern 28 ff. (zitiert nach juris), der dies in Gegenüberstellung zur damaligen Insolvenzsicherung im Pauschalreiserecht (§ 651k Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) alte Fassung) unter Berufung auf unionsrechtliche Zulassungs- und Aufsichtsbestimmungen für Fluggesellschaften für gerechtfertigt hielt. Vergleiche für die Insolvenzsicherung im Pauschalreiserecht nunmehr § 651r des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. 2002 I S. 42, berichtigt S. 2909 und 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz über die Verteilung der Maklerkosten bei der Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser vom 12. Juni 2020 (BGBl. 2020 I S. 1245), abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/. 12 Art. 8 Abs. 1 Buchstabe a) Spiegelstrich 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 Fluggastrechte-VO. 13 Ebenda. Zwar hatte die Bundesregierung Anfang April 2020 beschlossen, die EU-Kommission um eine Initiative zur Änderung der Fluggastrechte-VO zu bitten, die die Gutscheinausgabe gleichwertig neben die Flugpreiserstattung gestellt hätte (Presseerklärung der Bundesregierung vom 2. April 2020, abrufbar unter: https://www.bundesregierung .de/breg-de/aktuelles/im-sogenannten-corona-kabinett-der-bundesregierung-wurde-heute-folgender-beschluss -fuer-eine-gutscheinloesung-bei-pauschalreisen-flugtickets-und-freizeitveranstaltungen-gefasst-- 1738744). Die EU-Kommission ist dem Vorschlag unter Hinweis auf Verbraucherschutzgesichtspunkte jedoch nicht gefolgt („Fluggastrechte in der Corona-Krise – EU gegen Zwangsgutscheine“, Artikel von „taggeschau.de“ vom 4. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/fluggastrechte-gutscheine-streit-101.html). 14 Art. 8 Abs. 1 Buchstabe a) Spiegelstrich 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a) Fluggastrechte-VO. 15 Art. 2 Buchstabe b) Fluggastrechte-VO. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 7 pflicht nicht notwendig an die Vertragspartnerschaft, sondern alleine daran an, welche Fluggesellschaft für die Durchführung des Fluges verantwortlich ist.16 Durch die rechtsverbindliche Buchung eines Platzes auf einem Linienflug kommt in aller Regel ein sogenannter „Luftbeförderungsvertrag “ zwischen dem Fluggast und der Fluggesellschaft zustande, die den Platz anbietet.17 Wie bereits aus der gesetzlichen Definition ersichtlich, kann es je nach Gestaltung im Einzelfall jedoch vorkommen, dass sich der Vertragspartner des Fluggastes dritter Luftfahrtunternehmen im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung bedient, um den durch den Luftbeförderungsvertrag erworbenen Beförderungsanspruch des Fluggastes zu erfüllen.18 2.2. Rechtsnatur Die Einordnung des Erstattungsanspruchs aus der Fluggastrechte-VO in die Anspruchssystematik des deutschen Schuldrechts ist weitgehend ungeklärt. Das deutsche Schuldrecht ist im zweiten Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geregelt.19 Das System des BGB wird allgemein als Ausdruck eines geschlossenen wissenschaftlichen Rechtssystems beschrieben.20 Individuelle Ansprüche, als das Recht von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen,21 können aus verschiedenen Rechtsgründen entstehen, im Schuldrecht aufgrund von Schuldverhältnissen.22 Schuldverhältnisse können ihrerseits auf verschiedenen Rechtsgründen basieren:23 Zum einen durch den Abschluss eines Rechtsgeschäfts, zumeist die Eingehung von Verpflichtungen im Rahmen eines Vertrages (vertragliches Schuldverhältnis ). Zum anderen können Schuldverhältnisse und somit Leistungspflichten entstehen, 16 Dies kann etwa im Bereich des „Codesharing“ relevant werden, bei dem mehrere Fluggesellschaften gemeinsam einen Flug unter verschiedenen Flugnummern einsetzen (zu diesem und weiteren Praxisbeispielen Hopperdietzel , in: Beck’scher Onlinekommentar zur Fluggastrechte-Verordnung, Stand: 1. Juli 2020, Art. 2 Fluggastrechte- VO, Randnummern 9 ff.). 17 Ausführlich zum Luftbeförderungsvertrag Führich, in: Führich/Staudinger, Reiserecht, 8. Auflage 2019, § 35. 18 So etwa für das Codesharing BGH, Urteil vom 26. November 2009 – Xa ZR 132/08 –, Randnummer 13 (zitiert nach juris). 19 §§ 241 – 853 BGB. 20 Säcker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, Band 1, Einleitung, Randnummer 25. 21 § 194 Abs. 1 BGB. 22 Ein Schuldverhältnis ist eine Sonderverbindung zwischen (mindestens) zwei Personen, kraft deren die eine, der Gläubiger, von der anderen, dem Schuldner, eine Leistung fordern kann (Grüneberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 78. Auflage 2019, Einleitung vor § 241 BGB, Randnummer 3). Es wirkt somit – im Gegensatz zu absoluten Rechten wie dem Eigentum, die allseits zu respektieren sind – lediglich relativ zwischen den Beteiligten (ebenda, Randnummer 5). 23 Vergleiche zum Folgenden ausführlich Martens, in: Erman, BGB, 16. Auflage 2020, Einleitung vor § 241 BGB, Randnummern 12 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 8 weil dies Gesetzesnormen bei Erfüllung bestimmter Merkmale zwingend anordnen – unabhängig vom Willen von Gläubiger oder Schuldner (gesetzliches Schuldverhältnis).24 Wie in anderen EU-Mitgliedsstaaten weist auch die deutsche Rechtsordnung im Zuge der europäischen Rechtsintegration eine zunehmende europarechtliche Überformung auf – insbesondere im Schuldrecht.25 Dies geschieht beispielsweise über EU-Richtlinien oder -Verordnungen.26 Hierbei sehen viele Literaturstimmen Spannungsfelder der herkömmlichen Systematik und Zielen des deutschen und europäischen Rechts.27 Soweit man dem folgt, treten die beschriebenen Verwerfungen bei EU-Verordnungen wie der Fluggastrechte-VO besonders deutlich zutage. Denn anders als bei EU-Richtlinien hat dort der nationale Gesetzgeber aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit von Verordnungen in allen Mitgliedsstaaten keine Möglichkeit der Abstimmung der europarechtlichen Vorgaben mit bestehenden nationalen Regelungen. Im Hinblick auf die systematische Einordnung des europarechtlichen Erstattungsanspruchs in das deutsche Recht wird allgemein nicht in Frage gestellt, dass es sich ebenfalls um ein Schuldverhältnis handelt. Denn hierdurch wird eine relativ wirkende Sonderverbindung zwischen dem Fluggast als Gläubiger und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen als Schuldner begründet.28 Probleme bereitet jedoch die weitere Differenzierung als ein vertragliches oder gesetzliches Schuldverhältnis. Dieser Unterscheidung kann jedoch in Bezug auf die insolvenzrechtliche Behandlung entscheidende Bedeutung zukommen. Hierauf wird im späteren Verlauf noch zurückzukommen sein. Vordergründig dürfte der Anspruch mit einem gesetzlichen Schuldverhältnis vergleichbar sein. Denn er knüpft allein an das Vorliegen gesetzlicher Voraussetzungen an, ohne dass es auf eine Vertragsbeziehung ankäme (siehe bereits unter 2.1.). Auf der anderen Seite haben die Ansprüche jedoch auch einen vertraglichen Bezug: Soweit Anspruchsinhaber und Anspruchsgegner von fluggastrechtlichen Ansprüchen nicht ohnehin bereits Vertragspartner sind, sind ansonsten Flug- 24 Beispiele sind etwa der Verstoß gegen gesetzlich begründete Verhaltenspflichten (insbesondere unerlaubte Handlungen gemäß §§ 823 ff. BGB). 25 Säcker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, Band 1, Einleitung, Randnummer 228 mit Nachweisen zu vertiefender Literatur. 26 Siehe bereits Fußnote 5. 27 Siehe etwa Säcker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, Band 1, Einleitung, Randnummer 228 mit weiteren Nachweisen; Mittwoch, Die Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa – auf dem Weg zu einem Europäischen Zivilgesetzbuch?, Juristische Schulung (JuS) 2010, S. 767, 768. 28 Vergleiche allgemeine Definition des Schuldverhältnisses in Fußnote 22. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 9 gast und ausführendes Luftfahrtunternehmen in aller Regel über eine „ununterbrochene Vertragskette “ miteinander verbunden.29 Denn in aller Regel bestehen jedenfalls Vertragsbeziehungen zwischen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und dem Vertragspartner des Fluggastes .30 Auch Rechtsprechung und Literatur vertreten zur Rechtsnatur des Rückerstattungsanspruchs unterschiedliche Ansichten. Der Bundesgerichtshof (BGH) führte im Jahr 2015 zu einem weiteren Anspruch der Fluggastrechte-VO (Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7) aus: „Der Senat versteht den Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 Fluggastrechte-VO als einen gesetzlichen Anspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf vertraglicher Grundlage. Der Anspruch folgt zwar nicht unmittelbar aus dem mit einem Luftfahrtunternehmen abgeschlossenen Beförderungsvertrag, setzt aber voraus, dass der Anspruchsteller über eine bestätigte Buchung verfügt, was wiederum regelmäßig vom Bestehen eines Beförderungsvertrages abhängig ist.“31 Soweit ersichtlich, hat sich der BGH zur Rechtsnatur des Erstattungsanspruchs bisher noch nicht geäußert. Da der Ausgleichsanspruch in gleicher Weise den Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen berechtigt,32 erscheint es zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen , dass die Einordnung auch auf den Erstattungsanspruch übertragbar ist. In der Literatur werden die Ansprüche aus Art. 8 Fluggastrechte-VO teilweise als gesetzliche Ansprüche ,33 teilweise als Ansprüche eigener Art („sui generis“) bezeichnet.34 Nach letzterer Auffassung wiesen sie zwar selbst keinen Erfüllungs- oder Gewährleistungscharakter auf, flankierten und beeinflussten aber die gegenseitigen rechtsgeschäftlichen Pflichten des zugrundeliegenden 29 Steinrötter, in: Beck-Online Grosskommentar zum BGB, Stand: 2018, Art. 2 Fluggastrechte-VO, Randnummern 13 f. 30 Ebenda. 31 BGH, EuGH-Vorlage vom 18. August 2015 – X ZR 2/15 –, Randnummer 9 (zitiert nach juris) [Hervorhebungen diesseits]. 32 Art. 7 in Verbindung mit Art. 5 Buchstabe c) Fluggastrechte-VO. 33 Führich, in: Führich/Staudinger, Reiserecht, 8. Auflage 2019, § 42, Randnummer 21; Maruhn, in: Beck’scher Onlinekommentar zur Fluggastrechte-Verordnung, Stand: 1. Juli 2020, Art. 1 Fluggastrechte-VO, Randnummer 6. 34 Steinrötter, in: Beck-Online Grosskommentar zum BGB, Stand: 2018, Art. 8 Fluggastrechte-VO, Randnummer 61. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 10 Vertrages.35 Nach wiederum anderer Ansicht seien die Ansprüche eher vertraglicher Natur, denn sie konkretisierten und erweiterten unter anderem die Pflichten aus dem Beförderungsvertrag.36 3. Rangfolge der Gläubiger in der Insolvenz Soweit Schuldverhältnisse betroffen sind, ist bei den Regelungen zur Gläubigerrangfolge in der InsO vor allem die Unterscheidung zwischen Insolvenz- und Masseforderungen zentral. 3.1. Insolvenzforderungen Insolvenzforderungen, deren Inhabende Insolvenzgläubiger sind, sind die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen den Insolvenzschuldner begründeten Vermögensansprüche.37 Ein Vermögensanspruch muss nicht unbedingt auf eine Geldzahlung, sondern kann nach allgemeiner Meinung auch auf die Durchführung einer vertretbaren Handlung durch den Vertragspartner gerichtet sein.38 Eine vertretbare Handlung ist eine Handlung, deren Vornahme nicht zwingend durch den Vertragspartner, sondern auch durch Dritte erfolgen kann.39 Hierunter dürfte auch der Beförderungsanspruch im Rahmen einer Flugreise fallen, der auch beispielsweise von einer dritten Fluglinie erfüllt werden kann (z. B. beim Codesharing).40 Gleiches gilt im Übrigen auch für den vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Erstattungsanspruch gemäß Art. 8 Fluggastrechte -VO.41 Vermögensansprüche können unter anderem aus vertraglichen als auch aus gesetzlichen Schuldverhältnissen folgen.42 Für die Beantwortung der Frage, ab wann ein Vermögensanspruch „begründet “ ist, ist dem BGH zufolge entscheidend, ob der anspruchsbegründende Tatbestand schon vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen ist, mag sich eine Forderung des Gläubigers daraus auch erst nach Beginn des Insolvenzverfahrens ergeben, etwa aufgrund späterer Fälligkeit.43 35 Ebenda. 36 Staudinger/Schmidt-Bendun, Neuregelung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2004, S. 1897, 1899. 37 § 38 InsO. 38 Knof, in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Auflage 2019, Band 1, § 45 InsO, Randnummer 7 mit weiteren Nachweisen. 39 § 887 Abs. 1 ZPO. 40 Siehe bereits Fußnote 18. 41 Siehe auch Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im BMJV vom 14. Mai 2020 (Fußnote 10). 42 Vergleiche statt vieler Leithaus, in: Andres/Leithaus, Insolvenzordnung, 4. Auflage 2018, Randnummer 2. 43 BGH, Beschluss vom 22. September 2011 – IX ZB 121/11 –, Randnummer 3 (zitiert nach juris) mit weiteren Nachweisen zur vorgehenden Rechtsprechung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 11 Soweit der Anspruch hiernach begründet ist, ist er ohne weiteres nur eine Insolvenzforderung, soweit der Gläubiger seine Verpflichtung bereits vollständig erfüllt hat – vorliegend die geforderte Zahlung für die Flugbuchung zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits vollständig geleistet hat. Bei Luftbeförderungsverträgen ist aufgrund vorformulierter Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) von Fluggesellschaften regelmäßig die Vorauszahlung des Flugpreises durch die Reisenden vereinbart.44 Falls zum maßgeblichen Zeitpunkt noch keine Zahlung durch den Fluggast geleistet sein sollte, ist das Schicksal der Forderung davon abhängig, ob der Insolvenzverwalter sich für die Vertragserfüllung seitens des Schuldners entscheidet. Tut er dies, wird die Insolvenzforderung zur sonstigen Masseforderung aufgewertet (hierzu sogleich), tut er dies nicht, verbleibt sie Insolvenzforderung.45 Insolvenzforderungen sind aus der Insolvenzmasse zu befriedigen.46 Das ist das gesamte Vermögen , das dem Insolvenzschuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt.47 Aufgrund der prekären Vermögenslage eines insolventen Insolvenzschuldners übersteigt die Summe der Insolvenzforderungen die verfügbare Insolvenzmasse regelmäßig, womit bereits mathematisch eine vollständige Befriedigung aller Insolvenzgläubiger ausgeschlossen wäre. Deswegen sieht die InsO in Verfolgung ihres grundsätzlichen Ziels einer gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung ein spezielles Verfahren vor, bei dem Insolvenzforderungen zu einer Insolvenztabelle anzumelden sind und im Anschluss je nach Masseumfang anteilig befriedigt werden.48 3.2. Masseforderungen Von Insolvenzforderungen sind Masseforderungen zu unterscheiden, in der InsO aus Schuldnerperspektive „Masseverbindlichkeiten“ genannt.49 Diese lassen sich unterteilen in Kosten des Insolvenzverfahrens und sonstige Masseforderungen.50 Gemein ist beiden Forderungsarten, dass diese grundsätzlich erst nach Insolvenzeröffnung entstehen können.51 Praxisrelevant für vertragliche und gesetzliche Schuldverhältnisse sind hierbei vor allem die sonstigen Masseforderungen 44 Vergleiche BGH (Fußnote 11), der diese Praxis für im Ergebnis rechtlich unbedenklich hält. 45 § 103 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 1 InsO. 46 § 38 InsO. 47 § 35 Abs. 1 InsO. 48 Vergleiche näher §§ 174 ff. InsO. Ansprüche auf vertretbare Handlungen, wie der Anspruch auf Beförderung im Rahmen einer Flugreise, können mit dem Betrag zur Insolvenztabelle angemeldet werden, den die Ersatzvornahme der vertretbaren Handlung durch einen Dritten kostet – vorliegend die Kosten der Beförderung zum vereinbarten Ziel durch Dritte (Allgemein Erdmann, in: Beck’scher Online-Kommentar Insolvenzordnung, 20. Edition, Stand: 15. Juli 2020, § 45 InsO, Randnummer 11). 49 Siehe etwa § 55 InsO. 50 § 53 InsO. 51 Bornemann, in: Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, 9. Auflage 2018, § 53 InsO, Randnummer 2. Siehe zu Ausnahmen im Rahmen der Eigenverwaltung noch unter 3.3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 12 gemäß § 55 InsO (im Folgenden: „Masseforderungen“). Dies sind gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO unter anderem Gläubigerforderungen, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören. Denn durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens verliert der Schuldner grundsätzlich die Befugnis, über die Insolvenzmasse zu verfügen. Dies steht ab jetzt dem durch das jeweils zuständige Insolvenzgericht bei Verfahrenseröffnung eingesetzten Insolvenzverwalter zu.52 Eine sonstige Masseforderung kann ihren Rechtsgrund in jedem rechtlich denkbaren Begründungsvorgang haben, auf vertraglicher oder gesetzlicher Grundlage beruhen, gar eine öffentlichrechtliche Steuerforderung sein.53 Erforderlich ist nach der Rechtsprechung im Übrigen stets ein hinreichender Bezug der Forderung zur Insolvenzmasse.54 Masseforderungen werden zwar wie Insolvenzforderungen aus der Insolvenzmasse befriedigt, sind hierbei jedoch vorrangig und im vollen Umfang zu erfüllen.55 Falls die Insolvenzmasse hierzu nicht ausreichen sollte, findet ein Masseunzulänglichkeitsverfahren statt, das ebenfalls für anteilige Befriedigung sorgt.56 3.3. Besonderheiten des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) Das Verfahren in Eigenverwaltung stellt ein besonderes Insolvenzverfahren dar. Zwar gelten im Grunde die Ausführungen zur Gläubigerrangfolge auch hier.57 Gleichwohl ist ein zentraler Unterschied zu berücksichtigen: Im Vergleich zum regulären Insolvenzverfahren, bei dem der Schuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis ab Eröffnung an den Insolvenzverwalter verliert, behält er diese in Eigenverwaltung unter der Aufsicht eines Sachwalters weiter.58 Nach der Begründung des der Norm zugrundeliegenden Gesetzentwurfes kann die Fortführung des Geschäftsbetriebs von Vorteil sein, etwa wenn gute Sanierungsperspektiven bestehen.59 Dies bedeutet in der Praxis, dass wichtige Befugnisse eines Insolvenzverwalters im regulären Insolvenzverfahren weiter beim Schuldner verbleiben. Dementsprechend ist es auch der Schuldner 52 § 80 Abs. 1 InsO. 53 Keller, Insolvenzrecht, 2. Auflage 2020, Randnummer 353. 54 BGH, Urteil vom 12. Januar 2017 – IX ZR 87/16 –, Randnummer 19 (zitiert nach juris) mit Nachweisen zur entsprechenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des Bundesfinanzhofs (BFH). 55 § 53 InsO. 56 §§ 207 ff. InsO. 57 Siehe § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO, wonach für das Verfahren die allgemeinen Vorschriften gelten, soweit in §§ 270 ff. InsO nichts anderes bestimmt ist. 58 § 270 Abs. 1 Satz 1 InsO in Abänderung von § 80 Abs. 1 InsO (siehe bereits Fußnote 52). 59 Vergleiche Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf einer Insolvenzordnung (InsO) vom 15. April 1992, BT-Drs. 12/2443, S. 222 f., abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/024/1202443.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 13 selbst, der im Insolvenzverfahren ohne weiteres sonstige Masseforderungen begründen kann, die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören.60 Soweit der Schuldner keine Einzelperson ist, sondern wie Fluglinien allgemein als rechtsfähige Gesellschaft handelt, sind nur schwerlich rechtserhebliche Handlungen durch die gesellschaftlichen Organe denkbar, die nicht zum Geschäftsbetrieb gehören. Dementsprechend ist dort in aller Regel von der Begründung von Masseverbindlichkeiten im Insolvenzverfahren auszugehen.61 Gleichzeitig kann der Schuldner auch bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens unter Umständen Masse- statt Insolvenzforderungen begründen, die auch im Insolvenzverfahren ihre Klassifizierung beibehalten: Im Rahmen des Schutzschirmverfahrens, einer besonderen Form der gerichtlich angeordneten vorläufigen Insolvenzverwaltung zwischen Eröffnungsantrag und Eröffnungsentscheidung , geschieht dies auf Antrag des Schuldners.62 Hierdurch könnte etwa eine Fluggesellschaft versuchen, ihren Kundinnen und Kunden durch entsprechende Mitteilung einen Anreiz zu geben, dort überhaupt einen Flug zu buchen, so deren Gläubiger zu werden und hierbei in aller Regel sogar den Flugpreis vorzuleisten. Denn die Fluggäste wüssten dann, dass sie als Massegläubiger sich eines bevorzugten Befriedigungsanspruchs aus der Insolvenzmasse sicher sein könnten. 4. Schlussfolgerungen für in der Insolvenz entstehende Fluggastrechte Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Beförderungsanspruch als auch die Fluggastrechte für Fluggäste lediglich zur Insolvenztabelle anmeldbare Insolvenzforderungen darstellen können. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn der Vertragsschluss beziehungsweise die Flugannullierung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt und der Fluggast zu diesem Zeitpunkt den entsprechenden Zahlungsanspruch der Fluglinie bereits vollständig erfüllt hatte (siehe bereits unter 3.1.). Im Schutzschirmverfahren zur Vorbereitung eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung kann dieser Zeitpunkt auf dessen Beginn vorverlegt sein (3.3.). Anders als für Pauschalreisende existieren für Flugreisende keine speziellen Insolvenzschutzmechanismen (2.1.). Besondere rechtliche Probleme bestehen für im Zeitraum nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einer Fluggesellschaft erworbene Fluggastrechte, soweit die korrespondierenden Beförderungsansprüche bereits zu Insolvenzforderungen geworden sind. Dies gilt auch für den aufgrund einer Flugannullierung durch Fluggäste wählbaren Erstattungsanspruch des Flugpreises. Der An- 60 § 275 Abs. 1 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 InsO (siehe auch Kern, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung , 4. Auflage 2020, Band 3, § 270 InsO, Randnummern 160 ff.). Darüber hinaus ist es auch der Schuldner im Einvernehmen mit dem Sachwalter, der im Fall der noch nicht vollständig erfüllten Vertragsverpflichtungen der Gläubiger bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens anstatt eines Insolvenzverwalters darüber entscheidet, ob Vermögensansprüche seitens der Gesellschaft erfüllt werden, §§ 279 S. 1, 2 in Verbindung mit §§ 103 ff. InsO. 61 So auch im Ergebnis Kern, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2020, Band 3, § 270 InsO, Randnummer 161, der nur bei natürlichen Personen zwischen Forderungen, die die Masse betreffen und solchen, die dies nicht tun, unterscheidet. 62 § 270b Abs. 3 InsO. Das sogenannte Schutzschirmverfahren ist in § 270b InsO geregelt, wobei das Gesetz den Begriff nicht verwendet (Groh, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 24. Auflage 2020, Stichwort „Schutzschirmverfahren “). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 14 spruch lässt sich aufgrund seiner europarechtlichen Herkunft nur schwerlich in die herkömmliche Struktur der Schuldverhältnisse des deutschen Schuldrechts einordnen. In der Literatur werden verschiedenste Auffassungen vertreten, die von der Klassifizierung als gesetzliches, eher vertragliches Schuldverhältnis, oder Mischformen hierzwischen reichen. Klärende Rechtsprechung ist nicht ersichtlich (2.2.). Die Unterscheidung ist wichtig, da Auswirkungen auf die Einordnung als Insolvenz- oder Masseforderung in der Insolvenz bestehen können. Denn es ist fraglich, ob ein solches Fluggastrecht als Masseforderung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO aufzufassen ist.63 In Anknüpfung an 3.2. ist dies dann der Fall, wenn die Forderung durch Handlungen des Insolvenzverwalters (Alternative 1) oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet wird (Alternative 2), ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören. An die Stelle des Insolvenzverwalters tritt in der Eigenverwaltung der Schuldner unter Aufsicht eines Sachwalters selbst (3.3). Versteht man den nach Verfahrenseröffnung begründeten fluggastrechtlichen Erstattungsanspruch als rein gesetzliches, mit Annullierung neu entstehendes Schuldverhältnis, spricht viel dafür, die Forderung als Masseforderung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 2 InsO zu behandeln , die demgemäß in anderer Weise durch Verwaltung der Insolvenzmasse begründet wurde.64 Denn unter der Prämisse, dass die maßgebliche anspruchsbegründende Voraussetzung des fluggastrechtlichen Erstattungsanspruchs, die Annullierung, erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetreten ist, liegt gemäß der BGH-Formel (3.1.) keine Insolvenzforderung vor. Gleichzeitig dürfte ein neu entstehender Anspruch, der auf einer Flugannullierung beruht, die keinen inhaltlichen Bezug zum Insolvenzverfahren aufweist, ebenjenen inhaltlichen Bezug zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb herstellen, der im Rahmen des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung von rechtsfähigen Gesellschaften weitgehend mit dem bei § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO stets notwendigen Bezug zur Verwaltung der Insolvenzmasse gleichzusetzen ist (3.2. und 3.3.). Somit wäre nach der herkömmlichen Definition eine Masseforderung gegeben. Zu einer anderen Auffassung kann man allerdings gelangen, wenn man – in Betonung von dessen vertraglichen Anknüpfungspunkten – den Erstattungsanspruch nicht als (rein) gesetzlichen, sondern als vertraglichen oder vertragsähnlichen Anspruch auffasst. Zwar gilt das zum gesetzlichen Anspruch Gesagte prinzipiell auch bei einem vertraglich geprägten Verständnis: Denn der Entstehungszeitpunkt des Erstattungsanspruchs ist formell allein vom Zeitpunkt der Annullierung abhängig , der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt. Im Falle der Betonung der vertraglichen Aspekte des Anspruchs könnte man jedoch zusätzlich überlegen, ob der Sinn und Zweck der Unterscheidung zwischen Insolvenz- und privilegierter Masseforderung nicht doch die Klassifizierung als Insolvenzforderung nahelegt: 63 Andere in der Norm genannte Alternativen zur Begründung einer Masseforderung kommen hier von vornherein nicht in Betracht. 64 Dabei ist eine genaue Differenzierung zwischen der ersten und zweiten Alternative von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO für die Praxis entbehrlich, da die nach beiden Alternativen ausgelösten Masseverbindlichkeiten im Falle der Masseunzulänglichkeit gleichen Rang haben (Sinz, in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Auflage 2019, Band 1, § 55 InsO, Randnummer 25). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 15 Hierbei ist zunächst fraglich, was überhaupt der Sinn und Zweck der Privilegierung von Masseforderungen ist. Hinsichtlich neu eingegangener vertraglicher Schuldverhältnisse liegt dies auf der Hand: Ohne entsprechende Privilegierung wäre eine Betriebsfortführung kaum möglich, da kein Vertragspartner in dem Wissen einer nur anteilsmäßigen Befriedigung als Insolvenzgläubiger noch vertragliche Leistungen für die Insolvenzmasse erbringen würde.65 Hieraus geht jedoch nicht hervor, warum auch eine Privilegierung von Gläubigern bei Schuldverhältnissen erfolgen sollte, die – bei der Eigenverwaltung (3.3.) – der Insolvenzschuldner in aller Regel nicht freiwillig zur Fortführung des Geschäftsbetriebes eingeht. Die Begründung des § 55 InsO zugrundeliegenden Gesetzentwurfes verhält sich hierzu nicht.66 Nach Stimmen in Rechtsprechung und Literatur ist jedoch genereller Zweck der Existenz von Masseforderungen gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, Rechtsfolgen dafür zu schaffen, falls der Insolvenzverwalter mit dem Ziel handelt, die Insolvenzmasse zu vergrößern.67 Eine weitere Literaturstimme hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass eine Insolvenzforderung nicht durch „bloße Beteiligung des Verwalters“ zur Masseverbindlichkeit umgewandelt werden dürfte.68 Dies erscheint plausibel, denn durch Bestrebungen der Vergrößerung der Insolvenzmasse verbessern sich die Befriedigungsmöglichkeiten aller Gläubiger. Gleichzeitig besteht aber in der Eigenverwaltung für den Insolvenzschuldner die Gefahr, sich auch unfreiwillig zusätzlichen Ansprüchen auszusetzen, indem Dritte weiter mit dem Geschäftsbetrieb/der Insolvenzmasse in Berührung kommen. Kern der Frage gemäß Auslegung nach Sinn und Zweck ist damit, ob man das Entstehen des Fluggastrechts nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung als bloße Zufälligkeit versteht, die keinen Bezug zur eigentlichen, willensmäßigen Verwaltung der Insolvenzmasse aufweist , oder ob man den Erstattungsanspruch als typische, sich verwirklichende Gefahr des fortlaufenden Geschäftsbetriebes begreift. Nach der ersten Ansicht läge eine Insolvenzforderung vor, nach der zweiten eine Masseforderung. Beide Meinungen scheinen rechtlich begründbar: Für den Charakter einer Insolvenzforderung spricht, dass die rechtliche Trennung zwischen ursprünglichem vertraglichen Beförderungsanspruch und fluggastrechtlichem Anspruch eher formal wirken könnte, da diese von ihrem Inhalt so stark aufeinander bezogen sind, dass eine rechtliche Ungleichbehandlung verschiedener Fluggäste nicht gerechtfertigt erschiene. Insbesondere in insolvenzrechtlichen Kontexten hinge es sonst oft vom Zufall ab, ob eine Annullierung vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschieht. In der Sache geht es jedoch weiter um die ursprünglichen beförderungsvertraglichen Leistungspflichten. Für den Charakter einer Masseforderung spricht, dass Fluggäste den in Frage stehenden Erstattungsanspruch lediglich dadurch erhalten, dass der Flug- und somit Geschäftsbetrieb auch in der 65 Vergleiche statt vieler Erdmann, in: Beck’scher Online-Kommentar Insolvenzordnung, 20. Edition, Stand: 15. Juli 2020, § 53 InsO, Randnummer 2. 66 Vergleiche Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fußnote 59), S. 126 (dort noch als § 64 InsO gelistet). 67 Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 25. Januar 2018 – 6 AZR 8/17 –, Randnummer 19; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30. November 2011 – B 11 AL 22/10 R –, Randnummer 13 (beide zitiert nach juris); Hefermehl , in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, Band 1, § 55 InsO, Randnummer 18. 68 Thole, in: Schmidt, Insolvenzordnung, 19. Auflage 2016, § 55 InsO, Randnummer 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 101/20 Seite 16 Insolvenz fortgesetzt wird. Die Leistungsstörung, die eine Erfüllung der ursprünglich vereinbarten Beförderung verhindert, ist erst nach Insolvenzeröffnung eingetreten und steht nicht mit der Insolvenz in Zusammenhang. Somit erschiene es ebenso schlüssig zu behaupten, dass sich hierin nicht das typische Insolvenzrisiko des regelmäßig vorleistungspflichtigen Fluggastes verwirklichte , dessen Flug aufgrund der anstehenden Insolvenz bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens annulliert wurde. Letztlich handelt es sich auch um eine Wertungsentscheidung, ob der betroffene Personenkreis in der Insolvenz besonders zu schützen ist, oder ob dem durch die insolvenzrechtlichen Vorschriften zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung Vorzug zu geben ist.69 Soweit ersichtlich, haben sich die Gerichte zu diesem Problem noch nicht geäußert. 5. Fazit Die Frage der insolvenzrechtlichen Behandlung von nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einer Fluggesellschaft entstandenen Fluggastrechten der vorherigen Insolvenzgläubiger bezüglich deren Beförderungsansprüchen kann anhand des aktuellen Rechtsstandes nicht eindeutig beantwortet werden. Sowohl die Einordnung als Insolvenz- als auch als Masseforderung erscheint rechtlich möglich, wobei sich im Einzelnen komplexe Rechtsprobleme und Wertungsfragen ergeben . Letztlich kann eine Klassifizierung nach geltender Rechtslage nur durch die hierzu berufene Rechtsprechung anhand konkreter Einzelfälle erfolgen. *** 69 Zu diesem Grundsatz näher Ehricke/Behmke, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, Band 1, § 38 InsO, Randnummern 5 ff.