Deutscher Bundestag Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 7 – 3000 – 081/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 2 Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern Verfasser: Aktenzeichen: WD 7 – 3000 – 081/10 Abschluss der Arbeit: 11. Mai 2010 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Meinungsstand 5 2.1. „Erzwungene“ gemeinsame Sorge 5 2.1.1. Befürworter 5 2.1.2. Gegner 7 2.2. Alleinsorge des Vaters 9 2.2.1. Befürworter 9 2.2.2. Gegner 10 3. Vorschläge für zusätzliche Voraussetzungen einer „erzwungenen“ Mit- oder Alleinsorge des Vaters 12 3.1. Vorschläge hinsichtlich einer gemeinsamen Sorge 12 3.2. Vorschläge hinsichtlich einer Alleinsorge des Vaters 13 4. Erkenntnisse über die Beweggründe der Mutter, die Zustimmung für ein gemeinsames Sorgerecht zu verweigern 13 4.1. Antwort der Bundesregierung vom 11. Juli 2007 auf eine Kleine Parlamentarische Anfrage 13 4.2. Ergebnisse einer Umfrage des Bundesministeriums der Justiz im Jahre 2006 14 5. Empirische Befunde zum Verhältnis der gemeinsamen Sorge zur Alleinsorge hinsichtlich auf das Kindeswohl 15 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 4 1. Einleitung Es geht um die gesetzliche Ausgestaltung des Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Eltern . Vor In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts1 am 1. Juli 1998 stand die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind allein der Mutter zu, § 1705 Satz 1 BGB (a.F.). Die gemeinsame Sorge für nicht miteinander verheiratete Eltern war gesetzlich nicht vorgesehen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits 1982 als verfassungswidrig angesehen.2 Im Jahre 1996 legte die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Reform des Kindschaftsrechts vor,3 mit dem insbesondere die rechtlichen Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern so weit wie möglich beseitigt werden sollten.4 In § 1626a BGB wurde hierbei die gemeinsame Sorge für nicht miteinander verheiratete Eltern vorgesehen. Voraussetzung dafür war allerdings die Abgabe übereinstimmender Sorgeerklärungen. Dies sollte sicherstellen, dass die gemeinsame Sorge nicht gegen den Willen eines Elternteils eintritt.5 Gemäß § 1626a BGB ist die nicht mit dem Kindesvater verheiratete Mutter grundsätzlich allein sorgeberechtigt. Der Vater des Kindes kann daher die elterliche (Mit- oder Allein-) Sorge nur mit Zustimmung der Mutter erhalten.6 Selbst wenn der Vater jahrelang unverheiratet mit der Mutter und dem Kind zusammen gelebt hat, kann er das gemeinsame oder das alleinige Sorgerecht gegen den Willen der Mutter nicht erlangen. Im Jahre 2003 bestätigte das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit dieser gesetzlichen Regelung.7 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat nunmehr in seinem Urteil vom 3. Dezember 20098 entschieden, dass die Bevorzugung unverheirateter Mütter gegenüber den Vätern in Deutschland gegen das Diskriminierungsverbot verstößt , so dass nach seiner Auffassung Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt sind. 1 Kindschaftsrechtsreformgesetz – KindRG – vom 16. Dezember 1997, BGBl. I S. 2942. 2 Urteil vom 3. November 1982 – 1 BvL 25/80, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1983, S. 101. 3 BT-Drs. 13/4899. 4 Vgl. Gesetzbegründung, BT-Drs. 13/4899, S. 1. 5 Rakete-Dombrek, in: Anwaltskommentar – BGB, Familienrecht, Band 4, § 1626a, Rn. 3. 6 Ebenda, Rn. 2. 7 Az.: 1 BvL 20/99, vgl. NJW 2003, S. 955 ff. 8 EGMR (V. Sektion), Urteil vom 3. Dezember 2009 - 22028/04 (Zaunegger/Deutschland), NJW 2010, S. 501 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 5 Um beurteilen zu können, inwieweit die einschlägigen Bestimmungen des Familienrechts geändert werden müssen, sollen nachfolgend die bisher erörterten Argumente für und gegen die unterschiedlichen Sorgerechtsmodelle für nicht miteinander verheiratete Eltern dargestellt werden. 2. Meinungsstand Um ein diskriminierungsfreies Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern zu gewährleisten , wird erörtert, ob dem Vater gegen den Willen der Mutter die gemeinsame Sorge (sog. „erzwungene “ gemeinsame Sorge) oder sogar die Alleinsorge zuerkannt werden sollte. Im Folgenden soll der Meinungsstand tabellarisch in chronologischer Reihenfolge dargestellt werden. 2.1. „Erzwungene“ gemeinsame Sorge 2.1.1. Befürworter Person/Institution Fundstelle Argumentation AG Korbach FamRZ9 2000, S. 629 f. Die Stellung des Elternrechts des Vaters auf Pflege und Erziehung seines leiblichen Kindes ausnahmslos zur Disposition der Mutter verstößt gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG). Diese schematische, dem Einzelfall nicht gerecht werdende Lösung stellt jedenfalls dann einen nicht gerechtfertigten Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Position dar, wenn der Vater aufgrund seines Zusammenlebens mit dem Kind bei einen längeren Zeitraum eine faktische Elternstellung eingenommen und auch später die Beziehung zum Kind aufrecht erhalten hat. 9 Zeitschrift für das Gesamte Familienrecht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 6 Person/Institution Fundstelle Argumentation Dr. Michael Humphrey, Wiss. Mitarbeiter, Universität Passau Das Sorgerecht des nichtehelichen Vaters in rechtsvergleichender Kritik, FÜR10, 2003, S. 578 ff. Vorrang der Mutter ist nur bzgl. der anfänglichen Sorgezuweisung gerechtfertigt . Der Vater hat auch einen Potential, später eine Tiefenbeziehung zum Kind zu begründen. Das Kindeswohl soll entscheiden, welcher Elternteil die Sorge tragen soll. Die generelle Verneinung der gemeinsamen Sorge bei fehlender gemeinsamer Sorgeerklärung gekoppelt mit der Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter stellt einen tiefen Eingriff in das Elternrecht des Vaters dar. Verein Väter für Kinder11 Erwähnt in: Humphrey, FÜR, 2003, S. 578, (582) Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes wird durch die Erfahrung gefördert, wie sich die Eltern in wichtigen Fragen streitig auseinander setzen, um schließlich eine Einigung zu finden. Prof. Siegfried Willutzki, Universität Chemnitz, Direktor des AmtsG a.D., Präsident des Deutschen Familiengerichtstages Elterliche Sorge für nicht miteinander verheiratete Eltern, ZKJ12, 2010 S. 86, (89) Die Gleichstellung von unehelichen und ehelichen Kindern erfordert eine automatische gemeinsame Sorge. EuGH NJW 2010, S. 501 ff., Rn. 59 Es trifft nicht zu, dass das gemeinsame Sorgerecht gegen den Willen der Mutter prima facie dem Kindeswohl widerspricht. 10 Familie, Partnerschaft und Recht. 11 Internetpräsenz unter: www.vaeterfuerkinder.de. 12 Kindschaftsrecht und Jugendhilfe. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 7 2.1.2. Gegner Person/Institution Fundstelle Argumentation Rechtsausschuss, Ausschuss für Frauen und Jugend, Ausschuss für Familie und Senioren, Ausschuss für Innere Angelegenheiten des Bundesrates Empfehlungen von Ausschüssen des Bundesrates vom 3. Mai 1996, BR-Drs. 180/1/96, S. 19 Für die Ausübung der gemeinsamen Sorge ist ein gewisser „Minimal -Konsens“ zwischen den Eltern wichtig. PDS Antrag zur Reform des Kindschaftsrechts vom 11. Juni 1997, BT-Drs. 13/7899, S. 9 Die gemeinsame Sorge ist nur dann angebracht, wenn beide Eltern es wünschen und wirklich in ihrer Verantwortung und Erziehungsaufgabe kooperieren können. Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts vom 13. Juni 1996, BT-Drs. 13/4899, S. 58 Eine gemeinsame Sorge gegen den Willen eines Elternteils würde die Gefahr in sich bergen, dass von vornherein Konflikte auf dem Rücken des Kindes ausgetragen würde . Rechtsausschuss des Bundestages Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Entwurf der Bundesregierung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 12. September 1997, BT-Drs. 13/8511, S. 66 Die gegen den Willen eines Elternteils erzwungene Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge wird für das Kind regelmäßig mit mehr Nachteilen als Vorteilen verbunden sein, weil sich der Streit seiner Eltern über die Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge verlagern wird auf die Auseinandersetzung über die Ausübung der Sorge. Diese würden letztendlich auf dem Rücken des Kindes ausgetragen und diesem mehr schaden als nützen. Pofalla, Ronald, MdB (CDU/CSU) BT-Plenarprotokoll 13/192 vom 25. September 1997, S. 17346 (D) Das gemeinsame Sorgerecht soll von der Zustimmung der Mutter abhängen, weil die Lebenswirklichkeit nach Erhebungen, die dem Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 8 Person/Institution Fundstelle Argumentation Pofalla, Ronald (Fortsetzung) Bundesjustizministerium vorlagen, zeigt, dass etwa 70 Prozent oder etwas mehr der nichteheliche Väter nie eine soziale Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Sabine Leutheuser- Schnarrenberger, MdB (FDP) BT-Plenarprotokoll 13/192 vom 25. September 1997, S. 17351 (D) Zwang zur gemeinsamen Sorge trifft so nicht den Kern der Regelungen der Kindschaftsreform. Die gemeinsame Sorge, wenn sie funktioniert , ist das Beste für das Kind oder die Kinder. Wenn sie verordnet , wenn sie zwangsweise vorgeschrieben wird, kann sie genau das Gegenteil sein. Christina Schenk, MdB (PDS) BT-Plenarprotokoll 13/192 vom 25. September 1997, S. 17353 (A) Ein erzwungenes gemeinsames Sorgerecht wird eine streitverschärfende Wirkung haben und damit dem Kindeswohl schaden. BGH NJW 2001, S. 2472 ff. Die gegen den Willen eines Elternteils angestrengte gerichtliche Verfahren über das Sorgerecht sind vielfach mit Konflikten zwischen den Beteiligten verbunden, die regelmäßig dazu führen dürften, dass die für ein gemeinsames Sorgerecht notwendige Harmonie nicht (mehr) vorausgesetzt werden kann. Die Konflikte zwischen den Eltern würden im Übrigen häufig auf dem Rücken des Kindes ausgetragen, was der Gesetzgeber ausdrücklich vermeiden wollte. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 9 Person/Institution Fundstelle Argumentation OLG Brandenburg FamFR13 2010, S. 13114 Eine aufgezwungene Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge elterlichen würde zwar vielleicht dem Elternrecht des kooperationswilligen Elternteils Geltung verschaffen , nicht aber dem höherrangigen Kindeswohl dienen, da der fortgesetzte destruktive Elternstreit zwangsläufig zu erheblichen Belastung des Kindes führt. 2.2. Alleinsorge des Vaters 2.2.1. Befürworter Person/Institution Fundstelle Argumentation Prof. Dr. Ingeborg Schwenzer, Universität Basel 59. DJT15, Band I, A 79 Dass auch dem Vater eines nichtehelichen Kindes, der einmal an der elterlichen Sorge beteiligt war, entsprechend dem § 1696 a Abs. 1 BGB zu einem späteren Zeitpunkt im Interesse des Kindes die elterliche Sorge übertragen werden können , ist unstreitig. Dasselbe muss auch gelten, wenn zwischen Vater und Kind eine soziale Eltern-Kind- Beziehung besteht, ohne dass dieser sorgeberechtigt war, oder wenn 13 Familienrecht und Familienverfahrensrecht. 14 Im Internet abrufbar unter: http://www.rechtsportal.de/familienrecht/Gesamt/Gesetze-- Rechtsprechung/Rechtsprechung/2010/OLG-Brandenburg/2000281/D0000_2010_001118/OLG-Brandenburg,- Beschlussvom-14.01.2010---Aktenzeichen-9-UF-6609.html. 15 Verhandlungen des 59. Deutschen Juristentages, München 1992. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 10 Person/Institution Fundstelle Argumentation Prof. Dr. Ingeborg Schwenzer, Universität Basel (Fortsetzung) die Mutter von ihrem Sorgerecht faktisch keinen Gebrauch macht, indem sie das Kind beispielsweise in die Obhut dritter Person gibt. Nicht nur das Kind hat grundsätzlich ein Anrecht auf beide Eltern und damit auch ein Recht, dass entsprechend dem Kindeswohl über das Sorgerecht entschieden werden kann, auch dem Vater kann unter Gleichheitsgesichtspunkten der Weg, gegen den Willen der Mutter das Sorgerecht zu erlangen, nicht völlig verschlossen werden. Prof. Dr. Dieter Schwab, Universität Regensburg 59. DJT, Band II, M 123 Es fehlt die schlagende Begründung für den Muttervorrang. Prof. Dr. Eva Schumann, Universität Göttingen Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern, FuR, 2002, S. 62 Zwar bestehen unbestritten zwischen Mutter und Kind von Natur aus Bindungen , die zwischen dem Vater und seinem Kind fehlen. Dennoch geht das Grundgesetz von einem anderen Leitbild aus. Aus dem Grundgesetz lässt sich kein Muttervorrang ableiten. Prof. Dr. Michael Coester, Universität München Sorgerechtliche Impulse aus Straßburg, NJW, 2010, S. 482, (484) Durch die ausnahmslose Zuweisung der Alleinsorge auf Mutter wird das Recht des Kindes auf den „besseren Elternteil“ verletzt. 2.2.2. Gegner Person/Institution Fundstelle Argumentation Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts vom 13. Juni 1996, Aus kinderpsychiatrischer und kinderpsychologischer Sicht entwickelt das Kind sehr bald nach der Geburt Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 11 Person/Institution Fundstelle Argumentation Bundesregierung (Fortsetzung) BT-Drs. 13/4899, S. 58 f. eine enge Bindung zu seiner Mutter, was die Entscheidungsmacht der Mutter rechtfertigt . BGH NJW 2001, S. 2472 ff. Sowohl die Schwangerschaft als auch die Geburt vermitteln eine enge Beziehung, die eine Zuordnung des Kindes zur Mutter aus Kindeswohlgründen und im Hinblick auf die Rechtssicherheit sachlich rechtfertigt . Auch praktisches Bedürfnis, notfalls bereits kurz nach der Geburt als gesetzlicher Vertreter handeln zu können, spricht für eine Zuordnung zur Mutter. BVerfG NJW 2003, S. 955 ff. Das Kindeswohl verlangt, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die für das Kind rechtsverbindlich handeln kann. Zwischen Mutter und Kind entwickeln sich schon während der Schwangerschaft neben der biologischen Verbundenheit eine Beziehung, die sich nach der Geburt fortsetzt. Auch wenn dem Vater für die Entwicklung des Kindes eine erhebliche Bedeutung zukommt, muss er doch nach der Geburt des Kindes – sofern er dies will – eine Beziehung zum Kind erst aufbauen, die zwischen Mutter und Kind vornherein schon besteht. Während diese sich bereits im Laufe der Schwangerschaft damit auseinander setzen muss, dass sie demnächst für das geborene Kind die Verantwortung trägt, und regelmäßig ihre Bereitschaft dazu durch die Schwangerschaft zum Ausdruck gebracht hat, steht die Entscheidung des Vaters, wie er sich zu seinem Kind verhalten will, in vielen Fällen bei dessen Geburt noch nicht fest. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 12 Person/Institution Fundstelle Argumentation BVerfG (Fortsetzung) Die Mutter ist die einzig sichere Bezugsperson, die das Kind bei seiner Geburt vorfindet. Wenn sie zur alleinigen Sorgerechtsinhaberin gemacht wird, stellt dies daher sichere , dass für das Kind vom ersten Lebenstag an tatsächlich und rechtlich Verantwortung getragen werden kann. Wolfgang Jaeger, Vors. Richter am OLG Düsseldorf a. D. Dieter Henrich (Hrsg.), Eherecht. Kommentar. 4. Auflage, München 2003 Eherecht, § 1626a, Rn. 9 Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gesetzgeber dem Elternrecht des Vaters eines nichteheliche Kindes aus Art. 6 Abs. 2 GG nicht in ausreichender Maß Rechnung getragen hat. 3. Vorschläge für zusätzliche Voraussetzungen einer „erzwungenen“ Mit- oder Alleinsorge des Vaters Um den nachvollziehbaren Argumenten gegen eine „erzwungene“ Mit- oder Alleinsorge des Vaters Rechnung zu tragen, werden verschiedene zusätzliche Voraussetzungen an ein solches Sorgerecht diskutiert. 3.1. Vorschläge hinsichtlich einer gemeinsamen Sorge - Bei der Verweigerung der Zustimmung der Mutter muss eine Möglichkeit bestehen, diese Zustimmung zu ersetzen16 bzw. die Verweigerung der Zustimmung gerichtlich überprüfen zu lassen17 und gegebenenfalls zu ersetzen. - Ein gemeinsames Sorgerecht soll voraussetzen, dass die Eltern zusammen leben.18 16 Michael Greßmann, Neues Kindschaftsrecht, Bielefeld 1998, Rz. 185. 17 Sigfried Willutzki, Elterliche Sorge für nicht miteinander verheiratete Eltern, ZKJ 2010, S. 88. 18 BT-Drs. 13/4899, S. 58. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 13 - Die gemeinsame Sorge muss davon abhängig gemacht werden, dass vorher jeder Einzelfall durch das Familiengericht daraufhin überprüft wird, ob die gemeinsame Sorge dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.19 - Die gemeinsame Sorge ist dann nicht zuzulassen, wenn zumindest ein Elternteil mit einer anderen Person verheiratet ist. Sonst würden Mischverhältnisse mit schwierigen Problemen für die jeweiligen Ehepartner der Eltern und die Kinder aus diesen Ehen entstehen.20 3.2. Vorschläge hinsichtlich einer Alleinsorge des Vaters - Es muss die Möglichkeit einer Übertragung des Sorgerechts auf den Vater auf dessen Antrag bestehen, wenn dies dem Kindeswohl entspricht21 bzw. diesem nicht widerspricht. - Der Vater soll gegen den Willen der Mutter alleiniger Inhaber der Sorge werden können, wenn ihr vorher die Sorge entzogen worden ist.22 - Binnen eines Jahres nach der Feststellung der Vaterschaft kann der Vater beim Familiengericht beantragen, dass ihm die alleinige Sorge übertragen wird. Dem Antrag ist stattzugeben , wenn das dem Wohle des Kindes am besten entspricht.23 - Der Vater muss im Einzelfall Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung zur Erlangung des gemeinsamen Sorgerechts haben.24 4. Erkenntnisse über die Beweggründe der Mutter, die Zustimmung für ein gemeinsames Sorgerecht zu verweigern 4.1. Antwort der Bundesregierung vom 11. Juli 2007 auf eine Kleine Parlamentarische Anfrage25 In der Antwort wird auf die Untersuchungen von Peters Finger26 und Sandra Fink27 hingewiesen. Insgesamt seien die Motive für die Ablehnung einer Sorgeerklärung sehr unterschiedlich. Unter 19 SPD-Fraktion, vgl. BT-Drs. 13/4899, S. 59. 20 Vgl. BT-Drs. 13/4899, S. 59. 21 Nina Dethloff, Reform des Kindschaftsrechts, NJW, 1992, S. 2200 f. 22 Vgl. BT-Drs. 13/4899, S. 59. 23 Arbeitsgruppe „Nichtehelichenrecht“, abgedruckt ebenda. 24 Vgl. BT-Drs. 16/9361, S. 2 und BT-DrS. 16/13446, S. 2. 25 Antwort der Bundesregierung vom 11. Juli 2007 auf die Kleine Anfrage u. a. der Abgeordneten Ekin Deligöz, Volker Beck, Grietje Bettin, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 16/6078, S. 6, im Internet abrufbar unter: http://www.dnoti.de/DOC/2007/BT_Drs_16_6078.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 14 anderem würden folgende Beweggründe genannt: „eine Beziehung der Eltern hat nie bestanden“, „eine friedliche Verständigung der Eltern ist nicht möglich“, „die Mutter will praktische Schwierigkeiten vermeiden“ oder „hat Angst, im Falle der Trennung vom Kindesvater selbst das Sorgerecht zu verlieren“. 4.2. Ergebnisse einer Umfrage des Bundesministeriums der Justiz im Jahre 200628 Den Teilnehmern der Umfrage wurden verschiede Motive zur Auswahl gestellt, die zum Teil kindeswohlorientiert (z.B. „häufige Konflikte der Eltern“) und zum Teil kindeswohlfern waren (z.B. „Mutter möchte sich am Vater rächen“). Im Ergebnis wurden von den Teilnehmern sowohl kindeswohlorientierte Gründe als auch kindeswohlferne Gründe genannt. Am häufigsten nannten die Teilnehmer die Motive „Die Mutter möchte die Alleinsorge behalten, um allein entscheiden zu können („einfacherer Weg“)“ und „Die Mutter möchte nichts mehr mit dem Vater zu tun haben und lehnt daher jeden Kontakt auch in Angelegenheiten des Kindes ab“. Beide Motive orientieren sich vorrangig eher an den emotionalen Befindlichkeiten der Mutter wie zum Beispiel ihrem Sicherheitsbedürfnis (insbesondere beim Motiv „einfacherer Weg“) oder verletzten Gefühlen. Diese beiden Motive wurden von ca. 80% aller Jugendämter und von mehr als 90 % der Jugendämter genannt, die mehr als 20 Anfragen pro Jahr haben. Mit ca. 70 % nannten die Jugendämter aber ebenfalls sehr häufig die kindeswohlorientierte Motive: „Es kommt häufig zu Konflikten der Eltern, eine friedliche Verständigung ist nicht möglich.“ und „Eine Beziehung zwischen den Eltern hat nie bestanden, war lose oder ist beendet.“; bei den Rechtsanwälten wurden diese beiden Motiven nur von ca. 50% der Teilnehmer genannt. Die Ergebnisse der Befragung und die weiteren von den Teilnehmern genannten Motive zeigen, dass die Gründe für die Ablehnung der gemeinsamen Sorge sehr vielschichtig sind: Sie deuten darauf hin, dass die Entscheidung gegen die gemeinsame Sorge häufig auch emotional gesteuert ist und dabei u. a. Verlustängste, Besitzansprüche, Kontrollbedürfnisse oder auch der Einfluss dritter Personen eine Rolle spielen können. 26 Sorgeerklärungen - eine Umfrage bei hessischen Standes - und Jugendämtern, Das Standesamt – StAZ – 2003, S. 228. 27 Die Verwirklichung des Kindeswohls im Sorgerecht für nichtverheiratete Eltern, 2004. 28 Die Umfrage hat sich an Jugendämter und Rechtsanwälte gewandt. Eine Zusammenfassung der Umfrage ist im Internet abrufbar unter: http://www.vaeter-aktuell.de/Umfrage_BMJ_1626a_Zusammenfassung.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 15 5. Empirische Befunde zum Verhältnis der gemeinsamen Sorge zur Alleinsorge hinsichtlich auf das Kindeswohl Empirische Befunde zu den Auswirkungen des gemeinsamen Sorgerechts auf das Kindeswohl liegen bereits (vor allem in den USA) vor29 In Deutschland sind die im Auftrag des BMJ im Jahre 2002 erfolgten Erhebung von Proksch30 sowie einige kleinere Untersuchungen zu nennen. 31 Nach den Ergebnissen von Proksch (ähnlich die Regensburger Studien) scheint sich fortgeführte gemeinsame Sorge von getrennt lebenden Eltern zu bewähren und im Großen und Ganzen den Kindesinteressen förderlich wirken.32 Statistisch signifikant führe sie zur besseren Kommunikation und Kooperation der Eltern, Eltern-Kind-Kontakten und Unterhaltsmoral, sie reduziere das Konfliktpotential der Eltern und mindere die Belastungen der Kinder aus der Elterntrennung33. Gegen den Aussagewert der Untersuchung von Proksch sind jedoch einige methodische Bedenken erhoben worden34. Es wird kritisch darauf hingewiesen, dass der Fokus der Untersuchung – wie das neue Kindschaftsrecht selbst – elternzentriert sei; sie hätten die Elternzufriedenheit ermittelt und mit Kindeswohl gleichgesetzt; nur wenige Kinder-Interviews seien gemacht, und dies auch ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit35. Außerdem sei der Kausalbezug der positiven Befunde zum gemeinsamen Sorgerecht auch zweifelhaft (Kooperation als Folge des gemeinsamen Sorgerechts oder dessen Ursache? Bessere Unterhaltsmoral wegen des gemeinsamen Sorgerechts oder weil nach Trennung verständigungsbereite Eltern überdurchschnittlich gebildet und besser verdienend seien?).36 Insgesamt wisse man über die Bedeutung des gemeinsamen Sorgerechts für die Kindesinteressen nicht mehr als vorher, zumal mehrere ausländische Studien die positiven 29 Vgl. Kerima Kostka, Im Interesse des Kindes? Elterntrennunf und Sorgerechtsmodelle in Deutschland, Großbritanien und den USA, Frankfurt am Main 2004, S. 342 ff. 30 Roland Proksch, Rechtstatsächliche Untersuchung zur Reform des Kindschaftsrecht, Köln 2002, S. 38 ff, 67 f, 412, eine Kurzfassung ist im Internet abrufbar unter: http://www.bmj.bund.de/files/- /200/Kurzfassung%20Abschlussbericht%202002.pdf. 31 Zu einer Studie in Regensburg vgl. Wolfgang Buchholtz-Graf / Volker Sgolik, Familien in Trennung und Scheidung nach der Kindschaftsrechtsreform, ZfJ, 2004, S. 81 ff.; weitere Nachweise bei Mechtild Gödde, Umgangsverweigerung bei Kindern und Jugendlichen: Ein Plädoyer für den „Brückenschlag“ zwischen anwendungsorientierten Erklärungsansätzen und neueren Befunden der Scheidungsforschung, Zentralblatt für Jugendrecht - ZfJ, 2004, S. 201 ff. 32 Michael Coester, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Berlin 2009, Buch 4, Familienrecht, § 1671, Rn. 112. 33 Roland Proksch (siehe Fn. 30), S. 38 ff, 67 f, 412; näher zu dieser Untersuchung vgl. Dagmar Kaiser, Elternwille und Kindeswohl – für das gemeinsame Sorgerecht geschiedener Eltern, Familie, Partnerschaft, Recht – FRP, 2003, S. 573, 575 ff.; detaillierte Darstellung bei Kerima Kostka (siehe Fn. 29), S. 410 ff. 34 Kerima Kostka (siehe Fn. 29), S. 410 ff., insbesondere S. 448 f. 35 Vgl. Roland Proksch (siehe Fn. 30), S. 307: „Interviews nicht als „repräsentative qualitative Ergänzungsstudie“, sie sollten lediglich die Situation „bildhaft konkret“ werden lassen.“ 36 Michael Coester (siehe Fn. 32), Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 081/10 Seite 16 Effekte eher bezweifelten37. Auch die Erwartung, dass sich das gemeinsame Sorgerecht konfliktreduzierend auswirken werde, hat sich bislang noch nicht belegbar erfüllt.38 Aus juristischer Sicht kann aus diesem Forschungs- und Diskussionsstand nur gefolgert werden, dass für die Aussage, gemeinsames Sorgerecht sei dem Kindeswohl im Allgemeinen förderlicher als Alleinsorge, gegenwärtig (noch) eine gesicherte Grundlage fehlt39. 37 Umfassende Auflistung bei Kerima Kostka (siehe Fn. 29), S. 531 ff. 38 Michael Coester (siehe Fn. 32), Rn. 112. 39 Vgl. Kerima Kostka (siehe Fn. 29), S. 361.