© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 071/21 Zweitantragsrecht ehemaliger DDR-Heimkinder nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Menschen, die in der ehemaligen DDR in Kinder- und Jugendheimen untergebracht wurden, können nach Maßgabe des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG)1 Anspruch auf Rehabilitierung und Entschädigung haben. Im Jahre 2019 wurden einzelne Vorschriften des Gesetzes novelliert.2 Unter anderem durch die Einführung eines neuen § 10 Abs. 3 StrRehaG wurde eine gesetzliche Vermutung zugunsten jener Betroffenen geschaffen, welche in einem sog. „Spezialheim “ oder einer vergleichbaren Einrichtung der DDR untergebracht worden waren. Bei diesen Betroffenen wird nunmehr gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG widerleglich vermutet, dass die Unterbringung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, was wiederum nach § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG Voraussetzung für einen erfolgreichen Rehabilitierungsantrag ist. Es stellt sich nun die Frage, ob auch solche Betroffene von der Gesetzesänderung profitieren können , deren Rehabilitierungsantrag bereits vor der Gesetzesnovelle rechtskräftig abgelehnt worden ist. Ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 15 StrRehaG i.V.m. § 359 Nr. 5 StPO hat dabei keine Aussicht auf Erfolg, weil eine Gesetzesänderung als sog. „Rechtstatsache“ keine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigt.3 Einzige Chance der Betroffenen, eine erneute Sachentscheidung zu erreichen, ist somit ein Zweitantrag , dessen Zulässigkeit im Folgenden untersucht werden soll. 2. Meinungsstand zum Zweitantragsrecht nach Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes Ein Zweitantrag ist nach § 1 Abs. 6 Satz 1 StrRehaG grundsätzlich unzulässig. Gemäß Satz 2 der Vorschrift gilt dies allerdings nicht, „soweit dargelegt wird, dass der frühere Antrag nach den Vorschriften dieses Gesetzes Erfolg gehabt hätte.“ 1 Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG), in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Dezember 1999 (BGBl. I S. 2664), das zuletzt durch Art. 12 des Teilhabestärkungsgesetzes vom 2. Juni 2021 (BGBl. I S. 1387) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/strrehag/ (letzter Aufruf dieser und aller weiteren Internetquellen: 8. Juli 2021). 2 Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR und zur Änderung des Adoptionsvermittlungsgesetzes vom 22. November 2019 (BGBl. I S. 1752), abrufbar unter: https://dip.bundestag.de/vorgang/gesetz-zur-verbesserung-rehabilitierungsrechtlichervorschriften -f%C3%BCr-opfer-der-politischenverfolgung /248409?term=Gesetz%20zur%20Verbesserung%20rehabilitierungsrechtlicher%20Vorschriften%20f %C3%BCr%20Opfer%20der%20politischen%20Verfolgung%20in%20der%20ehemaligen%20DDR%20und%2 0zur%20%C3%84nderung%20des%20Adoptionsvermittlungsgesetzes%20vom%2022.%20November%202019 &f.wahlperiode=19&rows=25&pos=1. 3 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Auflage 2020, § 359 Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 071/21 Seite 5 Ob sich Antragsteller gemäß § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG nach einer Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes zu ihren Gunsten in einem Zweitantrag auf die neue Rechtslage berufen können, ist in Rechtsprechung und Literatur streitig: Der Gesetzgeber selbst4 sowie die wohl überwiegenden Stimmen in der Literatur und Rechtsprechung 5 gehen davon aus, dass sich Betroffene bei einer Gesetzesänderung nicht auf § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG berufen können. Die Vorschrift sei in ihrem eigentlichen Wortsinn auf solche Fälle anwendbar, in denen der Erstantrag noch vor Inkrafttreten des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes am 4. November 1992 unter Geltung der alten Rehabilitierungs- und Kassationsregelungen abgelehnt worden sei.6 Nicht erfasst seien hingegen Fälle, in denen sich das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz selbst geändert habe.7 Allerdings wird mitunter eine analoge Anwendung von § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG befürwortet.8 Es liege eine Regelungslücke vor, weil die Behandlung von Zweitanträgen solcher Betroffener, die von einer mittlerweile erfolgten Gesetzesänderung profitieren würden, unklar sei.9 Auch die 4 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksachen 19/10817, 19/12086, 19/13175 Nr. 13 –, BT-Drs. 19/14427 vom 23. Oktober 2019, S. 29 f., abrufbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/19/144/1914427.pdf; vgl. auch Änderungsantrag zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung – Drucksachen 19/10817, 19/12086, 19/13175 Nr. 13, 19/14427 – Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR, BT-Drs. 19/14429 vom 23. Oktober 2019, S. 5, abrufbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/19/144/1914429.pdf. 5 Mützel beklagte noch im Jahr 2019, dass nur wenige Gerichte ein Zweitantragsrecht gewährten, siehe: Mützel, Stellungnahme vom 5. September 2019 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Sechstes Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR (Drucksache 19/10817), S. 8, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/656326/ec29be93ca73a4d1bd9343b0c36f1f45/muetzel-data.pdf. 6 Schröder, in: Bruns/Schröder/Tappert, Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz Kommentar, 1. Auflage 1993, § 1 Rn. 198; Lochen/Meyer-Seitz, Leitfaden zur strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung, 1. Auflage 1994, S. 80; Ladner, in: Herzler/Ladner/Pfeifer/Schwarze/Wende, Potsdamer Kommentar zur Rehabilitierung, 2. Auflage 1997, § 1 Rn. 257; Blümmel, Der Opferaspekt bei der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung, Berlin 2002, S. 309; Mützel, Aufenthalt in einem DDR-Kinderheim als Freiheitsentziehung, Zeitschrift für offene Vermögensfragen (ZOV) 2011, 199 (201); Riedel-Krekeler, Die Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder der DDR nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, Berlin 2014, S. 101; Fritsche, Die Rechtsstellung ehemaliger DDR-Heimkinder nach der Novellierung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, Neue Justiz (NJ) 2020, 208 (212 f. ); so auch KG, Beschluss vom 28. Juli 2006 – Az. 5 Ws 557/05 REHA, Rn. 5 (zitiert nach juris); offengelassen von OLG Thüringen, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – Az. 1 Ws Reha 6/15, Rn. 10 (zitiert nach juris). 7 So ausdrücklich Mützel, (Fn. 6), ZOV 2011, 199 (201); Riedel-Krekeler, (Fn. 6), S. 101; Fritsche, (Fn. 6), NJ 2020, 208 (212 f.); vgl. auch Wasmuth, Aktuelle Änderungen des Rehabilitierungsrechts, ZOV 2019, 162 (166). 8 Mützel, (Fn. 6), ZOV 2011, 199 (201); Riedel-Krekeler, (Fn. 6), S. 101. 9 Mützel, (Fn. 6), ZOV 2011, 199 (201); Riedel-Krekeler, (Fn. 6), S. 101. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 071/21 Seite 6 Interessenlage sei vergleichbar. Denn es entspreche dem Willen des Gesetzgebers, eine Rehabilitierung für alle ehemaligen Heimkinder zu ermöglichen.10 Zudem sei § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG als „Meistbegünstigungsklausel“11 ohnehin weit auszulegen.12 Insbesondere nach Inkrafttreten der Gesetzesnovelle im Jahr 201913 haben einige Gerichte Zweitanträge von Betroffenen in direkter Anwendung des § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG für zulässig gehalten .14 Soweit diese Ansicht begründet wurde, verwies man auf den offenen Wortlaut der Norm, der es zulasse, auch Änderungen des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes selbst miteinzubeziehen .15 *** 10 Riedel-Krekeler, (Fn. 6), S. 101. 11 Schröder, in: Bruns/Tappert/Schröder, Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz Kommentar, 1. Auflage 1993, § 1 Rn. 191. 12 BVerfG, Kammerbeschluss vom 11. Januar 1995 – Az. 2 BvR 1685/93, Rn. 15 (zitiert nach juris); Riedel-Krekeler, (Fn. 6), S. 101; Mützel, (Fn. 6), ZOV 2011, 199 (201). 13 Siehe oben Fn. 2. 14 OLG Dresden, Beschluss vom 14. September 2020 – Az. 1 Reha Ws 20/20 Rn. 8 (zitiert nach juris); LG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 11. Juli 2013 – Az. 41 BRH 55/12, Rn. 18 (zitiert nach juris); LG Cottbus, Beschluss vom 18. Juli 2016 – Az. 36 BRH 22/15, Rn. 71 (zitiert nach juris); LG Chemnitz, Beschluss vom 14. Februar 2020 – Az. BSRH 60/13, Rn. 7 (zitiert nach juris), Beschluss vom 27. Februar 2020 – Az. BSRH 30/20, BeckRS 2020, 3072 Rn. 7; LG Potsdam, Beschluss vom 4. November 2020 – Az. BRH 90/20, Rn. 15 (zitiert nach juris). 15 LG Cottbus, Beschluss vom 18. Juli 2016 – Az. 36 BRH 22/15, Rn. 71 (zitiert nach juris).