© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 056/21 Darlegungs- und Beweislast im Arzthaftungsrecht unter besonderer Berücksichtigung nosokomialer Infektionen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 2 Darlegungs- und Beweislast im Arzthaftungsrecht unter besonderer Berücksichtigung nosokomialer Infektionen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 056/21 Abschluss der Arbeit: 3. Juni 2021 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Die Darlegungs- und Beweislast im Arzthaftungsprozess 4 2.1. Beweislastumkehr für Vorliegen eines Behandlungsfehlers, § 630h Abs. 1 BGB 5 2.2. Beweislastumkehr für Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die entstandene Schädigung, § 630h Abs.5 BGB 5 2.3. Beweislastumkehr für Vertretenmüssen, § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB 5 3. Darlegungs- und Beweislastverteilung bei nosokomialen Infektionen 6 3.1. Gesetzliche Beweiserleichterung des § 630h BGB in der Regel nicht anwendbar 6 3.2. Rolle des § 23 Abs. 3 Satz 2 IfSG 7 3.3. Darlegungserleichterungen für Patienten in der jüngeren Rechtsprechung 8 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 4 1. Einleitung Die folgende Darstellung wird auf die Frage nach der Darlegungs- und Beweislast im Arzthaftungsrecht eingehen. Hierbei soll ein besonderer Schwerpunkt auf sog. „nosokomiale Infektionen “ gelegt werden, d.h. Infektionen im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt. 2. Die Darlegungs- und Beweislast im Arzthaftungsprozess Im deutschen Zivilprozess trägt grundsätzlich jede Partei, welche den Eintritt einer Rechtsfolge geltend macht, die Darlegungs-1 und Beweislast für die Voraussetzungen des ihr günstigen Rechtssatzes.2 Dieser Grundsatz gilt auch im Arzthaftungsrecht: Der Patient, welcher einen Kunstfehler des behandelnden Arztes geltend macht, hat insbesondere das Vorliegen eines Behandlungsfehlers und die Kausalität der Pflichtverletzung für die erlittenen Schäden darzulegen3 und zu beweisen.4 Das bereitet dem Anspruchsteller, welcher für gewöhnlich nicht über medizinisches Fachwissen verfügt und keinen Einblick in die Organisationsstruktur eines Krankenhauses oder Praxisbetriebs hat, regelmäßig große Schwierigkeiten.5 Deshalb hat die Rechtsprechung im Laufe der Zeit Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten entwickelt.6 Die wichtigsten dieser richterrechtlichen Grundsätze hat der Gesetzgeber mit der Einführung7 des § 630h Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)8 in Gesetzesform gegossen.9 Zwar gilt die Regelung nur für Behandlungsverträge i.S.d. § 630a BGB, jedoch sind die Grundsätze auch im außervertraglichen Deliktsrecht anwendbar.10 1 Die Darlegungslast folgt grundsätzlich der Beweislast, siehe Bacher, in: Vorwerk/Wolf (Hrsg.), BeckOK ZPO, 40. Edition, Stand: 01.03.2021, § 284 Rn. 84. 2 Bacher, in: Vorwerk/Wolf (Hrsg.), BeckOK ZPO, 40. Edition, Stand: 01.03.2021, § 284 Rn. 72. 3 Lorz, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19.2.2019 – VI ZR 505/17 (OLG Celle), Medizinrecht (MedR) 2019, 652 m.w.N. 4 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 630h Rn. 7 m.w.N. 5 Katzenmeier, in Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK BGB, 58. Edition, Stand: 01.05.2021, § 630h Rn. 10. 6 Einen Überblick zur Rechtsprechung bietet Müller, Beweislast und Beweisführung im Arzthaftungsprozeß, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1997, 3049. 7 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.2.2013 (BGBl. I S. 277). 8 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.1.2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vom 12.5.2021 (BGBl. I S. 1082). 9 Siehe Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/10488, S. 27; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 630h Rn. 4. 10 Kern/Reuter, Haftung für Hygienemängel – unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung und des Patientenrechtegesetzes, MedR 2014, 785 (787 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 5 Neben Regelungen zur Einwilligung (§ 630h Abs. 2 BGB) und Dokumentation (§ 630h Abs. 3 BGB) sowie zu dem Spezialfall der mangelnden fachlichen Befähigung des Behandelnden (§ 630h Abs. 4 BGB) sind vor allem § 630h Abs. 1 BGB und § 630h Abs. 5 BGB von Bedeutung. 2.1. Beweislastumkehr für Vorliegen eines Behandlungsfehlers, § 630h Abs. 1 BGB Gemäß § 630h Abs. 1 BGB wird ein Fehler des Behandelnden vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zu einer Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat. Ein voll beherrschbares Risiko liegt vor, „wenn die Schadensursache dem Organisationsbereich des Behandelnden […] zuzuordnen ist und weder aus der Sphäre des Patienten stammt noch dem Kernbereich ärztlichen Handelns zuzurechnen ist.“11 2.2. Beweislastumkehr für Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die entstandene Schädigung , § 630h Abs.5 BGB § 630h Abs. 5 BGB enthält eine Beweislastumkehr im Hinblick auf die Kausalität bei groben Behandlungsfehlern , wenn diese grundsätzlich geeignet waren, die aufgetretene Verletzung hervorzurufen . Ein grober Behandlungsfehler liegt dann vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.12 2.3. Beweislastumkehr für Vertretenmüssen, § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB Weiteres Tatbestandsmerkmal für die vertragliche Haftung der Behandlungsseite ist ein Vertretenmüssen (§ 276 BGB) für den Behandlungsfehler (bzw. ein Verschulden im Rahmen der deliktischen Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB13). Gemäß der Gesetzesbegründung kommt der Patient allerdings bei diesem Nachweis in den Genuss der Beweislastumkehr des § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB.14 Das wird in der Literatur kontrovers diskutiert.15 Jedoch weisen Kern/Reuter daraufhin, 11 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 630h Rn. 26. 12 Ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), siehe nur BGH, Beschluss vom 7.11.2017 – Az. VI ZR 173/17, NJW 2018, 309 Rn. 13; BGH, Urteil vom 25.10.2011 – Az. VI ZR 139/10, NJW 2012, 227 Rn.8; BGH, Urteil vom 20.9.2011 – Az. VI ZR 55/09, NJW 2011, 3442 Rn.10. 13 Vertragliche und deliktische Haftung führen in aller Regel zum selben Ergebnis, sodass haftungsrechtlich regelmäßig nicht mehr zwischen beiden Haftungsformen unterschieden wird, siehe Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (8). 14 BT-Drs. 17/10488, S. 28. 15 Siehe nur Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Auflage 2021, Kapitel XI. Rn. 135-146; Wagner , in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 630h Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 6 dass dieser dogmatische Streit im Ergebnis keine Rolle spiele, weil das Vorliegen eines Behandlungsfehlers ohnehin auch ein subjektives Verschulden des Behandelnden indiziere.16 3. Darlegungs- und Beweislastverteilung bei nosokomialen Infektionen Besonderheiten ergeben sich bei den sog. „nosokomialen Infektionen“. § 2 Nr. 8 Infektionsschutzgesetz (IfSG)17 definiert die nosokomiale Infektion als „eine Infektion […], die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht […]“. Aus medizinischer Sicht kann nämlich nicht jede nosokomiale Infektion auf mangelnde Hygieneverhältnisse zurückgeführt werden, weil absolute Keimfreiheit im Krankenhaus nicht gewährleistet werden kann.18 Vielmehr können sich Infektionen auch ohne jedes Fehlverhalten des behandelnden Klinikums ergeben, etwa wenn sie durch körpereigene Erreger des Patienten ausgelöst werden („endogene Infektion“).19 Das macht den Nachweis eines Fehlverhaltens für den geschädigten Patienten regelmäßig schwierig, weil das deutsche Recht keine Haftung für eine nach medizinischen Maßstäben unvermeidbare Infektion kennt.20 3.1. Gesetzliche Beweiserleichterung des § 630h BGB in der Regel nicht anwendbar Hinzu kommt, dass die bereits dargestellten gesetzlichen Beweiserleichterungen des § 630h BGB nur in Ausnahmefällen anwendbar sind: Die Vermutung des § 630h Abs. 1 BGB setzt voraus, dass sich in der Infektion ein voll beherrschbares Risiko verwirklicht hat. Bezogen auf nosokomiale Infektionen ist nötig, dass die Infektion aus einem hygienisch beherrschbaren Bereich hervorgegangen ist.21 Hierzu gehören etwa die 16 Kern/Reuter, Haftung für Hygienemängel – unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung und des Patientenrechtegesetzes, MedR 2014, 785 (787); ausdrücklich auch Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 630h Rn. 9 („das Verschulden ist mit der Feststellung eines Behandlungsfehlers gegeben“); vgl. auch BGH, Urteil vom 17.3.1981 – Az. VI ZR 191/79, NJW 1981, 1603 (1606). 17 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Art. 1 Zweites Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze vom 28.5.2021 (BGBl. I S. 1174). 18 Lorz, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19.2.2019 – VI ZR 505/17 (OLG Celle), MedR 2019, 652 m.w.N. 19 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (3). 20 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (4). 21 BGH, Urteil vom 20.3.2007 – Az. VI ZR 158/06, NJW 2007, 1682 Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 7 Reinheit des benutzten Desinfektionsmittels22, die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit 23 oder die vermeidbare Keimübertragung durch an der Behandlung beteiligte Personen.24 Jedoch muss der Patient darlegen und beweisen, dass die Infektion aus einem dieser hygienisch voll beherrschbaren Bereiche herrührt, um in den Genuss der Beweiserleichterung zu kommen, was ihm aus eigener Kenntnis in der Regel nicht möglich ist.25 Ähnliches gilt für die Kausalitätsvermutung nach § 630h Abs. 5 BGB. Zwar kann es auch im hygienischen Bereich zu groben Behandlungsfehlern kommen, etwa wenn ein Arzt vor einer Injektion seine Hände nicht desinfiziert26 oder wenn ein Katheter verwendet wird, dessen Verfallsdatum bereits vor Jahren abgelaufen ist.27 Jedoch gilt auch hier, dass der Patient die entsprechende Darlegung und ggf. Beweiserbringung regelmäßig nicht aus eigener Kenntnis oder Wahrnehmung erbringen kann.28 3.2. Rolle des § 23 Abs. 3 Satz 2 IfSG Eine Beweiserleichterung folgt auch nicht aus der gesetzlichen Vermutung des § 23 Abs. 3 Satz 2 IfSG. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 IfSG haben Krankenhausleiter sicherzustellen, „dass die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um nosokomiale Infektionen zu verhüten […]“. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 IfSG wird die Einhaltung dieses Standes (widerleglich)29 vermutet, wenn die veröffentlichten Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut (§ 23 Abs. 1 IfSG) und der Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie beim Robert-Koch-Institut (§ 23 Abs. 2 IfSG) beachtet worden sind. Zwar wird vertreten, dass diese gesetzliche Vermutung auch bei der zivilrechtlichen Haftung eine Beweislastregel darstelle.30 Jedoch bringt die Regelung keine Beweiserleichterung für den 22 BGH, Beschluss vom 16.8.2016 – Az. VI ZR 634/15, NJW – Rechtsprechungs-Report Zivilrecht (NJW-RR) 2016, 1360 Rn. 6 m.w.N. 23 BGH, Beschluss vom 16.8.2016 – Az. VI ZR 634/15, NJW-RR 2016, 1360 Rn. 6 m.w.N. 24 BGH, Beschluss vom 16.8.2016 – Az. VI ZR 634/15, NJW-RR 2016, 1360 Rn. 6 m.w.N. 25 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (13). 26 OLG Düsseldorf, Urteil vom 4.6.1987 – Az. 8 U 113/85, NJW 1988, 2307. 27 OLG Köln, Urteil vom 30.1.2002 – Az. 5 U 106/01, Neue Juristische Online-Zeitschrift (NJOZ) 2003, 272 (273). 28 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (15). 29 Kern/Reuter, Haftung für Hygienemängel – unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung und des Patientenrechtegesetzes, MedR 2014, 785 (786). 30 Kern/Reuter, Haftung für Hygienemängel – unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung und des Patientenrechtegesetzes, MedR 2014, 785 (786); Lorz, Kampf gegen Krankenhauskeime: Das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze, NJW 2011, 3397 (3399). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 8 Patienten, sondern vielmehr für den Krankenhausträger mit sich, welcher sich durch den Nachweis der Beachtung der genannten Empfehlungen entlasten kann.31 Selbst wenn der Leiter eine Empfehlung nicht beachtet, führt dies nämlich nicht dazu, dass ein Verstoß gegen den Stand der Wissenschaft vermutet würde.32 Vielmehr steht dem Leiter bei Abweichen oder sogar Unterschreiten der Empfehlungen der Nachweis offen, den Stand der Wissenschaft auf anderem Wege eingehalten zu haben.33 3.3. Darlegungserleichterungen für Patienten in der jüngeren Rechtsprechung Der Patient befindet sich nach dem Gesagten in einer prozessualen Notlage: Er verfügt regelmäßig weder über die nötigen medizinischen Fachkenntnisse noch Einblicke in die innerbetrieblichen Organisationsstrukturen von Krankenhäusern oder Arztpraxen, um einen Behandlungsfehler durch mangelhafte Hygiene konkret darlegen oder beweisen zu können.34 Der Krankenhausbetreiber als Gegenpartei kann die nötigen Kenntnisse und Unterlagen hingegen unschwer beschaffen .35 Diesem Informationsgefälle trägt die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zunehmend Rechnung, indem der ärztlichen Seite eine weitgehende sekundäre Darlegungslast auferlegt wird.36 Hiernach sind an den primären Vortrag des Patienten nur sehr maßvolle Anforderungen zu stellen.37 Es reicht aus, dass der Patient eine Sachlage vorträgt, welche die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens der Behandlungsseite gestattet.38 Der Vortrag muss insbesondere keine 31 Lorz, Kampf gegen Krankenhauskeime: Das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze , NJW 2011, 3397 (3399). 32 Harney, in: Kießling (Hrsg.), Infektionsschutzgesetz: IfSG, 1. Auflage 2020, § 23 Rn. 46. 33 Aligbe, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), BeckOK Infektionsschutzrecht, 5. Edition, Stand: 01.05.2021, § 23 Rn. 19; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, 5. Auflage 2021, § 23 Rn. 13; Lorz, Kampf gegen Krankenhauskeime: Das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze, NJW 2011, 3397 (3399 f.). 34 Lorz, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19.2.2019 – VI ZR 505/17 (OLG Celle), MedR 2019, 652; Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (17). 35 Lorz, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19.2.2019 – VI ZR 505/17 (OLG Celle), MedR 2019, 652. 36 BGH, Urteil vom 19.2.2019 – Az. VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467; BGH, Beschluss vom 16.8.2016, Az. VI ZR 634/15, NJW-RR 2016, 1360. 37 BGH, Urteil vom 19.2.2019 – Az. VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467 Rn. 15. 38 BGH, Urteil vom 19.2.2019 – Az. VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467 Rn. 18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 9 konkreten Anhaltspunkte für einen Hygieneverstoß enthalten.39 Letztlich ist es damit ausreichend , wenn der Patient einen Hygieneverstoß pauschal behauptet.40 Eine Grenze ist erst dann erreicht, wenn der Vortrag ohne greifbare Anhaltspunkte ins Blaue hinein erfolgt.41 Genügt der klägerische Vortrag diesen geringen Anforderungen, greift für die Gegenseite die sekundäre Darlegungslast: „Die Behandelndenseite hat dann konkret zu den von ihr getroffenen Maßnahmen zur Hygienesicherstellung und zur Infektionsprävention bezogen auf den infizierten Patienten vorzutragen, beispielsweise durch Vorlage der Desinfektions- und Reinigungspläne sowie der betreffenden Hausanordnungen und des Hygieneplans, sowie gegebenenfalls dazu, dass die konkrete Infektion nicht durch einen Hygienemangel bedingt sein kann. Kommt sie dem nicht nach, gilt der – pauschale – Vortrag der Patientenseite als zugestanden.“42 Durch die Preisgabe dieser Informationen sieht sich der Patient sodann in die Lage versetzt, detailliert zu dem behaupteten Hygieneverstoß vortragen und nötigenfalls Beweis antreten zu können .43 Gleiches gilt auch für die Kausalität des Verstoßes für die Infektion: Es genügt der pauschale Vortrag , dass die nosokomiale Infektion auf den (vermuteten) Hygienemangel zurückzuführen sei.44 Auf nur eine mögliche Schadensursache muss sich der Patient nicht festlegen, weil von ihm keine naturwissenschaftlichen und medizinischen Kenntnisse verlangt werden können.45 Die Behandlungsseite muss daraufhin im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast detailliert vortragen, um ein Zugestehen der Kausalität zu verhindern.46 39 BGH, Urteil vom 19.2.2019 – Az. VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467 Rn. 19. 40 Lorz, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19.2.2019 – VI ZR 505/17 (OLG Celle), MedR 2019, 652. 41 Lorz, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19.2.2019 – VI ZR 505/17 (OLG Celle), MedR 2019, 652 (653). 42 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (20) m.w.N. 43 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (21). 44 BGH, Urteil vom 19.2.2019 – Az. VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467 Rn. 22; Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (18). 45 BGH, Urteil vom 19.2.2019 – Az. VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467 Rn. 22. 46 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (22). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 056/21 Seite 10 Aufgrund dieser patientenfreundlichen Rechtsprechung wird in der Literatur vertreten, dass eine bisweilen politisch47 und rechtswissenschaftlich48 geforderte weitere Beweiserleichterung für die Patientenseite nicht nötig sei.49 *** 47 Siehe etwa Beschluss der Justizministerkonferenz vom 9.11.2017 zu TOP I.6, abrufbar unter: https://www.justiz .nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2017/Herbstkonferenz-2017/TOP-I_-6.pdf (zuletzt abgerufen am: 02.06.2021). 48 Zur Diskussion über eine Reduzierung des Beweismaßes im Arzthaftungsprozess siehe Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Auflage 2021, Kapitel XI. Rn. 157-166. 49 Bollweg/Wächter, Die Haftung für nosokomiale Infektionen aufgrund von Hygienemängeln, in: Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Dieter Hart, 2020, S. 1 (22); kritisch gegenüber Eingriffen in das „ausdifferenzierte und austarierte System der Beweislastverteilung“ wohl auch Katzenmeier, Darlegungs- und Beweislast bei nosokomialen Infektionen, MedR 2020, 900 (902).