© 2020 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 054/20 Mietrechtliche Fragen im Kontext der Covid-19-Pandemie Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 2 Mietrechtliche Fragen im Kontext der Covid-19-Pandemie Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 054/20 Abschluss der Arbeit: 06.05.2020 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. § 536 BGB 5 3. § 313 BGB 7 3.1. Nachrangigkeit von § 313 BGB 7 3.2. Reales Element 8 3.3. Hypothetisches Element 9 3.4. Normatives Element 9 3.5. Rechtsfolge 10 4. Verwertung von Mietsicherheiten und Verzugszinsen 10 5. Vermieterpfandrecht 11 6. Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 4 1. Einleitung Infolge der Covid-19-Pandemie wurden Verfügungen und Verordnungen erlassen, die zahlreiche Gewerbebetriebe zwingen, ihre Geschäfte zu schließen, was teilweise zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen für diese führt.1 Mit dem Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (im Folgenden „COVID-19-Gesetz“)2 wurden auch Regelungen zur Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen geschaffen: Nach Art. 240 § 2 Abs. 1 Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB)3 kann der Vermieter ein Mietverhältnis über Grundstücke oder über Räume nicht allein aus dem Grund kündigen, dass der Mieter im Zeitraum vom 1. April 2020 bis 30. Juni 2020 trotz Fälligkeit die Miete nicht leistet , sofern die Nichtleistung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht. Im Folgenden soll zunächst erörtert werden, inwieweit Gewerbemieter, die von den Schließungsmaßnahmen betroffen sind und daher ihr Geschäft nicht betreiben können, unter Berufung auf § 536 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)4 (2.) oder § 313 BGB (3.) Mietzahlungen verweigern können. Weiterhin soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit ein Vermieter wegen im nach Art. 240 § 2 Abs. 1 Satz 1 EGBGB festgelegten Zeitraum nicht gezahlter Miete auf eine Mietsicherheit zugreifen kann, sofern die Nichtzahlung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht; dabei soll auch eine etwaige Pflicht des Mieters beleuchtet werden, Verzugszinsen für im eben angesprochenen Zeitraum aufgelaufene Mietschulden nach §§ 288, 247 BGB zu zahlen, sofern wiederum die Mietschulden auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruhen (4.). Weiterhin wird auf die Frage eingegangen, ob wegen eines Vermieterpfandrechts für Forderungen auf Mietzahlung, die im nach Art. 240 § 2 Abs. 1 Satz 1 EGBGB festgelegten Zeitraum aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht beglichen wurden, ein Herausgabeanspruch nach §§ 1231, 1257 und 1228 BGB geltend gemacht werden kann. Im Hinblick auf die folgenden Ausführungen soll betont werden, dass stets die Regelungen des jeweiligen Mietvertrags zu beachten sind und letztlich eine Einzelfallbetrachtung auch bezüglich 1 Auswirkungen der Corona-Krise auf die Pflicht zur Mietzahlung, Artikel vom 19.03.2020, abrufbar unter https://www.noerr.com/de/newsroom/news/auswirkungen-der-corona-krise-auf-die-pflicht-zur-mietzahlung, letzter Abruf – auch für alle weiteren Internetlinks – 06.05.2020. 2 Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente /Bgbl_Corona-Pandemie.pdf?__blob=publicationFile&v=1. 3 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1994 (BGBl. I S. 2494; 1997 I S. 1061), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 569) geändert worden ist. 4 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. März 2020 (BGBl. I S. 541) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 5 der Interessen der Mietvertragsparteien zu erfolgen hat, die zu abweichenden Ergebnissen führen kann. 2. § 536 BGB Grundsätzlich besteht für Mieter gemäß § 535 Abs. 2 BGB die Pflicht zur Entrichtung der Miete. Möglicherweise sind aber die Gewerbemieten für Mieter, die von den Schließungsmaßnahmen betroffen sind und ihr Geschäft nicht betreiben können, nach § 536 Abs. 1 BGB gemindert. 2.1. Mangel Hat die Mietsache zur Zeit der Überlassung an den Mieter einen Mangel, der ihre Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt, oder entsteht während der Mietzeit ein solcher Mangel, so ist der Mieter nach § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB für die Zeit, in der die Tauglichkeit aufgehoben ist, von der Entrichtung der Miete befreit. Für die Zeit, während der die Tauglichkeit gemindert ist, hat er nach § 536 Abs. 1 Satz 2 BGB nur eine angemessen herabgesetzte Miete zu entrichten. Ein Mangel besteht „bei einer für den Mieter nachteiligen Abweichung“ des Ist-Zustands von dem vertraglich geschuldeten Soll-Zustand der Mietsache, wobei tatsächliche Umstände und rechtliche Verhältnisse einen Mangel begründen können.5 Dabei sollen „öffentlich-rechtliche Gebrauchshindernisse und – beschränkungen“ einen Sachmangel darstellen, „wenn sie unmittelbar auf der konkreten Beschaffenheit der Mietsache beruhen und ihre Ursache nicht in persönlichen oder betrieblichen Umständen des Mieters haben“.6 Gebrauchsbeschränkungen durch hoheitliche Maßnahmen „könnten daher nur dann einen Mangel begründen, wenn sie unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage der konkreten Mietsache in Zusammenhang stehen“.7 Das Verwendungsrisiko soll aber grundsätzlich der Mieter tragen.8 Hierzu wird vertreten, die Schließungsmaßnahmen aufgrund der Covid-19-Pandemie seien nicht unmittelbar auf die konkrete Beschaffenheit der Mietsache zurückzuführen, sondern knüpften an den Betrieb an.9 Die Maßnahmen stellten „auf die Nutzungsart“ und nicht „die konkreten baulichen Gegebenheiten ab“.10 Teilweise wird die Auffassung vertreten, eine Betriebsuntersagung für Gaststätten nach § 2 Abs. 2 Satz 1 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich 5 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171; vgl. in Bezug auf einen Pachtvertrag BGH, Urteil vom 13.07.2011, Az. XII ZR 189/09, NJW 2011, 3151 Rn 8. 6 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171; vgl. auch in Bezug auf einen Pachtvertrag BGH, Urteil vom 13.07.2011, Az. XII ZR 189/09, NJW 2011, 3151 Rn 8. 7 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171; vgl. in Bezug auf einen Pachtvertrag BGH, Urteil vom 13.07.2011, Az. XII ZR 189/09, NJW 2011, 3151 Rn 9. 8 Vgl. BGH, Urteil vom 16.02.2000, Az. XII ZR 279/97, NJW 2000, 1714, 1716; Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171, 1172. 9 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171; auch Warmuth hält § 536 BGB nicht für einschlägig, vgl. zur Begründung Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete , COVuR 2020, 16, 17. 10 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 6 der Corona-Pandemie (BayIfSMV)11 knüpfe „an die Mietsache selbst an und“ treffe diese unmittelbar .12 2.2. Ausschluss der Anwendbarkeit? Selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, dass aufgrund der Schließungsmaßnahmen ein Mangel an der Mietsache vorliege, stellt sich die Frage, ob die Regelungen des Art. 240 §§ 1-4 EGBGB nicht die spezielleren Vorschriften darstellen und insoweit die Geltendmachung des Mangels ausschließen sollen. Als Argument für einen solchen Ausschluss wird teilweise angeführt, dass die Begründung des Entwurfs des COVID-19-Gesetzes in Bezug auf die Kündigungsbeschränkung des Art. 240 § 2 EGBGB Folgendes ausführt: „Die Verpflichtung der Mieter zur Zahlung der Miete bleibt im Gegenzug im Grundsatz bestehen“ (Bundestags-Drucksache 19/18110, S. 18).13 Es sei der gesetzgeberische Wille erkennbar, dass im Mietrecht lediglich die Kündigungsbeschränkung den in wirtschaftlicher Not befindlichen Personen zu Hilfe kommen solle.14 „Ein allgemeines pandemiebedingtes Leistungsverweigerungsrecht“ sei wohl vom Gesetzgeber nicht gewollt und die Ablehnung eines solchen Rechts vertretbar.15 Dagegen könnte beispielsweise angeführt werden , dass der Gesetzgeber eine Kündigungsbeschränkung bei Mietverträgen schaffen wollte, aber sich aus dem Entwurf des COVID-19-Gesetzes in Bezug auf die Möglichkeit zur Geltendmachung von Mängeln zumindest nicht explizit der Wille zur Änderung (sofern man grundsätzlich vom Vorliegen eines Mangels ausgeht) ergibt.16 Weiterhin könnte argumentiert werden, die Regelung des Art. 240 § 1 EGBGB über Leistungsverweigerungsrechte nach Art. 240 § 1 Abs. 4 Nr. 1 EG- BGB gelte gerade nicht im Zusammenhang mit Mietverträgen im Sinne des Art. 240 § 2 EGBGB.17 11 Bayerische Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie vom 27. März 2020, abrufbar unter https://www.verkuendung-bayern.de/baymbl/2020-158/. 12 Krepold, in: Gewerbemietverträge in Zeiten der Corona-Pandemie, WM 2020, 726, 730. 13 Drygala, in: Corona und ausbleibende Gewerbemieten, Handelt Adidas juristisch vertretbar?, Legal Tribune Online -Artikel vom 30.03.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/adidas-deichmanncorona -gewerbe-miete-april-aussetzung-vertrag/. 14 Drygala, in: Corona und ausbleibende Gewerbemieten, Handelt Adidas juristisch vertretbar?, Legal Tribune Online -Artikel vom 30.03.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/adidas-deichmanncorona -gewerbe-miete-april-aussetzung-vertrag/. 15 Drygala, in: Corona und ausbleibende Gewerbemieten, Handelt Adidas juristisch vertretbar?, Legal Tribune Online -Artikel vom 30.03.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/adidas-deichmanncorona -gewerbe-miete-april-aussetzung-vertrag/. 16 Vergleiche zur ähnlichen Argumentation in Bezug auf die Anwendbarkeit von § 313 BGB 3.1. dieses Sachstands sowie Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 17 Drygala, in: Corona und ausbleibende Gewerbemieten, Handelt Adidas juristisch vertretbar?, Legal Tribune Online -Artikel vom 30.03.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/adidas-deichmanncorona -gewerbe-miete-april-aussetzung-vertrag/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 7 3. § 313 BGB Sofern man § 536 BGB nicht für einschlägig hält, könnten die von den Schließungsmaßnahmen betroffenen Mieter unter Umständen nach § 313 Abs. 1 BGB eine Anpassung des Vertrages verlangen . Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann nach § 313 Abs. 1 BGB Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. 3.1. Nachrangigkeit von § 313 BGB Zu beachten ist, dass mietvertragliche Regelungen und eine ergänzende Vertragsauslegung gegenüber einer Anwendung des § 313 BGB Vorrang haben.18 Sollte ein Mietvertrag beispielsweise eine Verlagerung des Verwendungsrisikos auf den Vermieter vorsehen, wäre diese Regelung zu beachten.19 Die Anwendung des § 313 BGB könnte auch ausgeschlossen sein, da § 313 BGB grundsätzlich gegenüber anderen gesetzlichen Regelungen nachrangig sein soll.20 Als vorrangige Regelungen kommen die Vorschriften des COVID-19-Gesetzes in Betracht.21 Wiederum könnte angeführt werden , es enthalte in Bezug auf Mietverträge zwingende Vorschriften zur Risikoverteilung (vgl. insbesondere Art. 240 § 2 EGBGB).22 Das Moratorium des Art. 240 § 1 EGBGB ist nach Art. 240 § 1 Abs. 4 Nr. 1 EGBGB gerade nicht auf Mietverträge anzuwenden. Es wird argumentiert, Mieter seien nach der gesetzgeberischen Entscheidung „nicht berechtigt, dieses Leistungsverweigerungsrecht geltend zu machen“ und „im Grundsatz“ (vgl. auch Bundestags-Drucksache 19/18110, S. 18) weiterhin zur Zahlung verpflichtet.23 Dagegen wird wiederum angeführt, dass der Gesetzgeber durch Art. 240 § 2 EGBGB den Mieter vor einer Kündigung schützen wollte.24 Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergebe sich nicht, 18 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171. 19 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171, 1172. 20 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 21 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 22 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 23 Vgl. zu dieser Argumentation auch Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 24 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172; auch Warmuth geht (wohl zumindest bei Mietverhältnissen) von einer Anwendbarkeit von § 313 BGB neben Art. 240 EGBGB aus, vgl. Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 17. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 8 dass dem Gesetzgeber eine Ausschlusswirkung in Bezug auf § 313 BGB bewusst war.25 Dabei wird auch die kurze Erarbeitungszeit in Bezug auf das Gesetz betont.26 3.2. Reales Element Sofern man grundsätzlich von einer Anwendbarkeit des § 313 BGB ausgeht, müssten sich Umstände , die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben. Man könnte vertreten, die COVID-19-Pandemie stelle grundsätzlich (vorbehaltlich einer Einzelfallprüfung) eine „schwerwiegende Änderung von Umständen“ dar, „die zur Geschäftsgrundlage geworden sind“.27 Teilweise wird zwischen der großen und der kleinen Geschäftsgrundlage unterschieden. Die große Geschäftsgrundlage soll die Erwartung umfassen, „dass sich die grundlegenden politischen , wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen des Vertrags nicht etwa durch Revolution , Krieg, Vertreibung, Hyperinflation oder eine (Natur-)Katastrophe ändern, dass die Sozialexistenz nicht erschüttert werde“.28 In allen anderen Fällen, wenn also nur die Umstände des konkreten Vertrages betroffen sind, greife die kleine Geschäftsgrundlage.29 Hier könnte erwogen werden, bei der COVID-19-Pandemie die große Geschäftsgrundlage als betroffen anzusehen, da eine Nähe zu Naturkatastrophen oder kriegsähnlichen Zuständen vorliege .30 Allerdings wird vertreten, dass § 313 BGB nicht herangezogen werden könne, um eine „allgemeine Not“, die „durch wirtschaftliche oder soziale Katastrophen“ hervorgerufen wird sowie die damit einhergehenden Probleme zu lösen.31 Es wird teilweise angenommen, dass für die Möglichkeit einer Vertragsanpassung nach § 313 Abs. 1 BGB zusätzlich zur Situation der COVID- 19-Pandemie „Umstände hinzukommen“ müssten, „die einen konkreten Bezug zu der Vertragspartei haben“, welche sich auf den Wegfall der „Geschäftsgrundlage berufen möchte“.32 Das sei der Fall, sofern zur COVID-19-Pandemie eine „Betroffenheit durch Stilllegungsverfügung […] oder anderweitige direkte Betroffenheit infolge staatlicher Maßnahmen“ hinzutrete.33 25 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 26 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 27 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 17. 28 Finkenauer, in: Limperg/Oetker/Rixecker/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 313 Rn 17. 29 Finkenauer, in: Limperg/Oetker/Rixecker/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 313 Rn 17. 30 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 18. 31 Grüneberg, in: Palandt (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 78. Auflage 2019, § 313 Rn 5. 32 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 18. 33 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 9 Mitunter wird in der Literatur in Bezug auf die COVID-19-Pandemie vertieft auf Fallgruppen der Äquivalenzstörung, der Leistungserschwerung, des hoheitlichen Eingriffs und der Störung des Verwendungszwecks eingegangen, wobei vertreten wird, dass vorliegend wohl eine Dauerhaftigkeit der Störung der Geschäftsgrundlage erforderlich sei.34 3.3. Hypothetisches Element Ob die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.35 3.4. Normatives Element Inwieweit einem Teil das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann, ist ebenfalls unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen.36 Nach der Rechtsprechung ist „für eine Berücksichtigung der Regelungen über die Störung der Geschäftsgrundlage […] grundsätzlich insoweit kein Raum, als es um Erwartungen und um Umstände geht, die nach den vertraglichen Vereinbarungen in den Risikobereich einer der Parteien fallen sollen“.37 Der Mieter trägt jedoch grundsätzlich das Verwendungsrisiko im Hinblick auf die Mietsache, was bei gewerblicher Miete auch die Unsicherheit umfasst, Gewinne erwirtschaften zu können.38 Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Orientierung „an der vertraglichen Risikoverteilung “ für eine „Anwendbarkeit von § 313 BGB“39 soll wohl nach der Rechtsprechung für extreme Ausnahmefälle gelten, „in denen eine unvorhergesehene Entwicklung mit unter Umständen existenziell bedeutsamen Folgen für eine Partei eintritt“.40 Teilweise wird in der Literatur eine mögliche konkretisierende Auslegung dahingehend aufgezeigt, dass die „eingetretenen Umstände […] deutlich über das hinausgehen, was die Parteien als übliche Verantwortungsbereiche definiert haben, und zwar so, dass vernünftigerweise keine der Vertragsparteien es akzeptiert 34 Schiewek/Weidt, in: Geschäftsschließungen wegen Corona – mietrechtlich ein Fall des § 313 BGB?, NJOZ 2020, 481, 483, 484. 35 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 19. 36 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 19. 37 BGH, Urteil vom 23.10.2019, Az. XII ZR 125/18, NJW 2020, 331, 334 Rn 37; Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 19. 38 BGH, Urteil vom 21.09.2005, Az. XII ZR 66/03, NJW 2006, 899, 901 Rn 30; Freigang/Kluth, in: Wirtschaftliches Risiko und Äquivalenzstörung - Zum Wegfall der Geschäftsgrundlage bei langfristigen Gewerberaummietverträgen , NZM 2006, 41, 42, 43. 39 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 19. 40 BGH, Urteil vom 23.10.2019, Az. XII ZR 125/18, NJW 2020, 331, 334 Rn 37; BGH, Urteil vom 16.02.2000 , Az. XII ZR 279/97, NZM 2000, 492, 495; Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete , COVuR 2020, 16, 19. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 10 hätte, hierfür qua Vertrag oder Gesetz das Risiko zu tragen“.41 Ob der Fall, dass Gewerbebetriebe wegen Schließungsmaßnahmen aufgrund der COVID-19-Pandemie ihr Geschäft nicht betreiben können, von dieser Ausnahme umfasst sein soll, ist eine Wertungsfrage und dürfte einzelfallabhängig zu entscheiden sein; diese Frage wird in der Literatur aber wohl teilweise bejaht42. Weiterhin wird vertreten, dass im Rahmen der Frage, ob einem Teil das Festhalten am Vertrag „nicht zugemutet werden kann“, auch geprüft werden müsse, inwieweit es dem Mieter zuzumuten ist, sich trotzdem Einnahmequellen – beispielsweise durch das Anbieten von „Essen to go“ bei Restaurants – zu schaffen.43 3.5. Rechtsfolge Sofern man § 313 Abs. 1 BGB für anwendbar und dessen Voraussetzungen für gegeben hält, kann nach § 313 Abs. 1 BGB grundsätzlich eine Vertragsanpassung verlangt werden. Welchen Inhalt diese hat, dürfte jedoch einzelfallabhängig zu entscheiden sein. In Betracht kommt beispielsweise eine Reduzierung der Miethöhe.44 Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil bei Dauerschuldverhältnissen nach § 313 Abs. 3 BGB kündigen. 4. Verwertung von Mietsicherheiten und Verzugszinsen Es stellt sich die Frage, inwieweit der Vermieter wegen im nach Art. 240 § 2 Abs. 1 Satz 1 EGBGB festgelegten Zeitraum nicht gezahlter Miete auf eine Mietsicherheit zugreifen kann, sofern die Nichtzahlung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht. Die Mietsicherheit ist in § 551 BGB geregelt. Die Inanspruchnahme der Mietsicherheit setzt den „Verzug der gesicherten Forderung voraus“.45 Hierzu führt die Begründung des Entwurfs des COVID-19-Gesetzes in Bezug auf die Einschränkung der Kündigungsmöglichkeit von Mietverhältnissen aus: „Unberührt bleiben die allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Fälligkeit und des Verzugs, die weiterhin auf die Miet- und Pachtforderungen während der Geltung des Gesetzes anwendbar sind. Dies hat zur Folge, dass Mieter und Pächter 41 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 20. 42 Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 20. 43 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172. 44 Vgl. zum möglichen Inhalt einer Vertragsanpassung Schiewek/Weidt, in: Geschäftsschließungen wegen Corona – mietrechtlich ein Fall des § 313 BGB?, NJOZ 2020, 481, 484; Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1172; Warmuth, in: § 313 BGB in Zeiten der Corona-Krise – am Beispiel der Gewerberaummiete, COVuR 2020, 16, 20. 45 Moeser, in: Lindner-Figura/Oprée/Stellmann (Hrsg.), Geschäftsraummiete, 4. Auflage 2017, Kapitel 12. Sicherung des Vermieters Rn 74; Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1173. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 11 ihre Forderungen weiterhin fristgerecht leisten müssen und bei nicht fristgerechter Leistung gegebenenfalls in Verzug geraten“ (Bundestags-Drucksache 19/18110, S. 18). In der Literatur wird vertreten, dass sich ein Mieter bei nicht fristgerechter Zahlung „grundsätzlich in Verzug“ befinde (vgl. beispielsweise zur Entbehrlichkeit einer Mahnung §§ 286 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 556b Abs. 1, § 579 BGB).46 Zumindest ist der Eintritt des Verzugs in Bezug auf Mietzahlungsforderungen wohl nicht aufgrund der Regelungen des Art. 240 § 1 - § 4 EGBGB ausgeschlossen . Solange das Mietverhältnis besteht, wird vertreten, dass „vorbehaltlich anderweitiger (wirksamer) vertraglicher Regelungen“ der Vermieter nur wegen unbestrittener, „zumindest nicht ernsthaft“ strittiger (beziehungsweise jedenfalls offensichtlich begründeter)47 oder titulierter Ansprüche Befriedigung aus der Kaution suchen dürfe.48 Für den Fall, dass ein Mieter im nach Art. 240 § 2 Abs. 1 Satz 1 EGBGB festgelegten Zeitraum die Miete nicht gezahlt hat und die Nichtleistung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht, sind auch gemäß §§ 288, 247 BGB Verzugszinsen zu zahlen, sofern der Verzug eingetreten ist.49 Wie bereits ausgeführt, schließen die Regelungen des Art. 240 § 1 - § 4 EGBGB den Eintritt des Verzugs wohl nicht generell aus. 5. Vermieterpfandrecht Dem Vermieter steht für Forderungen auf Mietzahlung ein Pfandrecht nach § 562 Abs. 1 Satz 1 BGB an den eingebrachten Sachen des Mieters zu. Voraussetzung für einen Herausgabeanspruch zum Zwecke des Verkaufs ist nach § 1231 Satz 1 und § 1257 BGB der Eintritt der Verkaufsberechtigung . Nach § 1228 Abs. 2 Satz 1 BGB ist der Pfandgläubiger zum Verkauf berechtigt, sobald die Forderung ganz oder zum Teil fällig ist. Wie bereits dargelegt, soll nach der Begründung des Entwurfs des COVID-19-Gesetzes „die Verpflichtung der Mieter zur Zahlung der Miete“ trotz der eingeschränkten Kündigungsmöglichkeit „im Grundsatz bestehen“ und die Regelungen des BGB „der Fälligkeit und des Verzugs“ im Hinblick auf Mietforderungen anwendbar bleiben (Drucksache 19/18110, S. 18). Insoweit ist zumindest nicht ohne Weiteres erkennbar, dass die Regelungen des Art. 240 §§ 1-4 EGBGB abweichende Vorschriften in Bezug auf die Geltendmachung des Herausgabeanspruchs wegen eines Vermieterpfandrechts für Forderungen auf Mietzahlungen enthalten , die im nach Art. 240 § 2 Abs. 1 Satz 1 EGBGB festgelegten Zeitraum aufgrund der Covid-19- Pandemie nicht beglichen wurden. 46 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1173. 47 Flatow, in: Mieters Anspruch auf Rückgewähr der Kaution, NZM 2020, 1, 10; LG Mannheim, Urteil vom 20.03.1996, Az. 4 S 123/95, NJWE-MietR 1996, 219, 220; AG Hamburg-Altona, Urteil vom 17.09.2012, Az. 314a C 28/12, BeckRS 2013, 211. 48 Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1173; Flatow, in: Mieters Anspruch auf Rückgewähr der Kaution, NZM 2020, 1, 10; LG Mannheim, Urteil vom 20.03.1996, Az. 4 S 123/95, NJWE-MietR 1996, 219, 220; AG Hamburg-Altona, Urteil vom 17.09.2012, Az. 314a C 28/12, BeckRS 2013, 211. 49 Vgl. auch Sittner, in: Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1173, 1174. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 054/20 Seite 12 6. Fazit Ob Gewerbemieter, die von den Schließungsmaßnahmen betroffen sind und daher ihr Geschäft nicht betreiben können, unter Berufung auf § 536 BGB oder § 313 BGB Mietzahlungen verweigern dürfen, bleibt fraglich. Die Regelungen des Art. 240 §§ 1-4 EGBGB dürften in Bezug auf Mietschulden, die im nach Art. 240 § 2 Abs. 1 EGBGB festgelegten Zeitraum aufgrund der CO- VID-19-Pandemie auflaufen, eine Inanspruchnahme von Mietsicherheiten durch den Vermieter, einen Anspruch auf Verzugszinsen sowie einen auf einem Vermieterpfandrecht gründenden Herausgabeanspruch zum Zwecke des anschließenden Verkaufs wohl nicht generell ausschließen. ***