© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 053/19 Zur Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 2 Zur Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 053/19 Abschluss der Arbeit: 27. März 2019 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bauund Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zum Begriff des Gefangenen 4 3. Die Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung de lege lata 4 3.1. Strafbarkeit der gewaltsamen Gefangenenselbstbefreiung 4 3.2. Die Strafbarkeit der gewaltlosen Gefangenenselbstbefreiung 5 4. Die Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung de lege ferenda 6 4.1. Die historischen Wurzeln der Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung 6 4.1.1. Frühere Regelungen 6 4.1.2. Neufassung durch das EGStGB 7 4.2. Zur Begründung der Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung 8 4.2.1. Rechtsprechung der Strafgerichte 8 4.2.2. Abweichende Ansätze im Schrifttum 8 4.2.3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 9 5. Fazit 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 4 1. Einleitung Gegenstand der Ausarbeitung sind die strafrechtlichen Sanktionen für den Fall, dass sich ein Gefangener selbst befreit, entweicht oder sich auf sonstige Weise dem staatlichen Gewahrsam entzieht (im Folgenden: Gefangenenselbstbefreiung). 2. Zum Begriff des Gefangenen Entscheidend für die Reichweite der §§ 120, 121 Strafgesetzbuch (StGB)1 ist der Begriff des Gefangenen . Gefangener ist, wem zum Zweck der Ahndung einer Verfehlung rechtswirksam die Freiheit entzogen wurde. Dies setzt das Bestehen einer rechtswirksamen Haftanordnung voraus, die zumindest formal ordnungsgemäß zustande gekommen, aber nicht unbedingt materiell zu Recht ergangen sein muss. Erforderlich ist außerdem die Begründung eines amtlichen Gewahrsamsverhältnisses über den Betroffenen.2 Umstritten ist, inwieweit das amtliche Gewahrsamsverhältnis auch für die Zeit weitgehender Vollzugslockerungen fortbesteht. Daran soll es nach verbreiteter Auffassung fehlen, wenn ein Mindestmaß an Überwachung des Betroffenen unterschritten wird. Dies soll bei Urlaub, Freigang, offenem Vollzug und unbeaufsichtigtem Ausgang der Fall sein.3 3. Die Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung de lege lata 3.1. Strafbarkeit der gewaltsamen Gefangenenselbstbefreiung Wer im Rahmen einer Gefangenenselbstbefreiung (weitere) Straftaten verübt, macht sich ihretwegen strafbar.4 Die Stellung des Täters als Gefangener stellt keinen Rechtsfertigungsgrund dar, der Straftaten etwa nach den §§ 223 ff, 239 ff., 303 StGB rechtfertigen würde.5 Etwaige Tötungs-, Körperverletzungs - und Sachbeschädigungsdelikte können mit der Gefangenmeuterei nach § 121 1 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.11.1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Art. 14 des Gesetzes vom 18.12.2018 (BGBl. I S. 2639), abrufbar unter http://www.gesetze-im-internet .de/stgb/BJNR001270871.html (letzter Abruf: 27.03.2019). 2 Dallmeyer, in: Beck´scher Online-Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 120 Rn. 3. 3 Dallmeyer, in: Beck´scher Online-Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 120 Rn. 4. Ähnlich Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 14. 4 Wienhausen, Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 1. So auch schon Mayer, Die Befreiung von Gefangenen, Leipzig 1906, S. 12. 5 Dies gilt selbst für die gewaltlose Gefangenenbefreiung gemäß § 120 StGB, deren Rechtfertigung gemäß § 34 StGB nach Dallmeyer, in: Beck´scher Online-Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 120 Rn. 11 nur in seltenen Ausnahmefällen – etwa der Freipressung von Gefangenen durch Geiselnahmen – in Betracht kommen kann. Selbst für einen solchen Ausnahmefall verneinend Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 5 StGB in Tateinheit stehen.6 Auch eine Mitnahme von Anstaltskleidung im Rahmen des § 120 StGB ist strafbar.7 Die gewaltsame Gefangenenselbstbefreiung als solche wird unter bestimmten Umständen durch § 121 StGB als Gefangenenmeuterei bestraft. Tauglicher Täter kann nur ein Gefangener sein.8 Für die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes müssen sich mindestens zwei9 Gefangene zusammenrotten und mit vereinten Kräften bestimmte nötigende oder gewaltsame Handlungen begehen . 3.2. Die Strafbarkeit der gewaltlosen Gefangenenselbstbefreiung § 120 StGB stellt die Gefangenenbefreiung unter Strafe. Die Selbstbefreiung wird hiervon nicht umfasst.10 Ein Gefangener kann daher nicht Täter einer seine eigene Befreiung betreffenden Tat sein. In welchem Umfang er Teilnehmer sein kann, ist im Einzelfall umstritten. So wird eine Strafbarkeit erst dann bejahrt, wenn der Gefangene mehr tue, als zum Gelingen des eigenen Entweichens erforderlich sei.11 Straflos soll es dagegen sein, wenn Gefangene ohne Gewaltanwendung gemeinschaftlich fliehen und sich dabei gegenseitig lediglich die für die eigene Selbstbefreiung nützliche oder für erforderlich gehaltene Hilfe leisten.12 Die Anstiftung eines Mitgefangenen soll im gleichen Umfang straflos sein, die eines Dritten dagegen sei strafbar, wenn dieser sich nicht an der Flucht beteiligt.13 Da die Strafvereitelung in Selbstbegünstigungsabsicht gemäß § 258 Abs. 5 StGB straflos ist, kommt eine Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung auch unter diesem Aspekt nicht in Betracht . 6 Dallmeyer, in: Beck´scher Online-Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 121 Rn. 10. 7 Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 31. 8 Dallmeyer, in: Beck´scher Online-Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 121 Rn. 2. 9 BGH, Urteil vom 10. 12. 1965, Az. 4 StR 578/65, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1966, 555; Dallmeyer, in: Beck´scher Online-Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 121 Rn. 3. 10 Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 31. 11 Reichsgericht, Urteil vom 22. 11. 1926, Az. II 788/26, Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt) 61, 31; BGH, Gutachten vom 21. 04. 1952, Az. VRG 5/52, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGHSt) 4, 396; BGH, Urteil vom 20. 07. 1962, Az. 4 StR 485/61, NJW 1962, 2260; Dallmeyer, in: Beck´scher Online -Kommentar zum StGB, 41. Edition, Stand: 01.02.2019, § 120 Rn. 14. 12 BGH, Beschluss vom 20. 07. 1962, Az. 4 StR 485/61, NJW 1962, 2260. Ähnlich Diekmann, Das Entweichen Gefangener , Bonn 1964, S. 42. 13 Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 6 4. Die Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung de lege ferenda 4.1. Die historischen Wurzeln der Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung 4.1.1. Frühere Regelungen Die Normengeschichte zeigt, dass die Straflosigkeit der gewaltlosen Selbstbefreiung des Gefangenen eine lange Tradition hat.14 Im römischen Recht war sie allerdings wohl strafbar.15 Für das germanische Recht ist eine Strafbarkeit nicht nachweisbar.16 Die Constitutio Criminalis Carolina (CCC)17 kennt die Strafbarkeit der gewaltlosen Gefangenenselbstbefreiung nicht.18Teils wurde allerdings unter Rückgriff auf das römische Recht bestraft.19 Die einfache Gefangenenbefreiung wurde allerdings milde bestraft.20 Im 18. Jahrhundert wurde weitgehend faktisch eine Straflosigkeit der Gefangenenbefreiung erreicht.21 Auch den neuen Partikularrechtsgesetzbüchern war die Strafbarkeit fremd.22 Unter weitgehender Übernahme der Regelungen des preußischen Strafrechts fand die Straflosigkeit auch Eingang in das Reichsstrafgesetzbuch.23 Strafbar war die Selbstbefreiung dagegen nach dem Militärrecht.24 14 Vgl. Mayer, Die Befreiung von Gefangenen, Leipzig 1906, S. 2.; Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, Berlin 1991, S. 187. 15 Wienhausen, Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 13. Siehe hierzu auch Hofmann: Die Gefangenenbefreiung in ihren historischen Grundlagen sowie in rechtsvergleichender und dogmatischer Darstellung, Darmstadt 1903, S. 5. 16 Wienhausen, Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 19. 17 Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 war das erste allgemeine Strafgesetzbuch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, vgl. Dams, in: Möllers, Wörterbuch der Polizei, 3. Auflage 2018, Stichwort: Constitutio Criminalis Carolina (CCC). Vgl. hierzu auch die Online Enzyklopädie Wikipedia: https://de.wikipedia .org/wiki/Constitutio_Criminalis_Carolina. 18 Vgl. Hofmann, Die Gefangenenbefreiung in ihren historischen Grundlagen sowie in rechtsvergleichender und dogmatischer Darstellung, Darmstadt 1903, S. 26; Mayer, Die Befreiung von Gefangenen, Leipzig 1906, S. 2.; Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, Berlin 1991, S. 187. 19 Hofmann, Die Gefangenenbefreiung in ihren historischen Grundlagen sowie in rechtsvergleichender und dogmatischer Darstellung, Darmstadt 1903, S. 27. 20 Hofmann, Die Gefangenenbefreiung in ihren historischen Grundlagen sowie in rechtsvergleichender und dogmatischer Darstellung, Darmstadt 1903, S. 16. 21 Hofmann, Die Gefangenenbefreiung in ihren historischen Grundlagen sowie in rechtsvergleichender und dogmatischer Darstellung, Darmstadt 1903, S. 27. 22 Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, Berlin 1991, S. 187; Wienhausen , Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 42. 23 Vgl. Mayer, Die Befreiung von Gefangenen, Leipzig 1906, S. 1. 24 § 79 des Militärstrafgesetzbuches vom 20. 06. 1872, RGBl. I S. 174. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 7 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde in zwei Bundesländern eine Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung eingeführt.25 Dies gilt zum einen für das bayerische Gesetz Nr. 55 „zur Bestrafung der Entweichung von Gefangenen“ vom 26.10.1946 (GVBl 1947, 11). Der BGH hat unter Berufung auf die Gleichheit vor dem Gesetz und mit Verweis auf die Regelung der Straflosigkeit durch Reichs- und Bundesrecht das Gesetz für ungültig erachtet.26 Eine weitere Regelung fand sich in Württemberg-Baden (Gesetz Nr. 21 zur Ergänzung der bestehenden Strafgesetze vom 20. 11. 1945, RegBl für Württemberg-Baden 1946, 2 ff.).27 In der ehemaligen DDR war dagegen die Selbstbefreiung in § 237 Abs. 1 StGB ausdrücklich mit Strafe bedroht.28 4.1.2. Neufassung durch das EGStGB Art. 19 Nr. 45 EGStGB29 fasste die Vorschriften wegen Gefangenenbefreiung und Gefangenenmeuterei neu. Die Reform bewirkte eine Ausweitung der Strafbarkeit. Namentlich wurde durch die Begehungsform des Verleitens zum Entweichen die Anstiftung zur Selbstbefreiung unter Strafe gestellt.30 Eine weitere Erstreckung der Strafbarkeit auf die Gefangenenselbstbefreiung wurde im Entwurf 1962, auf den der Gesetzgeber Bezug nahm,31 mit der Begründung abgelehnt, dass es ein in der allgemeinen Rechtsüberzeugung verwurzelter Grundsatz sei, das ein dem natürlichen Freiheitsdrang des Menschen entspringendes Verhalten nicht unter Strafandrohung gestellt werden solle.32 25 Dazu Siegert, Die Gefangenenbefreiung, Juristenzeitung (JZ) 1973, 308 (309). 26 BGH, Gutachten vom 21.04.1952, Az. VRG 5/52, Entscheidungssammlung BGHSt 4, 396. 27 Siehe dazu BGH, Gutachten vom 21. 04. 1952, Az. VRG 5/52, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGHSt) 4, 396 sowie Wienhausen: Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 45. 28 Vgl. Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, Berlin 1991, S. 187. 29 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 02.03.1974 (BGBl. I S. 469; 1975 I S. 1916; 1976 I S. 507), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 11. 06. 2017 (BGBl. I S. 1612), abrufbar unter http://www.gesetze -im-internet.de/stgbeg/BJNR004690974.html (Letzter Abruf: 27.03.2019). 30 Dazu Siegert: Die Gefangenenbefreiung, Juristenzeitung (JZ), 308 (309); Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, §120 Rn. 5. 31 Dazu Wienhausen, Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 48. 32 BT-Drucks. 04/650, S. 610, abrufbar unter http://dip21.bundestag.btg/dip21/btd/04/006/0400650.pdf (Letzter Abruf: 27.03.2019). Siehe auch Wienhausen, Die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung, Berlin 2012, S. 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 8 4.2. Zur Begründung der Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung 4.2.1. Rechtsprechung der Strafgerichte Das RG hat ausgeführt, die Straflosigkeit der Selbstbefreiung des Gefangenen im deutschen Strafrecht beruhe darauf, dass "das Gesetz hiernach aus humanen Beweggründen dem Freiheitsdrang eines Menschen glaubte Rücksicht schenken zu sollen".33 Ein Hinweis auf einschlägige Gesetzesmaterialien erfolgte in dem Urteil des Reichsgerichts nicht. Dieser Interpretation ist der BGH gefolgt .34 Diesem Argumentationstopos haben sich auch Stimmen in der Literatur angeschlossen. 35 Mayer nennt die Straflosigkeit eine „Errungenschaft humaner Bestrebungen“.36 4.2.2. Abweichende Ansätze im Schrifttum Von Bosch ist angeführt worden, das Rechtsgut des § 120 StGB – das abweichend von der h. M. auch mit Richtung auf das staatliche Vollzugsziel definiert werden müsse37 – lasse zwar Eingriffe in die Freiheit des Gefangenen zu, könne aber von diesem selbst nicht verletzt werden.38 Die Straflosigkeit sei daher eine „normtheoretische“ Folge.39 Einem weiteren Ansatz zufolge gibt die Regelung der Gefangenenselbstbefreiung einen Hinweis auf „den Zustand des jeweiligen Verständnisses vom Verhältnis zwischen Individuum und Staat (…) Während eine vornehmlich liberal orientierte, auf Belange des einzelnen Individuums verstärkt Rücksicht nehmende Strafrechtsordnung der Gefangenenselbstbefreiung eher mit Nachsicht begegnen wird, ist der Pönalisierung der Selbstbefreiung ein autoritär-etatistischer Zug kriminalpolitischen Denkens eigen. (…) Die konkrete Ausgestaltung des § 120 StGB kann somit als Bekenntnis zu einer humanen und liberalen Strafrechtsordnung verstanden werden .“40 33 Reichsgericht (RG), Urteil vom 29. 11. 1880 - 2826/80, Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt) 3, 140. 34 BGH, Beschluss vom 20. 07. 1962 - 4 StR 485/61 Az. 4 StR 485/61, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1962, 2260. 35 Mayer, Die Befreiung von Gefangenen, Leipzig 1906, S. 12; Diekmann: Das Entweichen Gefangener, Bonn 1964, S. 116. Ähnlich Ostendorf, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Kommentar zum StGB, 5. Auflage 2017, § 120 Rn. 1. 36 Mayer, Die Befreiung von Gefangenen, Leipzig 1906, S. 12. 37 Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 1. 38 Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 31. 39 Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 120 Rn. 31. 40 Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, Berlin 1991, S. 188. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 9 Teilweise wird auch mit der (fehlenden) Tauglichkeit von zusätzlicher Strafe argumentiert.41 Dass repressive Maßnahmen nach der Wiederergreifung von Erfolg gekrönt sind, wird mit Verweis auf die Praxis bezüglich Disziplinarstrafen bestritten.42 Eine Kriminalstrafe sei dagegen tauglicher , präventiv zu wirken. 43 Daraus leitet Diekmann ab, dass eine Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung zu erwägen sei.44 Schließlich erscheint die Regelung des § 120 StGB Ostendorf als Ausfluss des Selbstbegünstigungsprinzips .45 Dieses beruhe auf der Respektierung der in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG)46 geschützten Menschenwürde. 47 Das natürliche Bestreben des Menschen, Strafleid von sich abzuwehren , dürfe nicht zum Anknüpfungspunkt neuerlicher Bestrafung werden.48 4.2.3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG hat sich in einer den Beischlaf unter Geschwistern (§ 173 Abs. 2 Satz 2) betreffenden Entscheidung zum kriminalpolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers allgemein wie folgt geäußert: „Es ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Er ist bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei.“49 Mit der Frage der Strafbarkeit der Gefangenenbefreiung hat sich das BVerfG bisher nicht auseinander gesetzt. 41 Dazu Diekmann, Das Entweichen Gefangener, Bonn 1964, S. 116. 42 Diekmann, Das Entweichen Gefangener, Bonn 1964, S. 113. 43 Diekmann, Das Entweichen Gefangener, Bonn 1964, S. 113. 44 Diekmann, Das Entweichen Gefangener, Bonn 1964, S. 116 f. 45 Ostendorf, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Kommentar zum StGB, 5. Auflage 2017, § 120 Rn. 1; ders., Das Verbot einer strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Ahndung der Gefangenenselbstbefreiung, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2007, 313 (314). 46 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 13.07.2017 (BGBl. I S. 2347), abrufbar unter http://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html (Letzter Abruf: 27.03.2019). 47 Ostendorf., Das Verbot einer strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Ahndung der Gefangenenselbstbefreiung , Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2007, 313 (316). 48 Ostendorf, Das Verbot einer strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Ahndung der Gefangenenselbstbefreiung , Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2007, 313 (316). 49 BVerfG, Beschluss vom 26. 02. 2008, Az. 2 BvR 392/07, NJW 2008, 113 (1138). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 053/19 Seite 10 5. Fazit Das geltende Recht lässt die gewaltlose Gefangenenselbstbefreiung im Grundsatz straflos und stellt lediglich die Teilnahme an der Befreiung durch Dritte unter im Einzelnen umstrittenen Voraussetzungen unter Strafe. Dies steht im Einklang mit einer bis in die frühe Neuzeit zurückreichenden Rechtstradition. Eine Pönalisierung fand dagegen im Militärrecht des Kaiserreiches, in der DDR sowie kurzzeitig nach dem zweiten Weltkrieg in zwei westdeutschen Landesrechten statt. Zurückgehend auf die Judikatur des RG, wird die Straflosigkeit der Gefangenenselbstbefreiung häufig als humane Rücksichtnahme auf den natürlichen Freiheitsdrang gedeutet. Weitere Stimmen in der Literatur sehen in der Straflosigkeit den Ausdruck eines liberalen Staatsverständnisses sowie die Respektierung der grundgesetzlich geschützten Menschenwürde. Im Hinblick auf die Wertungswidersprüche im StGB hinsichtlich Täterschaft und Teilnahme an der Gefangenenbefreiung, dürfte ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf zumindest einer rechtspolitischen Überprüfung zugänglich sein. Bei einem weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum wohl auch in dieser Frage, können die entstehungsgeschichtlichen Überlegungen der straflosen Gefangenenselbstbefreiung nicht unberücksichtigt bleiben. Der Strafvollzug hat sich seither , insbesondere nach 1949 grundlegend im Hinblick auf bspw. Zuchthäuser, Anspruch auf Resozialisierung , Freigang usw. im Zuge eines liberalen Staatsverständnisses erheblich verändert. Die straflose Gefangenenbefreiung könnte einen derartigen Strafvollzug als zweifelhaft erscheinen lassen. Hierbei kommen vor allem generalpräventive und Gesichtspunkte der Gefahrenabwehr zum Tragen. ***