© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 050/19 Die Vergabe von Rettungsdienstleistungen nach § 107 GWB Einzelfragen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 2 Die Vergabe von Rettungsdienstleistungen nach § 107 GWB Einzelfragen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 050/19 Abschluss der Arbeit: 28. März 2019 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Regelungskontext 4 2. Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein, dass die zu vergebenden Dienstleistungen im Sinne des § 107 GWB von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen „erbracht werden“? 4 3. Verhältnis zum EU-Primärrecht 6 3.1. Kann eine Freistellung gemäß § 107 GWB auch zu einer Befreiung von der Anwendung primärrechtlicher Grundsätze, wie z. B. Transparenz und Chancengleichheit führen? 6 3.2. Kann eine Freistellung der Vergabe von Rettungsdienstleistungen von den Anforderungen des Primärrechts aus Artikel 106 Absatz 2 AEUV herzuleiten sein? 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 4 1. Regelungskontext § 107 Absatz 1 Nr. 4 GWB1 legt fest, dass Teil 4 des GWB – Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen – nicht nicht anzuwenden ist auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen zu Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr , die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die Referenznummern des Common Procurement Vocabulary 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung fallen. Gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen in diesem Sinne seien „insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.“ 2. Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein, dass die zu vergebenden Dienstleistungen im Sinne des § 107 GWB von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen „erbracht werden“? Weder in der Kommentarliteratur noch in den Gesetzgebungsmaterialien zu § 107 GWB wird der Formulierung „erbracht werden“ ein eigenständiger Tatbestandsgehalt dergestalt zugeschrieben, dass damit zum Ausdruck gebracht würde, dass gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen bereits vor dem konkreten Vergabevorgang entsprechende Dienstleistungen angeboten oder durchgeführt haben müssten. Dies spricht dafür, dass sich der insofern von den Nummern 1-3 des § 107 Absatz 1 GWB abweichende Sprachgebrauch schlicht daraus erklärt, dass nur in Nummer 4 mit den „gemeinnützigen Organisatzionen oder Vereinigungen“ ein bestimmtes Subjekt genannt wird und deshalb die alleinige Nennung der Dienstleistung nicht hinreicht, sondern sprachlich abgebildet werden soll, dass die Dienstleistung gerade durch das genannte Subjekt erfolgt – bzw. eben „erbracht“ wird.2 Im Ergebnis bezöge sich die Formulierung „erbracht werden“ damit allein auf die konkret infrage stehende vergebene bzw. zu vergebende Dienstleistungskonzession. 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 10 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) geändert worden ist. 2 Auf diesen bedeutenden Konstruktionsunterschied weist auch Gurlit hin: „Gänzlich anders ist hingegen § 107 Abs. 1 Nr. 4 konzipiert. Mit der Ausnahme von Rettungsdienstleistungen, die durch gemeinnützige Organisationen erbracht werden, wird diese Gruppe vor dem vergaberechtlichen Wettbewerb geschützt. Mit diesem Schutzzweck ist § 107 Abs. 1 Nr. 4 ein Fremdkörper im System der Ausnahmen.“ (Gurlit, in: Beck'scher Vergaberechtskommentar , Band 1: GWB 4. Teil, 3. Auflage 2017, § 107 GWB Rn. 6). So auch Antweiler: „Im System des Vergaberechts ist dieser Ausnahmetatbestand schon deshalb ein Fremdkörper, weil er nicht bezweckt, dem Auftraggeber ausnahmsweise die freie Auswahl des Vertragspartners zu gestatten, sondern vielmehr darauf abzielt, einer bestimmten Gruppe von Leistungserbringern den an sich vorgeschriebenen Vergabewettbewerb zu ersparen “ (Antweiler, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Auflage 2018, § 107 GWB Rn. 40). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 5 Für diese Lesart spricht auch die Genese des mit § 107 Absatz 1 Nr. 4 GWB umgesetzten europäischen Rechts. Der insoweit maßgebliche Artikel 10 Absatz 8 lit. g der Richtlinie 2014/23/EU3 lautet : „Diese Richtlinie gilt nicht für Dienstleistungskonzessionen, die Folgendes zum Gegenstand haben: (…) Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr , die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die folgenden CPV-Nummern fallen: 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung;“4 Die hier interessierende Formulierung „erbracht werden“ ist identisch mit der Formulierung in § 107 GWB, die Umsetzung erfolgte also 1:1. Im englischen Text der Richtlinie lautet die fragliche Passage: „This Directive shall not apply to service concessions for: (…) civil defence, civil protection, and danger prevention services that are provided by non-profit organisations or associations, and which are covered by CPV codes: 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 and 85143000-3 except patient transport ambulance services;“5 In der Ursprungsfassung des Richtlinienentwurfs war die Ausnahme zugunsten von Dienstleistungen des Katastrophen- und Zivilschutzes noch nicht enthalten.6 Erst im Laufe des europäischen Rechtssetzungsverfahrens wurde diese Ausnahme vorgeschlagen und – im damals noch einschlägigen Artikel 8 – noch ohne Bezug auf den Erbringer der Dienstleistung bzw. den Empfänger der Konzession wie folgt formuliert: „7. This Directive shall not apply to […] concessions for: (ga) civil defence, civil protection, and hazard prevention;“7 Im Rahmen der sogenannten Trilog-Verhandlungen wurde sodann der finale Kompromisstext formuliert , der im einschlägigen Artikel 10 Buchstabe ga) die vorliegend interessierende Ergänzung 3 RICHTLINIE 2014/23/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe (Text von Bedeutung für den EWR), Amtsblatt der Europäischen Union L 94/1 vom 28.03.2014. 4 Hervorhebung nicht im Original. 5 Hervorhebung nicht im Original. 6 Vgl. Artikel 8, Proposal for a DIRECTIVE OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL on the award of concession contract, 20.12.2011, COM(2011) 897 final, 2011/0437 (COD) (abrufbar unter https://eurlex .europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52011PC0897&from=EN). 7 Ratsdok. 10131/13 vom 27.05.2013, S. 119 (abrufbar unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST- 10131-2013-INIT/en/pdf). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 6 – „are provided“ – enthielt, wonach Dienstleistungen von entsprechenden Organisationen erbracht werden: „This Directive shall not apply to public service contracts for: (…) (ga) civil defence, civil protection , and danger prevention services that are provided by non-profit organisations or associations, and which fall under the following CPV codes: 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8; 98113100-9; 85143000-3 except patient transport ambulance services;“8 Damit erfolgte in dem Moment des Rechtssetzungsverfahrens, wo das Erfordernis des Bezugs auf die fraglichen Organisationen aufgenommen wurde, auch die Aufnahme der Wendung „erbracht werden“. In den Erläuterungen zu der erfolgenden Einengung auf bestimmte Leistungserbringer heißt es hierzu: „The proposed solution for civil defence is to exclude from the scope of the directives certain emergency services where these services are to be provided by non-profit organisations or associations“9 Dies belegt, dass gerade die konkreten, zu vergebenden Dienstleistungen erfasst werden sollen, hinsichtlich welcher die vergaberechtliche Beurteilung erfolgt, und die durch die gemeinnützigen Organisationen in der Zukunft erbracht werden sollen. Die Formulierung „provided by“ bzw. „erbracht werden“ zielt damit offenbar gerade nicht darauf ab, ein zusätzliches Erfordernis eines bereits etablierten, vorhandenen entsprechenden Tätigseins, Anbietens oder dergleichen durch die fragliche Organisation zu errichten. Die Genese der Ausnahmebestimmung des Artikel 10 Absatz 8 lit. g der Richtlinie 2014/23/EU, auf der § 107 GWB insoweit wortlautidentisch beruht, stützt somit den obigen Befund, dass der Wortlaut des § 107 Absatz 1 Nr. 4 GWB dahingehend zu verstehen ist, dass sich die Formulierung „erbracht werden“ lediglich auf die konkret infrage stehende zu vergebende bzw. vergebene Dienstleistung bezieht. 3. Verhältnis zum EU-Primärrecht 3.1. Kann eine Freistellung gemäß § 107 GWB auch zu einer Befreiung von der Anwendung primärrechtlicher Grundsätze, wie z. B. Transparenz und Chancengleichheit führen? Ist der Auftrag eines öffentlichen Auftraggebers nach § 107 GWB vom Kartellvergaberecht ausgenommen , kann der Auftrag zwar grundsätzlich völlig freihändig vergeben werden.10 Nach der 8 Ratsdok. 12167/13 vom 10.07.2013, S. 220 f. (abrufbar unter https://data.consilium.europa .eu/doc/document/ST-12167-2013-INIT/en/pdf). Hervorhebung nicht im Original. 9 Ratsdok. 11644/13 vom 26.06.2013, S. 4 (abrufbar unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST- 11644-2013-INIT/en/pdf ). Hervorhebung nicht im Original. 10 Schellenberg, in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Auflage 2019, § 107 GWB Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 7 Rechtsprechung des EuGH kann allerdings auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Kartellvergaberechts eine Binnenmarktrelevanz gegeben sein, was dazu führen kann, dass aus europarechtlichen Gründen grundlegende Anforderungen an die Vergabe öffentlicher Aufträge – wie eine angemessene Veröffentlichung, nicht diskriminierende Produkt- oder Dienstleistungsanforderungen sowie angemessene Fristen –beachtet werden müssen.11 Hingewiesen wird auch darauf, dass „aus dem Telos der Bereichsausnahme für Bevölkerungsschutzleistungen … keine Gründe erkennbar [sind], warum wegen der Ausnahme vom Sekundärvergaberecht auch die primärrechtlichen Grundsätze nicht gelten sollten“12. Ausweislich der Kommentarliteratur zu § 107 GWB, mit dem wie gesehen die im EU-Sekundärrecht enthaltenen Ausnahmen umgesetzt13 wurden, gilt insofern: „Greift ein Ausnahmetatbestand gem. § 107 oder nach einer der besonderen Ausnahmen und ist Teil 4 des GWB damit nicht anwendbar, können für die Auswahlentscheidung andere Normen zu beachten sein. In Frage kommen bei grenzüberschreitendem Bezug insbesondere die primärrechtlichen Grundsätze des Wettbewerbs, der Gleichbehandlung und der Transparenz (EuGH EuZW 2013, 189 Rn. 23 – Locale di Lecce; NZBau 2011, 50 Rn. 29 – Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen; NZBau 2009, 797 Rn. 38 f. – Se.T.Co.; EuZW 2006, 415 Rn. 18 – ANAV; EuZW 2005, 727 Rn. 46 ff. – Parking Brixen;; Müller-Wrede/Aicher KompVergR Kap. 11 Rn. 4; Ziekow VergabeR 2007, 711, 719; aA – Ausnahmetatbestände immer von EU-Anforderungen befreit – HK-VergabeR/Schellenberg § 100 GWB Rn. 4). Weiter in Betracht kommen Vorgaben aus den Grundrechten (allein Art. 3 I GG: BVerfG NVwZ 2009, 835, 836; ZfBR 2008, 816; NVwZ 2006, 1396, 1400), dem Haushaltsrecht (HK-VergabeR/Schellenberg § 100 GWB Rn. 3; KKPP/Röwekamp Rn. 7) oder dem Beihilfenrecht (→ Rn. 20, → Rn. 47).“14 3.2. Kann eine Freistellung der Vergabe von Rettungsdienstleistungen von den Anforderungen des Primärrechts aus Artikel 106 Absatz 2 AEUV15 herzuleiten sein? Die vergabrechtlichen Ausnahmetatbestände des EU-Sekundärrechts in Artikel 10 Absatz 8 der Richtlinie 2014/23/EU sind grundsätzlich eng auszulegen.16 Der Rechtsprechung des EuGH zufolge kann ein Vergabeverfahren bei Vorliegen eines sekundärrechtlichen Ausnahmetatbestands zugleich nach primärvergaberechtlichen Grundsätzen entbehrlich sein.17 11 Schellenberg, in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Auflage 2019, § 107 GWB Rn. 3. 12 Stein/Terbrack, in: BeckOK Vergaberecht, 10. Edition, Stand: 31.01.2019, § 107 GWB Rn. 45. 13 Schellenberg, in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Auflage 2019, § 107 GWB Rn. 9. 14 Stein/Terbrack, in: BeckOK Vergaberecht, 10. Edition, Stand: 31.01.2019, § 107 GWB Rn. 5. 15 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsolidierte Fassung vom (Abl. C 326/47 vom 26.10.2012). 16 Vgl. Erwägungsgrund 36 der Richtlinie 2014/23/EU sowie hierzu Antweiler, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Auflage 2018, § 107 GWB Rn. 40. 17 Stein/Terbrack, in: BeckOK Vergaberecht, 10. Edition, Stand: 31.01.2019, § 107 GWB Rn. 6 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 050/19 Seite 8 * * *