© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 047/21 Einzelfragen zur Straßenverkehrsordnung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 2 Einzelaspekte der Straßenverkehrsordnung Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 047/21 Abschluss der Arbeit: 6. Juli 2021 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Befahren von Fußgängerzonen durch andere Verkehrsarten 4 3. Sicherheitsabstände im Falle des Vorbeifahrens von Kraftfahrzeugen an in § 5 Abs. 4 Satz 3 StVO genannten Verkehrsteilnehmern im Begegnungsverkehr 6 4. Einzelaspekte im Zusammenhang mit der Fahrbahnbreite von Fahrradstraßen 8 5. Erforderliche verbleibende Gehwegbreite bei der Zulassung des Parkens auf Gehwegen nach der VwV-StVO 9 6. Parken unter Beachtung der Fahrbahnbreite 10 7. Einzelaspekte des Opportunitätsprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht 11 8. Der Begriff der Vorfahrt 13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 4 1. Einleitung Nach § 6 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG)1 wird das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ermächtigt, Rechtsverordnungen in Bezug auf einzelne straßenverkehrsrechtliche Bereiche zu erlassen.2 Gestützt auf diese Ermächtigung ist die Straßenverkehrsordnung (StVO)3 erlassen worden, welche Verhaltensvorschriften für Teilnehmer am Straßenverkehr enthält .4 Die StVO wird durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO)5 ergänzt, die „Ausführungsbestimmungen sowie verkehrsrechtliche Begriffsdefinitionen “ beinhaltet.6 Diese ist für Behörden, nicht aber für Gerichte verbindlich.7 Weiterhin wird in der juristischen Literatur hinsichtlich der VwV-StVO ausgeführt: „Immerhin bietet sie […] einen Orientierungsmaßstab für die richterliche Auslegung der Vorschriften der StVO. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer kann die VwV dort sogar eine mittelbare Bindungswirkung entfalten, was zwar ein Abweichen der Gerichte nicht grundsätzlich verbietet , jedoch den dafür gebotenen Begründungsaufwand erhöht.“8 Der folgende Sachstand behandelt vor dem Hintergrund eines Fragenkataloges allgemein und summarisch verschiedene Einzelaspekte im Zusammenhang mit Regelungen der StVO. Dabei werden an verschiedene Stellen auch Vorgaben der VwV-StVO thematisiert. Weiterhin werden einzelne Aspekte des Opportunitätsprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht beleuchtet. 2. Benutzung von Fußgängerzonen durch andere Verkehrsarten Zeichen 242.1 und 242.2 der Anlage 2 (zu § 41 Abs. 1) StVO regeln Beginn und Ende einer Fußgängerzone . Anderer als Fußgängerverkehr darf die Fußgängerzone nach Nr. 1 zu Zeichen 242.1 nicht benutzen. Ist durch Zusatzzeichen die Benutzung einer Fußgängerzone für eine andere Verkehrsart erlaubt, dann gilt gemäß Nr. 2 zu Zeichen 242.1 für den Fahrverkehr Nr. 2 zu Zei- 1 Straßenverkehrsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310, 919), das zuletzt durch Artikel 4 Absatz 9 des Gesetzes vom 7. Mai 2021 (BGBl. I S. 850) geändert worden ist. 2 Freymann, in: Freymann/Wellner (Hrsg.), jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, Stand: 26.11.2018, Einleitung - Grundlagen des Straßenverkehrsrechts Rn. 10. 3 Straßenverkehrs-Ordnung vom 6. März 2013 (BGBl. I S. 367), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 18. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3047) geändert worden ist. 4 Freymann, in: Freymann/Wellner (Hrsg.), jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, Stand: 26.11.2018, Einleitung - Grundlagen des Straßenverkehrsrechts Rn. 11. 5 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) vom 26. Januar 2001 in der Fassung vom 22. Mai 2017 (BAnz AT 29.05.2017 B8). 6 Freymann, in: Freymann/Wellner (Hrsg.), jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, Stand: 26.11.2018, Einleitung - Grundlagen des Straßenverkehrsrechts Rn. 13. 7 Freymann, in: Freymann/Wellner (Hrsg.), jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, Stand: 26.11.2018, Einleitung - Grundlagen des Straßenverkehrsrechts Rn. 13. 8 Freymann, in: Freymann/Wellner (Hrsg.), jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, Stand: 26.11.2018, Einleitung - Grundlagen des Straßenverkehrsrechts Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 5 chen 239 entsprechend. Nach dieser Vorschrift muss die andere Verkehrsart auf den Fußgängerverkehr Rücksicht nehmen. Der Fußgängerverkehr darf nach der Regelung weder gefährdet noch behindert werden. Wenn nötig, muss der Fahrverkehr gemäß Nr. 2 zu Zeichen 239 der Anlage 2 StVO warten; er darf nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren. In diesem Zusammenhang ist zunächst VwV-StVO zu § 45 Rn. 45a zu beachten: Danach ist vor der Anordnung von Verkehrsverboten für bestimmte Verkehrsarten durch Verkehrszeichen, wie insbesondere durch Zeichen 242.1, mit der für das Straßen- und Wegerecht zuständigen Behörde zu klären, ob eine straßenrechtliche Teileinziehung erforderlich ist. Diese ist im Regelfall notwendig , wenn bestimmte Verkehrsarten auf Dauer vollständig oder weitestgehend von dem durch die Widmung der Verkehrsfläche festgelegten verkehrsüblichen Gemeingebrauch ausgeschlossen werden sollen. Nach Angaben in der juristischen Literatur soll Fahrzeugverkehr in Fußgängerzonen „nur ausnahmsweise zugelassen werden, insbesondere als Anlieger- und Anlieferverkehr“.9 Fußgängerzonen seien dementsprechend in straßenrechtlicher Hinsicht als Gehweg gewidmet, wobei ein zeitweiser Lieferverkehr oder Anliegerverkehr zugelassen sein könne.10 Diesbezüglich ist in Bezug auf Anordnungen nach § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 und Nr. 4 StVO durch Zusatzzeichen in Fußgängerbereichen darauf hinzuweisen, dass das Straßenverkehrsrecht keine verkehrsregelnden Maßnahmen erlaubt, welche über die wegerechtliche Widmung hinaus weitere Benutzungs(verkehrs)arten zulassen und somit über Inhalt und Umfang des Widmungszwecks hinausgehen.11 Im Rahmen der Widmung ist auch eine Zulassung des Radverkehrs möglich.12 Die Straßenverkehrsbehörden können gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen unter anderem von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen (Anlage 2 StVO) erlassen sind. Voraussetzung einer solchen Ausnahmegenehmigung ist, dass Gründe vorliegen, welche „gegenüber dem öffentlichen Interesse an den Verboten oder Beschränkungen, von welchen eine Ausnahme erteilt werden soll, überwiegen“.13 In der juristischen Literatur wird in Bezug auf § 46 StVO ausgeführt, (massenhaft erteilte) Ausnahmen dürften nicht zur Folge haben, „dass für ein 9 Kralik, PdK Bu L-13, August 2020, Zweites Kapitel Straßenverkehrs-Ordnung, 52. Kennzeichnung von Fußgängerzonen , 79. 10 Kralik, PdK Bu L-13, August 2020, Zweites Kapitel Straßenverkehrs-Ordnung, 52. Kennzeichnung von Fußgängerzonen , 79. 11 Vgl. BVerwG, Urteil vom 08.09.1993, Az. 11 C 38/92, NJW 1994, 1080; VG Saarlouis, Urteil vom 26.06.2013, Az. 10 K 555/12, BeckRS 2013, 54188; BVerwG, Urteil vom 26.06.1981, Az. 7 C 27/79, NJW 1982, 840, 841. 12 Kralik, PdK Bu L-13, August 2020, Zweites Kapitel Straßenverkehrs-Ordnung, 52. Kennzeichnung von Fußgängerzonen , 79. 13 VG Saarlouis, Urteil vom 26.06.2013, Az. 10 K 555/12, BeckRS 2013, 54188. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 6 ganzes Gebiet Verkehrsregeln suspendiert werden und“ hierdurch „verbotenes Landesrecht geschaffen “ werde.14 Beispielsweise seien flächendeckende Ausnahmen „für alle Ärzte, Handwerker oder sonstige Berufsgruppen“ nicht erlaubt.15 Es sei nicht „Sinn von Freistellungen von Verkehrsverboten […], die gesetzliche Regelung durch eine Ausnahmegenehmigung zu unterlaufen “.16 3. Sicherheitsabstände im Falle des Vorbeifahrens von Kraftfahrzeugen an in § 5 Abs. 4 Satz 3 StVO genannten Verkehrsteilnehmern im Begegnungsverkehr Eine grundsätzliche Pflicht zur Wahrung eines ausreichenden Seitenabstands durch Kraftfahrzeuge bei einem Vorbeifahren an anderen Verkehrsteilnehmern im Begegnungsverkehr dürfte sich aus §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 2 StVO ergeben.17 Nach § 1 Abs. 2 StVO haben sich Verkehrsteilnehmer „so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird“. § 2 Abs. 2 StVO bestimmt, dass „möglichst weit rechts zu fahren“ ist, „nicht nur bei Gegenverkehr, beim Überholtwerden, an Kuppen, in Kurven oder bei Unübersichtlichkeit“. Das OLG Celle ging in seinem Urteil vom 10. April 2018 davon aus, dass „beim Passieren eines anderen Verkehrsteilnehmers“ grundsätzlich ein Seitenabstand von einem Meter ausreichend ist.18 Beispielsweise beim Passieren von Reitern oder Radfahrern genüge ein solcher Abstand allerdings nicht, da mit Schlenkern des Radfahrers oder plötzlichen Reaktionen des Pferdes gerechnet werden müsse.19 In einem solchen Fall sei je nach Einzelfall ein Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 bis ca. zwei Meter einzuhalten.20 Dabei verwies es unter anderem auf ein Urteil des OLG Brandenburg, welches dies für den Fall eines „Überholers“ ausgeführt hatte.21 Weiterhin vertrat das OLG Celle die Ansicht, dass dieser Seitenabstand aufgrund der vergleichbaren Gefahrenlage nicht nur für Überholvorgänge, „sondern auch für ein Vorbeifahren im Begegnungsverkehr “ gelte.22 14 Vgl. Schurig, StVO, Kommentar zur Straßenverkehrsordnung mit VwV-StVO, 16. Auflage 2018, § 46 StVO Anm. 2.3.; Kettler, Segway, NZV 2008, 71, 72; Art. 31 GG. 15 Schurig, StVO, Kommentar zur Straßenverkehrsordnung mit VwV-StVO, 16. Auflage 2018, § 46 StVO Anm. 2.3. 16 Kettler, Segway, NZV 2008, 71, 72. 17 Vgl. OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728, 729 Rn. 20. 18 OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728, 729 Rn. 20. 19 OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728, 729 Rn. 20. 20 OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728, 729 Rn. 20. 21 Vgl. OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728, 729 Rn. 20; OLG Brandenburg, Urteil vom 07.04.2011, Az. 12 U 6/11, NJW-RR 2011, 1400, 1401. 22 OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728, 729 Rn. 20. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 7 Das VG Hannover führte aus, dass „der seitliche Mindestsicherheitsabstand für einen Kraftfahrer, der einen Radfahrer“ überhole, nach der Rechtsprechung einen bis zwei Meter betrage.23 Diesen Abstand müsse ein Kraftfahrer auch zu einem entgegenkommenden Radfahrer gewährleisten.24 Hinsichtlich des einzuhaltenden Seitenabstands zu Fußgängern abseits des Überholens wird aufgrund der vielfältigen verschieden zu bewertenden Sachverhaltsmöglichkeiten auf einschlägige Kommentarliteratur verwiesen.25 In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Gerichte lediglich über Einzelfälle rechtskräftig entscheiden. Insbesondere kann nicht notwendigerweise davon ausgegangen werden, dass bestimmte Konstellationen in Zukunft in einer bestimmten Weise entschieden werden. Bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen entfaltet die gerichtliche Rechtsauslegung – auch die der obersten Fachgerichte wie dem BGH26 – keine formale Bindungswirkung auf spätere gerichtliche Entscheidungen.27 Gleichwohl orientieren sich Gerichte in der Praxis häufig an bestehender Rechtsprechung, insbesondere an derjenigen der oberen Instanzen.28 Nach § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO muss beim Überholen ein ausreichender Seitenabstand zu den anderen Verkehrsteilnehmern eingehalten werden. In diesem Zusammenhang schreibt § 5 Abs. 4 Satz 3 StVO seit dem 28. April 202029 explizit vor, dass der ausreichende Seitenabstand beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von zu Fuß Gehenden, Rad Fahrenden und Elektrokleinstfahrzeug Führenden innerorts mindestens 1,5 Meter und außerorts mindestens zwei Meter beträgt. Aufgrund dieser gesetzlichen Wertung und unter Hinweis auf die oben erwähnten Ausführungen des OLG Celle, insbesondere zur vergleichbaren Gefahrenlage, könnte man vertreten, dass ein Kraftfahrer einen solchen Mindestabstand von 1,5 Metern auch beim innerörtlichen Begegnen eines Radfahrers einhalten muss. Gleiches könnte man aus denselben Gründen auch in Bezug auf Kraftfahrzeuge vertreten, die Elektrokleinstfahrzeug Führenden innerorts begegnen. 23 Vgl. VG Hannover, Urteil vom 17.07.2019, Az. 7 A 7457/17 Rn. 71, juris mit Verweis unter anderem auf Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 11.08.2009, Az. 11 B 08.186 Rn. 84, juris („regelmäßig 1,5 bis 2 m, jedenfalls aber 1 m“). 24 VG Hannover, Urteil vom 17.07.2019, Az. 7 A 7457/17 Rn. 71, juris. 25 Vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Auflage 2021, § 5 StVO Rn. 55, mit Verweis auf § 2 StVO Rn. 41, § 6 StVO Rn. 7, § 20 StVO Rn. 9, § 25 StVO Rn 18. 26 Als Fachgerichte werden alle Gerichte außer den Verfassungsgerichten bezeichnet, vgl. Weber, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 26. Edition 2021, Stichwort „Fachgerichte“. 27 Dies folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dessen Entscheidungen in Ausnahme hiervon grundsätzlich alle Gerichte binden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG), aus dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG), vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.11.1992, Az. 1 BvR 1243/88 Rn. 15, juris. 28 Nachweise bei Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Band 3, Art. 97 Rn. 23 Fußnote 111. 29 Vgl. Art. 1 Nr. 2 und Art. 6 der Vierundfünfzigsten Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20. April 2020 (BGBl. I S. 814). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 8 Die Möglichkeit der Einhaltung der dargelegten Seitenabstände dürfte auch im Falle der Entscheidung über eine Anordnung von Verkehrszeichen nach § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 StVO - eine Rolle spielen (vgl. zu Fahrradstraßen näher Gliederungspunkt 4.).30 Beträgt in Einbahnstraßen die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht mehr als 30 km/h, kann Radverkehr in Gegenrichtung nach VwV-StVO zu Zeichen 220 Rn. 4-7 unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden. Erforderlich ist danach unter anderem, dass eine ausreichende Begegnungsbreite vorhanden ist, ausgenommen an kurzen Engstellen; bei Linienbusverkehr oder bei stärkerem Verkehr mit Lastkraftwagen muss diese mindestens 3,5 Meter betragen. 4. Einzelaspekte im Zusammenhang mit der Fahrbahnbreite von Fahrradstraßen Nach Nr. 1 zu Zeichen 244.1 der Anlage 2 StVO darf anderer Fahrzeugverkehr als Radverkehr sowie Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV)31 auf Fahrradstraßen nicht stattfinden, es sei denn, dies ist durch Zusatzzeichen erlaubt. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO in Verbindung mit § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO kommt als Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Fahrradstraße in Betracht.32 Bei der Anordnung von Verkehrszeichen sollen die zuständigen Behörden restriktiv vorgehen sowie „nach pflichtgemäßem Ermessen prüfen, ob die vorgesehene Regelung durch Verkehrszeichen deshalb zwingend erforderlich ist, weil die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Verordnung für einen sicheren und geordneten Verkehrsablauf nicht ausreichen“.33 Die Anordnung ist aber nur zwingend erforderlich, wenn diese zweckmäßig, sachgerecht sowie „die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderliche und allein in Betracht kommende Maßnahme ist“.34 Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei Fahrradstraßen gemäß Nr. 2 zu Zeichen 244.1 der Radverkehr weder gefährdet noch behindert werden darf. Das Nebeneinanderfahren mit Fahrrädern ist nach Nr. 3 zu Zeichen 244.1 erlaubt. Im Rahmen dieser Vorgaben hat bei der Anordnung einer Fahrradstraße einschließlich des Zusatzzeichens „Kraftfahrzeuge frei“ in beiden Richtungen auch eine Prüfung 30 Vgl. VG Hannover, Urteil vom 17.07.2019, Az. 7 A 7457/17 Rn. 60, 65, 71, juris; vgl. für eine Prüfung im Rahmen des § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO a.F.: VG Aachen, Urteil vom 07.05.2013 - 2 K 2160/11, BeckRS 2013, 55102. 31 Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung vom 6. Juni 2019 (BGBl. I S. 756). 32 Vgl. VG Hannover, Urteil vom 17.07.2019, Az. 7 A 7457/17 Rn. 53, juris; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Straßenverkehrsordnungsrechtlicher Rahmen zur Anordnung von Fahrradstraßen, Sachstand vom 11. Januar 2021, Az. WD 7 - 3000 - 141/20, S. 6 ff., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/821844/814ed787b3c63eba44b944b8c68e19a6/WD-7-141-20-pdf-data.pdf (letzter Abruf – auch für alle weiteren Internetlinks – 06.07.2021). 33 BVerwG, Beschluss vom 01.09.2017, Az. 3 B 50/16 Rn. 6, juris. 34 VG des Saarlandes, Beschluss vom 19.01.2011, Az. 10 L 1655/10 Rn. 26, 28, juris; VG Hannover, Urteil vom 17.07.2019, Az. 7 A 7457/17 Rn. 67, juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 9 dahingehend zu erfolgen, ob die Fahrgassenbreite der anzuordnenden Fahrradstraße im konkreten Fall einen ausreichenden seitlichen Mindestabstand zwischen Kraftfahrzeug und entgegenkommenden Radfahrern gewährleistet.35 Nach Empfehlungen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) sollte die Fahrgassenbreite von Fahrradstraßen mindestens vier Meter zuzüglich erforderlicher Sicherheitsabstände zu möglicherweise parkenden Fahrzeugen (im Falle des Längsparkens 0,75 Meter) betragen, damit „das gleichzeitige Begegnen von jeweils zwei nebeneinander fahrenden Radfahrern sicher“ ermöglicht werde.36 Weiterhin führt der GDV aus: „In diesem Fall sind außerdem ausreichend Sicherheitsabstände zum Überholen eines Radfahrers oder zum Begegnen eines Radfahrers mit einem Pkw vorhanden. Soll gewährleistet werden, dass auch zwei nebeneinander fahrende Radfahrer einem Pkw sicher begegnen können, so ist eine Fahrgassenbreite von mindestens 4,6“ Metern „zuzüglich der notwendigen Sicherheitsabstände zu“ gegebenenfalls „parkenden Fahrzeugen erforderlich“.37 5. Erforderliche verbleibende Gehwegbreite bei der Zulassung des Parkens auf Gehwegen nach der VwV-StVO Grundsätzlich ist das Parken auf Gehwegen nach § 12 Abs. 4 StVO untersagt.38 Zeichen 315 der Anlage 3 (zu § 42 Abs. 1 StVO) und gegebenenfalls auch Parkflächenmarkierungen (vgl. lfd. Nr. 74 zur Anlage 2 StVO) erlauben dagegen das Parken auf Gehwegen für Fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse bis zu 2,8 Tonnen.39 Sowohl nach VwV-StVO zu Anlage 2 lfd. Nr. 74 als auch VwV-StVO zu Zeichen 315 darf das Parken auf Gehwegen unter anderem nur dann zugelassen werden, wenn genügend Platz für den unbehinderten Verkehr von Fußgängern gegebenenfalls mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrern auch im Begegnungsverkehr bleibt. In der Literatur wurde teilweise in Bezug auf Zeichen 315 a. F. davon ausgegangen, dass genügend Raum in der Regel nur dann bleibe, wenn noch eine Gehwegbreite von mindestens 1,50 Meter verbleibe, wobei „nur in ganz begründeten Ausnahmefällen“ eine Unterschreitung derselben erfolgen dürfe.40 Das VG München vertrat im Jahre 1988 für den Fall des illegalen Parkens auf dem Gehweg – allerdings nicht in Bezug auf die VwV-StVO sondern auf eine polizeiliche Maßnahme nach Art. 11 35 Vgl. VG Hannover, Urteil vom 17.07.2019, Az. 7 A 7457/17 Rn. 70, 71, juris. 36 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Unfallforschung der Versicherer, GDV, Fahrradstraßen und geöffnete Einbahnstraßen, Unfallforschung kompakt, Nr. 60, August 2016, S. 9, abrufbar unter https://m.udv.de/de/publikationen/unfallforschung-kompakt/fahrradstrassen-und-geoeffnete-einbahnstrassen. 37 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Unfallforschung der Versicherer, GDV, Fahrradstraßen und geöffnete Einbahnstraßen, Unfallforschung kompakt, Nr. 60, August 2016, S. 9, abrufbar unter https://m.udv.de/de/publikationen/unfallforschung-kompakt/fahrradstrassen-und-geoeffnete-einbahnstrassen. 38 Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Rn. 57. 39 Vgl. neben den genannten Vorschriften Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Rn. 59, 60. 40 Berr/Hauser/Schäpe, Das Recht des ruhenden Verkehrs, 2. Auflage 2005 Rn. 228. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 10 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 24 Nr. 1 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) a.F.41 – die Ansicht , dass „eine konkrete polizeiliche Gefahr durch Behinderung oder Gefährdung des Fußgängerverkehrs “ vorliege, „wenn mit Fußgängerverkehr zu rechnen“ sei, welcher „die bestehende Gehwegbreite voll in Anspruch“ nehme, „und wenn keine Mindestgehwegbreite von 1,60“ Meter „für einen ungehinderten Fußgängerbegegnungsverkehr“ verbleibe.42 Denn lediglich dann sei „ein ungehinderter Fußgängerbegegnungsverkehr insbesondere für Behinderte und Fußgänger mit Kinderwägen u. a. gewährleistet“.43 6. Parken unter Beachtung der Fahrbahnbreite Parken ist als Gemeingebrauch an öffentlichem Verkehrsraum überall erlaubt, wobei sich Einschränkungen aus den §§ 1 Abs. 2 und §§ 12 und 13 StVO ergeben.44 Zum Parken ist gemäß § 12 Abs. 4 Satz 1 StVO der rechte Seitenstreifen, dazu gehören auch entlang der Fahrbahn angelegte Parkstreifen, zu benutzen, wenn er dazu ausreichend befestigt ist, sonst ist an den rechten Fahrbahnrand heranzufahren. Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVO ist das Halten an engen und an unübersichtlichen Straßenstellen unzulässig. Da das „Parken“ einen Sonderfall des „Haltens“ darstellt, müssen Parkende auch die Pflichten beachten, welche für das Halten gelten.45 Eine enge Straßenstelle liegt vor, „wenn der neben dem parkenden Fahrzeug zur Durchfahrt freibleibende Raum einem Fahrzeug mit der regelmäßig höchstzulässigen Breite“ (vgl. § 32 Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrs -Zulassungs-Ordnung (StVZO)46) die Wahrung eines Sicherheitsabstands von 50 Zenti- 41 Polizeiaufgabengesetz (PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (Bayerisches GVBl. S. 397, BayRS 2012-1-1-I), das zuletzt durch § 1 des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 (Bayerisches GVBl. S. 691) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayPAG/true; zum Zeitpunkt des Urteils des VG München geltende Fassungen der Art. 11 und 24 PAG abrufbar bei beck-online unter https://beck-online.beck.de/DACore/DokumentenVersionenVergleich?VPath=bibdata %2Fges%2Fbaypag%2Fcont%2Fbaypag.a24.htm&version=20180525&version=19830101 sowie https://beck-online.beck.de/DACore/DokumentenVersionenVergleich?VPath=bibdata %2Fges%2Fbaypag%2Fcont%2Fbaypag.a11.htm&version=20180525&version=19830101. 42 VG München, Urteil vom 28.01.1988, Az. M 17 K 87.6583 (nicht rechtskräftig), NVwZ 1988, 667, 669. 43 VG München, Urteil vom 28.01.1988, Az. M 17 K 87.6583 (nicht rechtskräftig), NVwZ 1988, 667, 669. 44 Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Rn. 36; BGH, Beschluss vom 20.12.1979, Az. 4 StR 438/79, NJW 1980, 845. 45 Vgl. Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Rn. 5, 6, 33. 46 Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 26. April 2012 (BGBl. I S. 679), die zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2204) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 11 metern und somit „ein gefahrloses Vorbeifahren ohne ungewöhnliche Schwierigkeiten“ nicht erlaubt .47 Demnach muss wohl eine Fahrbahnbreite von 3 bis 3,50 Metern zuzüglich eines gegebenenfalls notwendigen Sicherheitsabstandes eines durchfahrenden Fahrzeugs zum gegenüberliegenden Fahrbahnrand freigehalten werden.48 Bei § 12 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 StVO handelt es sich um „allgemeine gesetzliche Haltverbote“.49 Fahrzeugführer haben auch unabhängig von Verkehrszeichen zu prüfen, ob ein Halten erlaubt ist.50 7. Einzelaspekte des Opportunitätsprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht § 47 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG)51 regelt den Opportunitätsgrundsatz für den Fall der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten.52 Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 OWiG liegt die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde. In diesem Zusammenhang führt ein Erlass des Ministeriums für Verkehr Baden-Württemberg vom 11. Mai 2020 aus: „Auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt trotz des Opportunitätsprinzips der Grundsatz, dass gesetzwidrige Taten im Regelfall zu verfolgen sind. Daher bedarf auch nicht das Eingreifen des Amtsträgers einer Begründung, sondern die Nicht-Ahndung braucht als Ausnahme eines zusätzlichen Kriteriums, welches zu dokumentieren ist“.53 47 Vgl. Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Rn. 6; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.12.1999, Az. 2b Ss (OWi) 221/99 - (OWi) 81/99 I, NZV 2000, 339, 340; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 18.11.1997, Az. VG 11 A 1542.96, NZV 1998, 224. 48 Vgl. Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Rn. 6; BayObLG, Urteil vom 30.03.1960, Az. RevReg. 1 St 53/60, NJW 1960, 1484, 1485; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.12.1999, Az. 2b Ss (OWi) 221/99 - (OWi) 81/99 I, NZV 2000, 339, 340. 49 Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 12 StVO Überschrift zu Rn. 5. 50 Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Auflage 2021, § 12 StVO Rn. 21. 51 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 1987 (BGBl. I S. 602), das zuletzt durch Artikel 23 des Gesetzes vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2099) geändert worden ist. 52 Bücherl, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar OWiG, 30. Edition, Stand: 01.04.2021, § 47 Rn. 1 53 Erlass zur Überwachung und Sanktionierung von Ordnungswidrigkeiten im ruhenden Verkehr des Ministeriums für Verkehr Baden-Württemberg vom 11.05.2020, Az. 4-38.51.1-00/1527, S. 4, abrufbar unter https://www.aktivmobil-bw.de/fileadmin/user_upload_fahrradlandbw/Downloads/Regelwerke/2020_Erlass _zu_Ueberwachung_Sanktionierung_von_Ordnungswidrigkeiten_im_ruhenden_Verkehr.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 12 Diese Ausführungen sind vertretbar. In dem Erlass wird diese Auffassung mit entsprechender Kommentarliteratur belegt.54 Daneben wird in der juristischen Literatur vertreten, dass aufgrund des Opportunitätsgrundsatzes für die Verfolgungsbehörde – im Gegensatz zum Strafverfahren, für welches das Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO)55) gelte – keine Pflicht zur Einleitung und Durchführung eines Bußgeldverfahrens bestehe.56 Im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens bestehe ein weiter Ermessensspielraum, wobei allein sachliche Gründe berücksichtigt werden dürften und „schon der bloße Anschein einer unsachgemäßen Ausübung […] zu vermeiden oder gegebenenfalls durch einen entsprechenden Begründungsaufwand zu rechtfertigen“ sei.57 Auf der anderen Seite wird in der Kommentarliteratur in Bezug auf die Folgen einer rechtswidrigen Einstellung ausgeführt, dass die Entscheidung über die Nichtverfolgung aufgrund ihrer fehlenden Anfechtbarkeit gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 34 StPO „formell keiner Begründung“ bedürfe, wodurch praktisch „Bedenken fehlender Rechtlichkeit“ reduziert würden.58 Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass über eine Nichtverfolgung von Ordnungswidrigkeiten regelmäßig unter anderem nach quantitativen Gesichtspunkten (Schwere des Gesamtunrechts) zu entscheiden ist.59 Verstöße eines „Amtsträgers gegen die Pflichtigkeit seiner Opportunitätsentscheidung“ führen nicht zu einer Strafbarkeit nach §§ 258, 258a StGB.60 Der Verletzte dürfte wohl die Möglichkeit haben, eine Dienstaufsichtsbeschwerde zu erheben.61 54 Vgl. Erlass zur Überwachung und Sanktionierung von Ordnungswidrigkeiten im ruhenden Verkehr des Ministeriums für Verkehr Baden-Württemberg vom 11.05.2020, Az. 4-38.51.1-00/1527, S. 4, abrufbar unter https://www.aktivmobil-bw.de/fileadmin/user_upload_fahrradlandbw/Downloads/Regelwerke/2020_Erlass _zu_Ueberwachung_Sanktionierung_von_Ordnungswidrigkeiten_im_ruhenden_Verkehr.pdf, unter Verweis auf Mitsch, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, Einleitung Rn. 155, 156. 55 Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Juni 2021 (BGBl. I S. 2099) geändert worden ist. 56 Bücherl, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar OWiG, 30. Edition, Stand: 01.04.2021, § 47 Rn. 1. 57 Bücherl, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar OWiG, 30. Edition, Stand: 01.04.2021, § 47 Rn. 7, 8, mit Verweis unter anderem auf BayObLG, Beschluss vom 06.05.2019, Az. 201 ObOWi 276/19, BeckRS 2019, 17049, vgl. dort Rn. 7. 58 Mitsch, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, Einleitung Rn. 163. 59 Vgl. Mitsch, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, Einleitung Rn. 159; Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage eines Abgeordneten, Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 17/13811 vom 17.05.2021, S. 3, abrufbar unter https://gruene-fraktion-nrw.de/wp-content/uploads/2021/04/Antwort-17-13811- Ruhender-Verkehr.pdf. 60 Mitsch, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, Einleitung Rn. 163. 61 Vgl. Mitsch, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 47 Rn. 123. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 047/21 Seite 13 8. Der Begriff der Vorfahrt Die Zeichen 205 und 206 StVO der Anlage 2 StVO lauten „Vorfahrt gewähren.“ bzw. „Halt. Vorfahrt gewähren“. Vorfahrt wird definiert als „der Vorrang beim Zusammentreffen mehrerer Fahrzeuge , die aus verschiedenen öffentlichen Straßen, die dem fließenden Verkehr dienen, in einer Kreuzung oder Einmündung aufeinander zukommen“.62 Vorfahrt existiert dementsprechend begrifflich nur zwischen Fahrzeugen sowie solchen gleichgestellten Verkehrsteilnehmern (§§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 2 StVO), nicht aber zwischen Fahrzeugen und Fußgängern.63 Der Fahrverkehr hat auf Fahrbahnen den Fußgängern gegenüber grundsätzlich Vorrang.64 Ausnahmen von diesem Grundsatz finden sich in § 9 Abs. 3 Satz 3 und § 26 StVO. *** 62 Heß. in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 8 StVO Rn. 2. 63 Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 8 StVO Rn. 3. 64 Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Auflage 2020, § 8 StVO Rn. 3.