© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 040/21 Gesetzentwurf über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (Sorgfaltspflichtengesetz-E) Einzelfragen zur zivilrechtlichen Haftung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 2 Gesetzentwurf über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (Sorgfaltspflichtengesetz-E) Einzelfragen zur zivilrechtlichen Haftung Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 040/21 Abschluss der Arbeit: 27. April 2021 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Sorgfaltspflichten im Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetz 5 2.1. Zivilrechtliche Grundlagen 5 2.2. Eigenschaften eines Schutzgesetzes 7 2.3. Einzelne Pflichten aus dem Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetz 9 2.3.1. Allgemeiner Gesetzeszweck 9 2.3.2. Individualschutz einzelner Regelungen 9 2.3.3. Kausalitätsproblematik 11 2.3.4. Öffentliche Äußerungen der beteiligten Bundesministerien 12 2.3.5. Anwendbarkeit von § 823 Abs. 2 BGB im internationalen Kontext 13 2.4. Fazit 14 3. Einzelfragen zur besonderen Prozessstandschaft im Sorgfaltspflichtengesetz-E 14 3.1. Zivilrechtliche Grundlagen 14 3.2. Rechtmäßigkeit im Einzelnen 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 4 1. Einleitung Das Plenum des Deutschen Bundestages hat jüngst den „Entwurf eines Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ (Sorgfaltspflichtengesetz-E) der Bundesregierung nach erster Beratung in mehrere Ausschüsse überwiesen.1 Der Entwurf sieht im Wesentlichen vor, dass inländische Großunternehmen ab dem Jahr 2023 verschiedene menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in ihrer Lieferkette in angemessener Weise beachten müssen.2 Menschenrechte im Sinne des Gesetzentwurfes sind gemäß § 2 Abs. 1 solche, die sich aus den in der Anlage zum Entwurf aufgelisteten Übereinkommen ergeben. Zu den Sorgfaltspflichten zählen u. a. die Einrichtung eines Risikomanagements3 und Durchführung regelmäßiger Risikoanalysen,4 aber auch das Ergreifen von Abhilfemaßnahmen in bestimmten Fällen5 und die Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens.6 Dabei stehen nicht nur der eigene Geschäftsbereich des Unternehmens, sondern auch dessen Zusammenarbeit mit unmittelbaren und mittelbaren Zulieferern als Teil der Lieferkette im Blickpunkt.7 Zuwiderhandlungen werden vielfach als Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeldern oder mit einem bis zu dreijährigen Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge geahndet.8 Die Ausführungen im Entwurfsgesetzestext zu einer eventuell danebenstehenden zivilrechtlichen Haftung beschränken sich auf den dritten Abschnitt („Zivilprozess“). In dessen einziger Vorschrift – § 11 („Besondere Prozessstandschaft“) – heißt es in Abs. 1: „(1) Wer in einer überragend wichtigen Rechtsposition aus § 2 Absatz 1 verletzt ist, kann zur gerichtlichen Geltendmachung seiner Rechte einer inländischen Gewerkschaft oder Nichtregierungsorganisation die Ermächtigung zur Prozessführung erteilen.“9 1 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/224 (22. April 2021), S. 28432C ff. Vgl. zum Gesetzentwurf: Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten, 19. April 2021, Bundestag-Drucksache (BT-Drs.) 19/28649, abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/286/1928649.pdf (letzter Abruf dieser und aller weiteren Internetlinks: 27. April 2021). 2 Vgl. §§ 1, 3 Sorgfaltspflichtengesetz-E. Siehe zum geplanten Inkrafttreten Art. 4 des Gesetzentwurfes. 3 § 4 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 4 § 5 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 5 § 7 Abs. 1 bis 3 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 6 § 8 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 7 § 2 Abs. 5 bis 8 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 8 § 24 und § 22 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 9 § 11 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 5 Vor diesem Hintergrund wurden die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit der Prüfung einzelner Fragen zu einer etwaigen zivilrechtlichen Haftung nach dem Sorgfaltspflichtengesetz -E beauftragt, nämlich zum einen ob das Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)10 aufzufassen wäre und welche Auswirkungen dies hätte (dazu unter 2.). Zum anderen ist gefragt, inwiefern die bereits skizzierte besondere Prozessstandschaft in § 11 des Entwurfes den rechtsstaatlichen Anforderungen einer gewillkürten Prozessstandschaft entspricht und die Betroffenen „Herren des Verfahrens “ bleiben lässt (dazu unter 3.). Hinsichtlich der im Gesetzentwurf festgelegten besonderen Prozessstandschaft in Bezug auf Gewerkschaften wird auf die hierzu vom Fachbereich WD 6 – Arbeit und Soziales – erstellte Arbeit verwiesen.11 2. Sorgfaltspflichten im Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetz Fraglich ist, ob das Sorgfaltspflichtengesetz-E im Falle seiner Verabschiedung in dieser Form als Schutzgesetz gemäß § 823 Abs. 2 BGB eine zivilrechtliche Haftung auslösen könnte. Insbesondere nach Auffassung einzelner Verbände im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf seien die Sorgfaltspflichten unter Umständen entsprechend auszulegen.12 2.1. Zivilrechtliche Grundlagen Der Begriff der (zivilrechtlichen) Haftung bedeutet im Ausgangspunkt nichts anderes als die Haftung des Vermögens eines Schuldners für die Erfüllung eines Anspruches eines Gläubigers.13 Soweit ersichtlich, wird der Begriff im Kontext der Debatte um den vorliegenden Gesetzentwurf jedoch hauptsächlich als spezifische (zivilrechtliche) Schadensersatzhaftung verstanden.14 Eine Schadensersatzhaftung kann auf verschiedensten Haftungsgründen basieren: Etwa im Rahmen 10 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 10 des Gesetzes vom 30. März 2021 (BGBl. I S. 607) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/. 11 Aktenzeichen: WD 6 – 3000 – 031/21. 12 Siehe etwa Verband der Chemischen Industrie e.V., Stellungnahme zum Referentenentwurf zu einem „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, 1. März 2021, S. 2; Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für ein Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten, 1. März 2021, S. 5; Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, Stellungnahme zum Kabinettsentwurf des Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten, 3. März 2021, S. 8. Alle abrufbar unter: https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/gesetz-unternehmerische-sorgfaltspflichtenlieferketten .html; 13 Groh/Schmidt, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 26. Auflage 2021, Stichwort „Haftung“. 14 Der Schadensersatz ist der Ausgleich des einer Person entstandenen Schadens durch einen Ersatzpflichtigen (Schmidt, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 26. Auflage 2021, Stichwort „Schadensersatz“). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 6 eines zwischen zwei Parteien geschlossenen Vertrages, aber auch außerhalb einer Vertragsbeziehung , weil ein Gesetz (z.B. das BGB) dies anordnet.15 Soweit vorliegend in der wohl „klassischen Konstellation“ Schadensersatzansprüche von Personen zu Beginn der Lieferkette (etwa Beschäftigte in einer ausländischen Produktionsstätte) gegenüber einem nur indirekt über mehrere Zulieferer/Zwischenhändler verbundenen deutschen Endkundenanbieter in Rede stehen, kommen lediglich unmittelbar gesetzlich begründete Ansprüche in Betracht. Denn nach allgemein vorherrschender Ansicht fehlt es in diesen Fällen in aller Regel an einer vertraglichen Grundlage zwischen deutschem Unternehmen und den Verletzten für eine entsprechende Schadensersatzpflicht.16 In Bezug auf gesetzliche Schadensersatzansprüche finden sich im Sorgfaltspflichtengesetz-E keine expliziten Regelungen, die eine solche Haftung unmittelbar begründen würden.17 Insofern kommt hier nur die Anwendung genereller gesetzlicher Schadensersatzanspruchsgrundlagen in Betracht. Im Zentrum der Debatte der zivilrechtlichen Haftung für Menschenrechtsverletzungen stand – soweit ersichtlich – bereits vor Erstellung des Regierungsentwurfs die außervertragliche Schadensersatzhaftung aus dem Recht der unerlaubten Handlung (Deliktsrecht) nach §§ 823 ff. BGB, zu dem auch der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB gehört.18 Wie die Bezeichnung bereits erkennen lässt, verbindet diese Vorschriften die Sanktionierung einer widerrechtlichen Verletzung zwischenmenschlicher Rechtsbeziehungen.19 Anders als etwa die österreichische oder französische Rechtsordnung sieht das deutsche Deliktsrecht aber keine deliktische Haftung für jedes schädigende Verhalten im Sinne einer Generalklausel vor.20 Stattdessen ist im Sinne 15 Ebenda. 16 Vgl. statt vieler ausführlich Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, Archiv für die civilistische Praxis (AcP) 219 (2019), S. 155, 191 ff. und Schneider, Menschenrechtsbezogene Verkehrspflichten in der Lieferkette und ihr problematisches Verhältnis zu vertraglichen Haftungsgrundlagen, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (NZG) 2019, S. 1369, 1375 f. 17 Vgl. insoweit auch Keilmann/Schmidt, Der Entwurf des Sorgfaltspflichtengesetzes – Warum es richtig ist, auf eine zivilrechtliche Haftung zu verzichten, Wertpapiermitteilungen (WM) 2021, S. 717 ff.; Thüsing, Sorgfaltspflichtengesetz – Verantwortung mit Augenmaß und Präzision. Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2021, S. 97, 98; Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, Menschenrechte und Umweltschutz in Lieferketten – der Regierungsentwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes, Betriebs-Berater (BB) 2021, S. 906, 913. 18 Vgl. etwa Haider, Haftung von transnationalen Unternehmen und Staaten für Menschenrechtsverletzungen, 2019, S. 318 f.; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (RabelsZ) 80 (2016), S. 717, 750 ff. 19 Förster, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 57. Edition (Stand: 1. Februar 2021), § 823 BGB, Randnummer 1 unter Bezugnahme auf Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 20. März 1961 – III ZR 9/60 –, Randnummer 12 (zitiert nach juris). 20 Förster, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 57. Edition (Stand: 1. Februar 2021), § 823 BGB, Randnummer 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 7 von „kleinen Generalklauseln“21 nur die schuldhafte Verletzung einzelner Rechtsgüter bzw. Rechte sanktioniert. So lautet § 823 BGB als zentrale deliktsrechtliche Norm: „§ 823 Schadensersatzpflicht (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. (2) 1Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. 2Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.“22 Während § 823 Abs. 1 BGB nur den Schutz bestimmter Rechtsgüter bzw. Rechte bezweckt (insbesondere nicht das Vermögen), erweitert § 823 Abs. 2 BGB die Schadensersatzhaftung allgemein um Verstöße „gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz“. Somit dient die Norm als Einfallstor von in anderen Rechtsgebieten getroffenen gesetzlichen Wertungen in das Deliktsrecht .23 Gleichzeitig wird deutlich, dass die Begründung der Schadensersatzpflicht im Grundsatz allein dem Gesetzgeber vorbehalten ist, indem dieser entsprechende Schutzgesetze als solche formulieren kann. 2.2. Eigenschaften eines Schutzgesetzes Aus § 823 Abs. 2 BGB lässt sich nicht unmittelbar erkennen, was unter einem Schutzgesetz zu verstehen ist. Der Wortlaut bleibt äußerst vage und spricht lediglich von einem „den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz“.24 An anderer Stelle ist allerdings geregelt, dass ein Gesetz im Sinne des BGB jede Rechtsnorm ist, somit insbesondere alle formellen Bundes- oder Landesgesetze erfasst sind.25 Somit fielen auch die Rechtsnormen im Sorgfaltspflichtengesetz-E im Falle von dessen Inkrafttreten hierunter. Dabei darf der Gesetzesbegriff insbesondere nicht mit dem allgemeinen Verständnis eines Parlamentsgesetzes gleichgesetzt werden. Denn wie das Sorgfaltspflichtengesetz-E enthält es in aller 21 Begriff etwa bei Canaris, Grundstrukturen des deutschen Deliktsrechts, Versicherungsrecht (VersR) 2005, S. 577 ff. 22 § 823 BGB [Hervorhebungen diesseits]. 23 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 532 mit weiteren Nachweisen. 24 Vgl. den bereits zitierten Wortlaut von § 823 Abs. 2 BGB unter 2.1. 25 Überblick von Beispielen von Rechtsnormen etwa bei Hans, in: „jurisPraxiskommentar BGB“, 9. Auflage 2020, Band 2, § 823 Abs. 2 BGB, Randnummer 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 8 Regel mehrere Rechtsnormen zu einer bestimmten Thematik. Folglich kann das Lieferkettengesetz als Ganzes von vornherein kein Schutzgesetz sein, sondern nur einzelne darin gefasste Regelungen .26 Deutlich schwieriger zu bestimmen ist, wann eine Rechtsnorm den Schutz eines anderen bezweckt . Mangels weiterer gesetzgeberischer Konkretisierungen hat insbesondere die Rechtsprechung den Begriff des Schutzgesetzes für die Praxis handhabbar gemacht. Der Bundesgerichtshof (BGH) stellt in mittlerweile ständiger Rechtsprechung hierzu folgende Formel auf: „Eine Rechtsnorm ist ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie dasjenige der Allgemeinheit im Auge haben. Nicht ausreichend ist aber, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm nur als ihr Reflex objektiv erreicht wird; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen. Außerdem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen .“27 Wie bereits in den allgemeinen Ausführungen in 2.1. herausgearbeitet, kommt bei der Prüfung dem ersichtlichen gesetzgeberischen Willen hervorzuhebende Bedeutung zu. Der Gesetzgeber und nicht der spätere Rechtsanwender soll über die Reichweite des Schutzes nach § 823 Abs. 2 BGB entscheiden, selbst wenn dies in der Praxis zu als unbillig empfundenen Ergebnissen führen sollte.28 26 So auch allgemein für „Gesetze“, Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 562 mit weiteren Nachweisen. 27 Zuletzt BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 –, Randnummer 73 (zitiert nach juris) [Hervorhebungen diesseits. Rechtsprechungsnachweise aus dem Original entfernt]. 28 Entsprechend ist bei der Auslegung von Normen als Schutzgesetze auch die teleologische Auslegung ausgeschlossen (Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 564 mit weiterem Nachweis). Die teleologische Auslegung stellt primär auf die Anwendbarkeit einer Vorschrift auf eine Sachverhaltskonstellation ab, die zum Erlasszeitpunkt nicht bedacht wurde beziehungsweise werden konnte – z.B. die Entwicklung neuer Technologien (Christensen/Pötters, Methodische Fehler in juristischen Prüfungen, Juristische Arbeitsblätter (JA) 2010, S. 566, 569 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 9 2.3. Einzelne Pflichten aus dem Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetz Fraglich ist, ob einzelne Pflichten aus dem Sorgfaltspflichtengesetz-E auf Basis der Definition der Rechtsprechung als Schutzgesetz zu qualifizieren wären. 2.3.1. Allgemeiner Gesetzeszweck Gesetze enthalten häufig eine ausdrückliche Klarstellung ihres Schutzzweckes, der entweder auf Allgemeininteressen beschränkt sein kann oder den Individualschutz einschließt.29 Eine solche Klarstellung enthält der Text des Sorgfaltspflichtengesetz-E nicht. Allerdings erfolgen Ausführungen zum gesetzgeberischen Ziel in der Entwurfsbegründung, die im Ergebnis jedoch in Bezug auf die Schutzgesetzfrage ambivalent sind. So heißt es bereits im Vorblatt zum einen: „Dadurch [durch das Gesetz] sollen […] die Rechte der von Unternehmensaktivitäten betroffenen Menschen in den Lieferketten gestärkt […] werden“,30 zum anderen aber auch: „Der vorliegende Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes dient der Verbesserung der internationalen Menschenrechtslage […]“.31 Während der erste Satz der ausführlichen Entwurfsbegründung unter dem Gliederungspunkt „Zielsetzung und Notwendigkeit der Regelungen“ erneut allein die Verbesserung der internationalen Menschenrechtslage hervorhebt,32 heißt es in der weiteren Begründung wiederum: „Der Schutz dieses Gesetzes erfolgt sowohl im öffentlichen Interesse als auch im individuellen Interesse der unmittelbar Betroffenen.“33 Insbesondere aus der letzten Formulierung schließen einzelne Stellungnahmen zum Gesetzentwurf auf eine mögliche Schutzgesetzeigenschaft .34 2.3.2. Individualschutz einzelner Regelungen Wie bereits unter 2.2. festgestellt, folgt der Schutzgesetzcharakter nicht aus einem Gesetzeswerk im Sinne einer Zusammenstellung einzelner Normen, sondern aus konkreten Einzelnormen. Diese muss zudem nach herrschender Auffassung den Charakter einer Ge- oder Verbotsnorm 29 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 563 mit Beispielen . 30 BT-Drs. 19/28649 (Fußnote 1), S. 2 [Hervorhebungen, Erläuterungen und Auslassungen diesseits]. 31 Ebenda [Hervorhebungen diesseits]. 32 Ebenda, S. 20. 33 Ebenda, S. 42 [Hervorhebungen diesseits]. Vgl. entsprechend auch Begründung zu § 14 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz -E (ebenda, S. 52). 34 Vgl. etwa Deutscher Anwaltverein (DAV), Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten, April 2021, Randnummern 49 f., abrufbar unter: https://anwaltverein .de/de/newsroom/sn-27-21-sorgfaltspflichtengesetz; Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V./ Verband der Chemischen Industrie e.V., Stellungnahme von BAVC und VCI zum Gesetzentwurf zu einem „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, 1. April 2021, S. 13, abrufbar unter: https://www.bavc.de/downloads/TopThemen/Stellungnahme-BAVC-u-VCI_Sorgfaltspflichtengesetz.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 10 haben.35 Zwar findet sich im Gesetzentwurf eine Vielzahl von Normen vornehmlich mit Gebotscharakter („Sorgfaltspflichten“, §§ 3 ff. Sorgfaltspflichtengesetz-E), wobei bei einigen eine Zuwiderhandlung sogar als Ordnungswidrigkeit behördlich verfolgt werden kann.36 Allerdings lassen diese im Ergebnis keine Individualschutzfunktion erkennen: Die verschiedenen menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten sind in § 3 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E aufgezählt. Wie die Beispiele der Einrichtung eines Risikomanagements (§ 4) bzw. Beschwerdeverfahrens (§ 8), der Verabschiedung einer Grundsatzerklärung (§ 6) oder die „Dokumentations- und Berichtspflicht“ (§ 10) zeigen, geht es hierbei im Wesentlichen nicht um die Verhinderung einzelner Menschenrechtsverstöße, sondern vor allem um die Schaffung unternehmensinterner Institutionen, das die Einhaltung der Menschenrechte in Bezug auf die Unternehmenstätigkeit abstrakt garantieren soll. Der Einstufung als Ordnungswidrigkeit kommt nach der Rechtsprechung dabei keine entscheidende Bedeutung zu, unter Umständen kann dies sogar darauf hindeuten, dass daneben ein deliktischer Schutz derselben Interessen über § 823 Abs. 2 BGB entbehrlich ist.37 Weiter wird zwar verschiedentlich im Gesetzentwurf von geschützten Rechtspositionen einzelner Personen gesprochen. Ein Beispiel ist § 14 Abs. 1 Nr. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E, wonach die zuständige Behörde bei einer möglichen Verletzung einer solchen Rechtsposition zum Tätigwerden verpflichtet wird.38 In der Begründung wird jedoch klargestellt, dass sich der Begriff „geschützte Rechtsposition“ ausschließlich auf solche menschenrechtlichen Rechtspositionen bezieht , die in den in der Anlage zum Entwurf genannten Menschenrechtsübereinkommen enthalten sind.39 Zusätzliche Individualrechtspositionen sollen demzufolge gerade nicht begründet werden. In diesem Zusammenhang sei zudem erwähnt, dass nach vorherrschender Meinung in der juristischen Literatur im Übrigen auch in völkerrechtlichen Konventionen verbürgte Menschenrechte keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB darstellen.40 Denn ähnlich wie bei den Grundrechten seien Adressaten von Menschenrechten Staaten, nicht aber Bürger oder 35 Statt vieler Hans, in: „jurisPraxiskommentar BGB“, 9. Auflage 2020, Band 2, § 823 Abs. 2 BGB, Randnummer 4. 36 § 24 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 37 BGH, Urteil vom 29. Juni 1982 – VI ZR 33/81 –, Randnummer 14 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen (zitiert nach juris). 38 Der Begriff „geschützte Rechtsposition“ wird darüber hinaus etwa in § 7 Abs. 1 oder § 8 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz -E erwähnt. 39 BT-Drs. 19/28649 (Fußnote 1), S. 33. Eine Auflistung der relevanten Übereinkommen findet sich in der Anlage zum Gesetzentwurf (ebenda, S. 19). 40 Vgl. etwa Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 551 mit weiteren Literaturnachweisen; Nordhues, Haftungsgrundlagen und –maßstäbe für Menschenrechtsverletzungen im Mutter-Tochter-Verhältnis, in: Krajewski/Saage-Maaß, Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten in Unternehmen, S. 125, 134 f. Andere Ansicht Osieka, Zivilrechtliche Haftung deutscher Unternehmen für menschenrechtsbeeinträchtigende Handlungen ihrer Zulieferer, 2014, S. 141 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 11 Unternehmen.41 Insofern könnten letzteren auch keine diesbezüglichen, unmittelbaren Pflichten auferlegt werden.42 Hieran wird ebenfalls deutlich, dass ein Schutzgesetz nur als solches gilt, wenn es neben einer individuellen Rechtsposition eine korrespondierende individuelle Pflicht eines anderen Privatrechtsteilnehmers statuiert. Eine solche ist im vorliegenden Gesetzentwurf jedoch nicht ersichtlich . Neben den bereits genannten Regelungsbeispielen käme dabei am ehesten die im Entwurf festgeschriebene Verpflichtung zu Abhilfemaßnahmen in Betracht. Denn hier werden im Fall der bereits eingetretenen oder unmittelbar bevorstehenden Verletzung einer menschenrechts- oder umweltbezogenen Pflicht im Einzelfall „angemessene Abhilfemaßnahmen“ verlangt (§ 7 Abs. 1). Im eigenen Geschäftsbereich muss die Abhilfemaßnahme sogar zu einer Beendigung der Verletzung führen.43 Falls eine solche Verletzung bei einem mittelbaren Zulieferer im Raum steht, greift ein abgeschwächter Pflichtenkatalog.44 In der Entwurfsbegründung wird jedoch explizit klargestellt , dass § 7 Abs. 1 als wohl konkreteste, auf eine einzelne Verletzung bezogene Pflicht, gerade keine Grundlage für einen Anspruch eines Geschädigten gegenüber einem Unternehmen begründet .45 Insofern spricht einiges dafür, dass diese gesetzgeberische Vorstellung erst Recht bei den Abhilfepflichten in Bezug auf mittelbare Zulieferer bzw. den sonstigen Pflichten gilt. 2.3.3. Kausalitätsproblematik Die Entwurfsbegründung betont mehrfach, dass die Sorgfaltspflichten eine Bemühens- und keine Erfolgspflicht für Unternehmen begründeten.46 Selbst falls man einzelne oder alle Pflichten im Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetze auffasste, schiene die tatsächliche Zusprache eines Schadensersatzanspruches aus § 823 Abs. 2 BGB durch ein hierfür zuständiges Zivilgericht in der Praxis eher unwahrscheinlich. Denn das Bestehen eines (im Einzelfall sachlich, persönlich und funktional anwendbaren) Schutzgesetzes ist nicht die einzige Anspruchsvoraussetzung des § 823 Abs. 2 BGB.47 Hinzu kommen müsste der notwendige Nachweis, dass die Pflicht schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) verletzt wurde.48 Insbesondere müsste der Betroffene aber auch im Einzelfall grundsätzlich beweisen, dass die Verletzung einer Sorgfaltspflicht – als unterstelltes 41 Vgl. stellvertretend Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 551. Gleiches stellt im Übrigen auch der vorliegende Gesetzentwurf auf S. 33 fest. 42 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, Band 7, § 823 BGB, Randnummer 551. 43 § 7 Abs. 1 Satz 3 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 44 § 9 Abs. 3 Sorgfaltspflichtengesetz-E. 45 BT-Drs. 19/28649 (Fußnote 1), S. 47. 46 BT-Drs. 19/28649 (Fußnote 1), S. 2 und 40. Dabei bleibt allerdings offen, wie die bereits erwähnte, in § 7 Abs. 1 Satz 3 Sorgfaltspflichtengesetz-E festgelegte Pflicht der erfolgreichen Beendigung der Verletzung mit diesem Grundsatz vereinbar ist. 47 Vgl. zu den allgemeinen Voraussetzungen statt vieler Förster, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 57. Edition (Stand: 1. Februar 2021), § 823 BGB; Randnummern 280 ff. 48 § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB in Verbindung mit § 276 BGB. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 12 Schutzgesetz – ursächlich für einen eingetretenen Schaden war (Kausalität).49 Auch wenn insoweit von der bisherigen Rechtsprechung gewisse Beweiserleichterungen anerkannt sind,50 könnte im Einzelfall der Nachweis einer kausalen Verbindung zwischen beispielsweise der mangelhaften Einrichtung eines Risikomanagements oder Beschwerdeverfahrens zu einem tatsächlichen Unfall oder menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen bei einem mittelbaren Zulieferer erhebliche Probleme bereiten. Denn hier müsste gerade eine Verbindung des fehlenden Bemühens zu einem eingetretenen Erfolg dargelegt werden, dessen Abwendung ausweislich der Entwurfsbegründung ja eigentlich gar nicht geschuldet ist. 2.3.4. Öffentliche Äußerungen der beteiligten Bundesministerien Zudem zeigt einerseits die in der Einleitung zitierte Regelung der besonderen Prozessstandschaft (§ 11 Sorgfaltspflichtengesetz-E), dass die Entwurfsverfasser von einer grundsätzlichen zivilrechtlichen Haftungsmöglichkeit für Menschenrechtsverletzungen ausgehen, denn sonst ergäben Normierungen zur gerichtlichen Geltendmachung solcher Ansprüche keinen Sinn.51 Andererseits wird in einzelnen rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Gesetzentwurf der „Verdacht “ geäußert, dass es sich bei der Regelung „um eine Art Trostpflaster für die Befürworter der Schaffung einer zivilrechtlichen Haftung“52 handele, die in der Praxis jedoch nahezu ohne Anwendungsbereich bleiben dürfte.53 So bestand insbesondere vor Veröffentlichung des aktuellen Regierungsentwurfs eine lebhafte politische Debatte über die Frage der zivilrechtlichen Haftung im Rahmen des Gesetzesvorhabens.54 Während sich das für das vorliegende Gesetzesvorhaben federführende55 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in einem gemeinsamen Eckpunktepapier im März 2020 zunächst für eine eindeutige zivilrechtliche Haftungsregelung aussprachen ,56 erklärt bspw. das BMZ in einer Veröffentlichung anlässlich des Kabinettsbeschlusses des 49 Siehe bereits Fußnote 47. 50 Überblick bei vieler Förster, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 57. Edition (Stand: 1. Februar 2021), § 823 BGB, Randnummer 286. 51 Vgl. auch DAV (Fußnote 34), Randnummer 49. 52 Keilmann/Schmidt (Fußnote 17), S. 723. 53 Ebenda. 54 Grobe Nachzeichnung in der Süddeutschen Zeitung (Internetausgabe), „Die Haftungsfrage“, Artikel vom 4. November 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lieferkettengesetz-hubertus-heil-gerdmueller -entwurf-1.5104713. 55 BT-Drs. 19/28649 (Fußnote 1), S. 4. 56 BMAS/BMZ, Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz ), 10. März 2020, S. 3 f., abrufbar unter: https://www.magdeburg.ihk.de/blueprint/servlet/resource /blob/4901392/ccf5f12763940a80bb30ae3838a94372/eckpunkte-fuer-sorgfaltspflichtengesetz-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 13 Regierungsentwurfs im März 2021 nunmehr, dass das Gesetz generell „keine neuen zivilrechtlichen Haftungsregelungen“ schaffe.57 Vor diesem Hintergrund dürfte es an dem von der Rechtsprechung als notwendig erachteten gesetzgeberischen Willen zur Etablierung eines Schutzgesetzes aus Normen des Sorgfaltspflichtengesetzes in der hier vorliegenden Entwurfsfassung fehlen. 2.3.5. Anwendbarkeit von § 823 Abs. 2 BGB im internationalen Kontext Schließlich zeigt der Blick in das Internationale Privatrecht (IPR), dass ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB von den Entwurfsverfassern nicht beabsichtigt sein dürfte, da dieser bei den meisten in Betracht kommenden Sachverhalten von vornherein nicht anwendbar wäre.58 Das IPR gibt bei Fallgestaltungen, die einen Bezug zu mehreren Staaten aufweisen, u. a. Antwort auf die Frage, welches materielle Recht auf die Streitigkeit anwendbar ist („Kollisionsrecht“).59 In den hier insbesondere interessierenden Fallkonstellationen, in denen Menschenrechte bei mittelbaren Zuliefern im Ausland verletzt werden, führt dies im Ergebnis in aller Regel dazu, dass nicht deutsches Deliktsrecht, sondern das Recht des Staates Anwendung fände, in denen sich die Verletzung ereignet hat.60 Dies folgt aus den Vorgaben der sogenannten Rom-II Verordnung,61 einem in Deutschland unmittelbar anwendbaren europäischen Rechtsakt, der den beteiligten Mitgliedsstaaten universelle Regeln zur Anwendung ausländischen Sachrechts aufgibt.62 Die einzige Möglichkeit für eine vollumfängliche Anwendung von deutschem Sachrecht und somit auch von § 823 Abs. 2 BGB bestände in der Gestaltung einer „Eingriffsnorm“ durch den deutschen Gesetzgeber (Art. 16 Rom-II Verordnung).63 Eine solche Norm sollte gemäß Eckpunktepapier das BMAS und BMZ aus dem März 2020 zunächst auch Eingang in ein Sorgfaltspflichtengesetz finden.64 57 BMZ, Fragen und Antworten zum Lieferkettengesetz, Stand: 3. März 2021, S. 5, abrufbar unter: https://www.bmz.de/de/entwicklungspolitik/lieferkettengesetz. 58 Entsprechend wird das IPR in der Literatur auch als „Achillesferse“ eines Lieferkettengesetzes bezeichnet (Hübner , Bausteine eines künftigen Lieferkettengesetzes, NZG 2020, S. 1411, 1416). 59 Definition im Wesentlichen übernommen von Bach/Huber, Internationales Privatrecht, 2020, Randnummer 1. 60 Im Hinblick auf die Übersichtlichkeit der Darstellung wird auf eine nähere Herleitung dieses Ergebnisses verzichtet . Eine Kurzbegründung findet sich etwa bei Monnheimer/Nedelcu, Wirtschaft und Menschenrechte – Kommt ein Sorgfaltspflichtengesetz?, ZRP 2021, S. 205, 206. Vgl. für eine ausführliche Begründung bspw. Habersack /Ehrl (Fußnote 16), S. 180 ff. 61 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht – „Rom II“ (ABl. L 199 S. 40, ber. 2012 L 310 S. 52), abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A02007R0864-20090111. 62 Vgl. Art. 3 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB), abrufbar unter: https://www.gesetze-iminternet .de/bgbeg/ in Verbindung mit Art. 3 Rom II-Verordnung. 63 Ausführlich Rudkowski, Arbeitsbedingungen in den globalen Lieferketten – Verantwortung deutscher Unternehmen de lege lata und de lege ferenda, Recht der Arbeit (RdA) 2020, S. 232, 236 ff. 64 Eckpunktepapier (Fußnote 56), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 14 Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist eine solche Eingriffsnorm eine „zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.“65 Dabei sei eine enge Auslegung geboten.66 Wie im Kontext der zivilrechtlichen Haftung von Menschenrechtsverletzungen eine solche Norm gerichtsfest zu gestalten wäre, wird in mehreren rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen diskutiert .67 Im vorliegenden Entwurf fehlt es jedoch – wie gezeigt – bereits an einer zwingenden Haftungsvorschrift irgendeiner Art, wie auch das BMZ zur jetzigen Konzeption des Sorgfaltspflichtengesetz -E nunmehr feststellt.68 Angesichts dieser Klarstellung dürfte kein Spielraum mehr für das Hineinlesen einer Eingriffsnorm in das Sorgfaltspflichtengesetz-E bestehen. Dementsprechend wäre nach allgemeinen Kollisionsrecht § 823 Abs. 2 BGB auf Auslandssachverhalte grundsätzlich nicht anwendbar. Dies lässt einmal mehr in Zweifel ziehen, ob die Bundesregierung, die sich dieses Umstandes gemäß dem bereits benannten Eckpunktepapier69 bewusst war, tatsächlich im Gesetzentwurf aufgestellte Pflichten als Schutzgesetz ausweisen wollte. 2.4. Fazit Trotz einiger ambivalenter Begründungspassagen der Entwurfsfassung dürfte die Qualifizierung von Pflichten im Sorgfaltspflichtengesetz-E als Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB im Ergebnis mangels entsprechender Zweckrichtung kaum vertretbar sein. 3. Einzelfragen zur besonderen Prozessstandschaft im Sorgfaltspflichtengesetz-E Des Weiteren ist fraglich, inwieweit die besondere Prozessstandschaft in § 11 des Entwurfes den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine gewillkürte Prozessstandschaft entspricht und die Betroffenen „Herren des Verfahrens“ bleiben. 3.1. Zivilrechtliche Grundlagen Die Prozessstandschaft ist im Zivilprozessrecht nicht ausdrücklich niedergelegt. Sie lässt sich nur vor der – ebenfalls nur implizit gesetzlich anerkannten – Prozessvoraussetzung der Prozess- 65 EuGH, Urteil vom 31. Januar 2019 – C-149/18 –, Randnummer 27 (zitiert nach juris) [Hervorhebungen diesseits]. 66 Ebenda, Randnummer 29. 67 Siehe etwa Mittwoch, Die Notwendigkeit eines Lieferkettengesetzes aus der Sicht des Internationalen Privatrechts , Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2020, S. 397, 402 f.; Rudkowski (Fußnote 63), ebenda; Keilmann /Schmidt (Fußnote 17), S. 720 f. 68 Siehe bereits Fußnote 57. 69 Siehe bereits Fußnote 56. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 15 führungsbefugnis erklären. Die Prozessführungsbefugnis ist das Recht, einen Prozess als die richtige Partei im eigenen Namen zu führen.70 Denn im Zivilprozess ist grundsätzlich jeder parteifähig , wer rechtsfähig ist.71 Auf Basis dieses formellen Parteibegriffes könnten prinzipiell unbeschränkt auch fremde Rechte für jemand anderes eingeklagt werden, es bestände die Möglichkeit von sogenannten Popularklagen.72 Das Erfordernis der Prozessführungsbefugnis sorgt somit dafür , dass von vornherein nur eigene Ansprüche eingeklagt werden können. Die Geltendmachung fremder Rechte im eigenen Namen wird dagegen als Prozessstandschaft bezeichnet.73 Diese ist somit streng von der Anspruchsberechtigung in der Sache (Sachlegitimation) zu trennen und sagt insbesondere hierüber nichts aus. Der Verlust der „Verfahrensherrschaft“ des Anspruchsinhabers ist jedoch gerade das Prinzip einer jeden Prozessstandschaft.74 Erfolgt die Prozessstandschaft kraft gesetzlicher Ermächtigung, spricht man von gesetzlicher Prozessstandschaft, auf Grund einer Ermächtigung seitens des Inhabers des Rechts von gewillkürter Prozessstandschaft.75 Gesetzliche Prozessstandschaften finden sich u. a. verstreut in einer Vielzahl zivilrechtlicher Gesetze .76 Dabei gibt es keine einheitliche Systematik, sondern die Voraussetzungen unterscheiden sich teilweise erheblich (z.B. fremdnützig (Innehaben eines bestimmten Amtes) oder eigennützig (Mitinhaberschaft eines Rechts)).77 In bestimmten Rechtsgebieten wie dem gewerblichen Rechtsschutz besteht im Übrigen sogar vereinzelt die gesetzliche Ermächtigung zur Erhebung von Popularklagen im öffentlichen Interesse ohne besondere Beziehung zum Klagegegenstand.78 Die Figur der gewillkürten Prozessstandschaft ist nach ständiger Rechtsprechung zulässig, wenn der Prozessführende vom Rechtsinhaber zur Prozessführung im eigenen Namen ermächtigt worden ist, ein eigenes schutzwürdiges Interesse an ihr hat und die Geltendmachung des fremden Rechts offenlegt.79 70 Groh, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 26. Auflage 2021, Stichwort „Prozessführungsbefugnis“. 71 § 50 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/zpo/. 72 Weth, in: Musielak/Voit, ZPO – Kommentar, 18. Auflage 2021, § 50 ZPO, Randnummer 3. Vgl. zum Begriff der Popularklage Weber, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 26. Auflage 2021, Stichwort „Popularklage“. 73 Weth, in: Musielak/Voit, ZPO – Kommentar, 18. Auflage 2021, § 51 ZPO, Randnummer 16. 74 Ebenda, Randnummern 24, 31 unter Bezugnahme auf das Oberlandesgericht (OLG) Hamm, Urteil vom 4. November 1987 – 12 UF 103/87 –, (zitiert nach juris). 75 Weth, in: Musielak/Voit, ZPO – Kommentar, 18. Auflage 2021, § 51 ZPO, Randnummer 16. 76 Aktueller Überblick bei Hübsch, in: Beck’scher Online-Kommentar ZPO, 40. Edition (Stand: 1. März 2021), § 51 ZPO, Randnummern 36 ff. 77 Ebenda. 78 Überblick bei Schulze, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze – Großkommentar, 4. Auflage, Band 2, § 51 ZPO, Randnummern 45 f. 79 Zuletzt BGH, Urteil vom 7. März 2017 – VI ZR 125/16 –, Randnummer 8 mit Nachweisen zur ständigen Rechtsprechung (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 040/21 Seite 16 3.2. Rechtmäßigkeit im Einzelnen Gemäß der Entwurfsbegründung handelt es sich bei der „besonderen Prozessstandschaft“ aus § 11 Sorgfaltspflichtengesetz-E „um einen besonderen Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft , die lediglich die wirksame Ermächtigung des Betroffenen voraussetzt.“80 Hierdurch werden ein, aber nicht alle Elemente der gewillkürten Prozessstandschaft in das gesetzgeberische Instrument der gesetzlichen Prozessstandschaft integriert. Soweit ersichtlich ist eine solche Prozessstandschaft dem Zivilrecht bisher unbekannt. Dennoch handelt es sich um eine ausdrücklich normierte gesetzliche Prozessstandschaft, sodass dementsprechend die Erfüllung der Voraussetzungen der gewillkürten Prozessstandschaft entbehrlich ist. Im Ergebnis dürfte darin auch kein Verstoß gegen höherrangiges Recht liegen, insbesondere nicht gegen verfassungsrechtliche Prinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG)81). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) führt jedenfalls explizit in Bezug auf das Verfassungsprozessrecht aus, dass es sich beim auch dort geltenden Grundsatz der Prozessführungsbefugnis um einen „allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsatz“ handele.82 Die Prozessstandschaft bedürfe der ausdrücklichen gesetzlichen Zulassung.83 Weitere Anforderungen, insbesondere aus höherrangigem Verfassungsrecht, nennt das BVerfG jedoch nicht. * * * 80 BT-Drs. 19/28649 (Fußnote 1), S. 51. 81 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 u. 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/. 82 Zuletzt BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 –, Randnummer 200 mit weiteren Nachweisen zur eigenen Rechtsprechung (zitiert nach juris). 83 Ebenda.