Deutscher Bundestag Das Umgangsrecht des biologischen Vaters nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 21. Dezember 2010 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 7 – 3000 – 032/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 032/11 Seite 2 Das Umgangsrecht des biologischen Vaters nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 21. Dezember 2010 Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 7 – 3000 – 032/11 Abschluss der Arbeit: 11. März 2011 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 032/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Ausgangslage im deutschen Recht nach dem Beschluss des BVerfG vom 9. April 2003 4 2.1. Wesentlicher Entscheidungsinhalt 4 2.2. Gesetzgeberische Aktivitäten 5 2.3. Reaktionen in der Literatur 5 3. Urteil des EGMR vom 21. Dezember 2010 6 3.1. Sachverhalt 6 3.2. Die Entscheidung des EGMR 6 4. Zusammenfassung 7 5. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf und Ausblick 7 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 032/11 Seite 4 1. Einleitung Voraussetzungen und Reichweite des Umgangsrechtes von biologischen Vätern sind mehrmals Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen gewesen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 20031 zu den Rechten des biologischen Vaters Stellung genommen und eine Anpassung des Gesetzes gefordert hatte, hat der Gesetzgeber mit Blick auf das Recht des biologischen Vaters auf Umgang mit dem Kind § 1685 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)2 neu gefasst. Ende vergangenen Jahres hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit dem Recht der biologischen Väter auf Umgang mit ihren Kindern beschäftigt und die Entscheidung deutscher Gerichte, dem biologischen Vater den Umgang mit seinen Kindern zu verwehren, als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)3 gerügt.4 Wie das Urteil des EGMR sich zum Beschluss des BVerfG verhält und welche konkreten Folgen sich aus der EGMR-Entscheidung für die geltende deutsche Gesetzeslage ergeben, ist Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung. 2. Ausgangslage im deutschen Recht nach dem Beschluss des BVerfG vom 9. April 2003 2.1. Wesentlicher Entscheidungsinhalt Das BVerfG hat mit seiner Entscheidung die Rechtsstellung des biologischen Vaters verbessert und den Gesetzgeber aufgefordert, die maßgeblichen Vorschriften (§§ 1600, 1685, 1711 BGB) zu ändern. Mit Blick auf das vorliegend in Rede stehende Umgangsrecht des biologischen Vaters ist das Verfassungsgericht zu folgendem Urteil gelangt: Der biologische Vater bildet mit dem Kind eine Familie im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 GG, sofern tatsächlich eine soziale Beziehung zum Kind besteht, „die darauf beruht, dass er zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen hat. Artikel 6 Absatz 1 GG schützt den leiblichen Vater wie das Kind in ihrem Interesse am Erhalt dieser sozial-familiären Beziehung und damit am Umgang miteinander“.5 Auch wenn faktisch für den leiblichen Vater keine Möglichkeit mehr besteht, Verantwortung für das Kind zu übernehmen (etwa weil die gesetzlichen Eltern dies nicht zulassen), ist das „Interesse des bisher familiär mit dem Kind verbundenen biologischen Vaters ebenso wie das Interesse seines Kindes am Erhalt dieser Beziehung zueinander […] in Nachwirkung des Schutzes, den 1 Beschluss des BVerfG vom 9. April 2003 (1 BvR 1493/96). 2 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2902), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 28. September 2009 (BGBl. I S. 34). 3 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198). 4 Kammerurteil des EGMR vom 21. Dezember 2010 (20578/07), abgedruckt in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) 2011, S. 269. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da die Rechtsmittelfrist noch nicht abgelaufen ist. 5 BVerfG (Fn.1), Rn. 89. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 032/11 Seite 5 zuvor deren familiäre Verantwortungsgemeinschaft erfahren hat, von Art. 6 GG geschützt,“ so das Gericht weiter.6 Aus diesem nachwirkenden Schutz folge ein Recht des biologischen Vaters auf Umgang mit seinem Kind jedenfalls dann, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. Der Erhalt einer bereits bestehenden Beziehung zwischen biologischen Vater und Kind fällt nach Ansicht des Verfassungsgerichtes also unter den Schutz von Artikel 6 GG.7 Zu der Frage, ob allein die Absicht, eine sozial-familiäre Beziehung zum Kind aufzubauen, in den Schutzbereich der Grundrechte fallen kann, bezieht das BVerfG weder ausdrücklich noch implizit Stellung. 2.2. Gesetzgeberische Aktivitäten Der Gesetzgeber hat nach der Aufforderung durch das BVerfG eine Gesetzesänderung vorgenommen .8 Zwar wurde das Umgangsrecht des biologischen Vaters nicht explizit geregelt, aber der Kreis der Umgangsberechtigten wurde wesentlich ausgeweitet. Nach § 1685 Absatz 2 BGB haben enge Bezugspersonen des Kindes nunmehr ein Recht auf Umgang nach Maßgabe des Kindeswohls , wenn diese für das Kind tatsächlich Verantwortung tragen oder getragen haben. 2.3. Reaktionen in der Literatur Das Urteil des BVerfG und die damit einhergehende Stärkung der Rechte des biologischen Vaters sind in der Literatur weitestgehend begrüßt worden.9 Vereinzelt wurde allerdings bedauert, dass das BVerfG nicht darüber hinaus auch das Interesse des biologischen Vaters an Aufnahme einer Beziehung zum Kind thematisiert hat.10 Es sei nicht allein die Fortsetzung einer bereits bestehenden familiären Beziehung des Vaters zu seinem Kind grundrechtlich geschützt, „sondern nicht minder das Bestreben, eine solche Beziehung überhaupt erst herzustellen und aufzubauen“11. Die Folge davon sei, dass dem Vater ein entsprechendes Umgangsrecht eingeräumt werden müsse. Das gelte jedenfalls dann, wenn das bisherige Fehlen einer solchen Beziehung nicht vom leiblichen Vater zu verantworten ist, sondern zum Beispiel auf die Weigerung der Mutter zurückgeht, einen solchen Kontakt zuzulassen. 6 BVerfG (Fn. 1), Rn. 94. 7 BVerfG (Fn.1), Rn. 95. 8 „Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes“ vom 23. April 2004 (BGBl. I S. 598), vgl. auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache (BT-Drs.) 15/2253, S. 7 ff. 9 Vgl. statt vieler Motzer, in: Familie, Partnerschaft und Recht (FPR) 2007, S. 275 ff. (278). 10 Roth, in: Neue Juristische Wochenzeitschrift (NJW) 2003, S. 3153 ff. 11 Roth (Fn. 10), S. 3160. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 032/11 Seite 6 3. Urteil des EGMR vom 21. Dezember 2010 3.1. Sachverhalt Die Entscheidung des EGMR geht auf den Antrag eines Nigerianers zurück, der leiblicher Vater von Zwillingen ist, die aus einer etwa zweijährigen Beziehung mit einer verheirateten Deutschen stammen. Diese brachte die Kinder zur Welt, nachdem sie sich von dem Beschwerdeführer getrennt hatte. Sie zog die Kinder gemeinsam mit ihrem Ehemann auf, mit dem sie drei weitere Kinder hat. Der Ehemann ist auch der rechtliche Vater der Zwillinge. Vor und nach der Geburt bat der Beschwerdeführer das Ehepaar, ihm Umgang mit seinen Kindern zu gewähren. Das Ehepaar lehnte dies jedoch ab.12 3.2. Die Entscheidung des EGMR Der EGMR stellte im Kammerurteil eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützt. Nach dem Urteil des Gerichtshofes kann auch ein nur beabsichtigtes Familienleben unter den Schutz von Artikel 8 EMRK fallen, „wenn der Umstand, dass das Familienleben nicht hergestellt ist, nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist“.13 Artikel 8 EMRK gewährleistet das Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Der Umgang der Eltern mit ihren Kindern fällt in den Schutzbereich dieser Vorschrift. Zwar reiche die biologische Verwandtschaft zwischen einem leiblichen Elternteil und einem Kind allein nicht aus, um unter den Schutz von Art. 8 EMRK zu fallen, in der Regel sei das Zusammenleben Voraussetzung für eine Beziehung, die einem Familienleben gleichkommt. Gleichwohl falle aber, so der Gerichtshof weiter, ein nur beabsichtigtes Familienleben dann ausnahmsweise unter den Schutz von Artikel 8 EMRK, wenn der Umstand, dass das Familienleben noch nicht vollständig hergestellt war, nicht dem biologischen Vater zuzurechnen ist. Das „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 EMRK könne demnach auch die potenzielle Beziehung, die sich zwischen einem Kind und dessen leiblichen Vater entwickeln kann, umfassen. Neben den Rechten der gesetzlichen Eltern und den Rechten des Kindes können demnach auch die Rechte des biologischen Vaters von Artikel 8 EMRK geschützt sein. Auf Grundlage dieser Rechtsauffassung hatte der EGMR zu überprüfen, ob die innerstaatlichen Behörden bei ihrer Entscheidung einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen nach Artikel 8 EMRK gefunden haben. Nach Ansicht des Gerichtes war dies nicht der Fall: Die deutschen Gerichte haben, so der EGMR, die widerstreitenden Interessen nicht in der Weise geprüft, dass dem biologischen Vater der nach Artikel 8 EMRK erforderliche Schutz seiner Interessen in Rechnung gestellt worden wäre. Weil auch keine ausreichenden Gründe angeführt wurden, die den Eingriff in Artikel 8 EMRK rechtfertigen könnten, liegt damit eine Verletzung der Konvention vor. 12 EGMR (Fn. 5), Rn. 7. 13 EGMR (Fn. 5), Rn. 60. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 032/11 Seite 7 4. Zusammenfassung Sowohl das Urteil des BVerfG als auch die Entscheidung des EGMR verdeutlichen, dass die gesetzlichen Regelungen zum Umgangsrecht verschiedene kollidierende Interessen in einen angemessenen Ausgleich bringen müssen. Der EGMR geht ebenso wie das BVerfG davon aus, dass das Interesse des leiblichen Vaters, eine Beziehung zum Kind zu unterhalten, grundrechtlich geschützt wird. Ebenso wie die Abstammung ist aber auch die tatsächlich bestehende sozial-familiäre Verantwortungsgemeinschaft geschützt . Nach der Wertung des Grundgesetzes ist keinem der beiden Merkmale eindeutig der Vorrang einzuräumen.14 Über den vom BVerfG eingeschlagenen Weg eines nachwirkenden Schutzes der Beziehung des biologischen Vaters zu seinem Kind über Artikel 6 GG hinaus, hat der EGMR erklärt, dass auch das Interesse des biologischen Vaters, eine Beziehung zum Kind überhaupt erst aufzunehmen, jedenfalls nach den Maßstäben der EMRK besonders schutzwürdig ist. Dies gelte zumindest dann, wenn der Umstand, dass bislang noch keine Beziehung besteht, nicht dem biologischen Vater zuzuschreiben ist. Deshalb müssen die Rechte und Interessen des leiblichen Vaters im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung berücksichtigt werden. 5. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf und Ausblick Der EGMR verlangt in seinem Urteil nicht, dass dem Interesse des biologischen Vaters mehr Gewicht zugewiesen wird als den Rechten der übrigen Beteiligten. Verlangt wird allein, dass alle im konkreten Fall berührten Interessen als schützenswerte Belange auch tatsächlich in die Abwägung einfließen. Die Entscheidung über die Gewährung eines Umgangsrechtes im Rahmen des § 1685 Absatz 2 BGB orientiert sich an der Frage, ob ein Umgang dem Wohl des Kindes dient. Im Rahmen der demnach vorzunehmenden Abwägung ist nunmehr nach der Rechtsprechung des EGMR im Sinne einer konventionskonformen Auslegung auch die bloße Absicht des biologischen Vaters, einen Umgang mit dem Kind aufzunehmen, zumindest dann zu berücksichtigen, wenn der Umstand , dass bisher eine sozial-familiäre Beziehung nicht besteht, nicht ihm zuzuschreiben ist. Insoweit bietet das geltende Recht ausreichend Raum und Anhaltspunkte, um die Vorgaben der EMRK und des GG gleichermaßen zu berücksichtigen. Ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht auf Grund des EGMR-Urteils nicht. 14 Vgl. BVerfG (Fn. 1), Rn. 72.