© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 029/19 Verfassungsmäßigkeit der niedersächsischen Abschnittskontrolle („Section Control“) Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 2 Verfassungsmäßigkeit der niedersächsischen Abschnittskontrolle („Section Control“) Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 029/19 Abschluss der Arbeit: 5. März 2019 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Pilotanlage für Geschwindigkeitsüberwachungen durch Abschnittskontrollen in Niedersachsen 4 2.1. Funktionsweise 4 2.2. Rechtsgrundlage des Pilotprojekts 6 3. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur automatisierten Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle 6 3.1. Zugrundeliegender Sachverhalt 6 3.2. Zentrale Erwägungen des Senats 8 3.2.1. Grundrechtseingriff 8 3.2.2. Formelle Verfassungsmäßigkeit 10 3.2.3. Materielle Verfassungsmäßigkeit 10 4. Anwendbarkeit der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auf die Pilotanlage für Abschnittskontrollen 13 4.1. Erwägungen zum Grundrechtseingriff 13 4.2. Erwägungen zur formellen Verfassungsmäßigkeit 14 4.3. Erwägungen zur materiellen Verfassungsmäßigkeit 16 5. Fazit 18 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 4 1. Einleitung Anfang 2019 wurde in Niedersachsen eine Pilotanlage für Geschwindigkeitsüberwachungen durch Abschnittskontrollen (sogenannte „Section Control“) in Betrieb genommen.1 Beinahe zeitgleich wurde der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18.12.2018 veröffentlicht , in dem der erste Senat die automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle in Bayern für in Teilen verfassungswidrig erklärt hat.2 Nach Veröffentlichung des Beschlusses forderte die Landesbeauftragte für Datenschutz Niedersachsen (LfD), den Betrieb der Abschnittskontrolle mit sofortiger Wirkung einzustellen, da infolge des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts die rechtliche Grundlage für das Pilotprojekt weggefallen sei.3 Weiterhin wurde bereits ein Eilantrag und Klage beim Verwaltungsgericht Hannover gegen die Abschnittskontrolle eingereicht.4 Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob und inwieweit die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen Anwendung auf die Abschnittskontrollen der Pilotanlage finden könnten. Dabei soll diese Ausarbeitung lediglich Implikationen anhand des getroffenen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts aufzeigen, die Verfassungsmäßigkeit des Pilotprojekts als solche kann nicht bewertet werden. 2. Pilotanlage für Geschwindigkeitsüberwachungen durch Abschnittskontrollen in Niedersachsen 2.1. Funktionsweise Die Zentrale Polizeidirektion Niedersachsen hat an der Bundesstraße 6 (B6) in der Region Hannover im Dezember 2018 eine Pilotanlage der sogenannten Abschnittskontrollen zur Geschwindig- 1 Vgl. Presseinformation des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Neue Abschnittskontrolle „Section Control“ geht an der B6 in Betrieb“, 19.12.2018, abrufbar unter: https://www.mi.niedersachsen .de/aktuelles/presse_informationen/neue-abschnittskontrolle-section-control-geht-an-der-b6-in-betrieb -172475.html; Presseinformation des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Test für „Section Control“ abgeschlossen – Pilotphase über 18 Monate startet am Montag“, 11.01.2019, abrufbar unter: https://www.mi.niedersachsen.de/aktuelles/presse_informationen/test-fuer-section-control-abgeschlossen --pilotphase-ueber-18-monate-startet-am-montag--172849.html (Stand dieser und sämtlicher nachfolgender Online-Quellen: 28.02.2019). 2 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/12/rs20181218_1bvr014215.html. 3 Vgl. „Landesbeauftragte fordert: Pilotbetrieb von Section Control sofort beenden“, Presseinformationen der Landesbeauftragten Niedersachsen (LfD), 06.02.2019, abrufbar unter: https://www.lfd.niedersachsen.de/startseite /allgemein/presseinformationen/section_control/nach-beschluss-des-bundesverfassungsgerichts- 173715.html. 4 Vgl. „„Section Control“: Klage gegen Streckenradar“, NDR.de, 19.02.2019, abrufbar unter: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Section-Control-Klage-gegen-Streckenradar ,sectioncontrol124.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 5 keitsüberwachung in Betrieb genommen und im Januar 2019 mit der Geschwindigkeitsüberwachung begonnen.5 Die Pilotphase ist auf maximal 18 Monate begrenzt.6 Bei diesen Abschnittskontrollen werden automatische Messungen der Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrzeugen auf einem ausgewählten Streckenabschnitt vorgenommen.7 Hierfür wird jedes einfahrende Fahrzeug zunächst von einer Radaranlage von hinten fotografiert und ein Zeitstempel erzeugt, sobald sich das Heck im Messfeld der Anlage befindet.8 Nach Ausfahrt aus dem Streckenabschnitt läuft diese Erfassung erneut ab und es wird ein zweiter Zeitstempel erzeugt.9 Aus der Differenz der Stempelzeiten kann durch die bekannte Streckenlänge die Durchschnittsgeschwindigkeit des Fahrzeugs errechnet werden.10 Die erhobenen Daten werden nach Erfassung verschlüsselt und elektronisch signiert.11 Dabei werden die KFZ-Kennzeichen durch mathematische „Hashfunktionen“ in sogenannte„Hashwerte“12 gewandelt, die zwar eindeutig für das erfasste Kennzeichen sind, aber keine Rückschlüsse auf das Originalkennzeichen zulassen.13 Die erfassten Kennzeichen von Fahrzeugen, bei denen kein Geschwindigkeitsverstoß festgestellt werden konnte, werden automatisiert zum technisch frühestmöglichen Zeitpunkt gelöscht.14 Wurde dagegen ein Geschwindigkeitsverstoß festgestellt, so wird durch Kameras ein weiteres Front- und Heckfoto vom Fahrzeug aufgenommen. In diese Fotos werden die relevanten Daten des Geschwindigkeitsverstoßes integriert und in einer Falldatei gesichert.15 5 Siehe Fußnote 1. 6 Vgl. Presseinformation des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Test für „Section Control“ abgeschlossen – Pilotphase über 18 Monate startet am Montag“, 11.01.2019, siehe Fußnote 1. 7 Märtens/Wynands: Abschnittskontrolle: Amtliche Überwachung der Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrzeugen , Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (NZV) 2019, 83 (83). 8 Siehe Fußnote 7, Seite 84. 9 Siehe Fußnote 7, Seite 84. 10 Siehe Fußnote 7, Seite 84. 11 Siehe Fußnote 7, Seite 84. 12 Für nähere Informationen zu den „Hashfunktionen“ und „Hashwerten“ vgl. auch: Czernik, Hashwerte und Hashfunktionen einfach erklärt, Datenschutzbeauftrager Info, abrufbar unter: https://www.datenschutzbeauftragter -info.de/hashwerte-und-hashfunktionen-einfach-erklaert/#comments. 13 Siehe Fußnote 7, Seite 84. 14 Siehe Fußnote 7, Seite 84. 15 Siehe Fußnote 7, Seite 84. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 6 2.2. Rechtsgrundlage des Pilotprojekts Nach Angaben des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport sei ausreichende Rechtsgrundlage der Abschnittskontrollen zum Zwecke der Verkehrsüberwachung für die Dauer des Pilotbetriebs von 18 Monaten die polizeiliche Generalermächtigung nach § 11 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NSOG)16.17 Für einen Dauerbetrieb über das Pilotprojekt hinaus seien durch den niedersächsischen Landesgesetzgeber bereits konkrete Schritte zur Schaffung einer speziellen Rechtsgrundlage eingeleitet worden.18 Als neue Rechtsgrundlage sei § 32 Abs. 6 des neuen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes Niedersachsen vorgesehen, das derzeit im niedersächsischen Landtag beraten werde.19 3. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur automatisierten Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle Mit Beschluss vom 18.12.201820 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle nach dem Bayerischen Polizeiaufgabengesetz (BayPAG)21 für in Teilen verfassungswidrig erklärt. 3.1. Zugrundeliegender Sachverhalt Durch das BayPAG ist die Polizei ermächtigt, sogenannte automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen durchzuführen, bei denen das Kennzeichen jedes vorbeifahrenden Kraftfahrzeugs verdeckt und automatisiert erfasst wird, kurzzeitig mit Angaben zum Ort, Datum, Uhrzeit und 16 Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) vom 19.01.2005 (Nds. GVBl. 2005, 9), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 16.05.2018 (Nds. GVBl. S. 66), abrufbar unter: http://www.nds-voris.de/jportal/portal/t/oi5/page/bsvorisprod.psml/action/portlets.jw.MainAction ?p1=0&eventSubmit_doNavigate=searchInSubtreeTOC&showdoccase=1&doc.hl=0&doc.id=jlr-SOGNDrahmen &doc.part=R&toc.poskey=#focuspoint. 17 Vgl. Handout des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Verkehrsüberwachung durch Abschnittskontrolle – Pilotprojekt in Niedersachsen“, Stand: 19.12.2018, Seite 5, abrufbar unter: file://na07-jkh-fs01/u_daten$/wd7-pc-02-ma01/Dokumente/Handout_zu_PI_217.pdf. 18 Siehe Fußnote 17, Seite 5, 6. 19 Vgl. „Landesbeauftragte fordert: Pilotbetrieb von Section Control sofort beenden“, Presseinformationen der Landesbeauftragten Niedersachsen (LfD), 06.02.2019, siehe Fußnote 3; andere Angaben in: Brenner, Section Control - Verfassungsrechtliche Vorgaben und kompetenzrechtliche Risiken, Deutsches Autorecht (DAR) 02/2019, 61, (62): danach soll künftig § 32 Abs. 8 des neuen niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes Rechtsgrundlage werden. 20 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2. 21 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – BayPAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl. S. 397 BayRS 2012-1-1-I), zuletzt geändert durch § 1 des Gesetzes vom 18.05.2018 (GVBl. S. 301, 434), abrufbar unter: http://www.gesetze-bayern.de/Content /Document/BayPAG/true (Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich auf die Fassung des BayPAG vom 22.07.2014). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 7 Fahrtrichtung gespeichert wird und mit dem Fahndungsbestand abgeglichen wird.22 Die Abgleichdatei wird unmittelbar und automatisiert gelöscht, wenn der Abgleich keinen Treffer ergeben hat („Nichttrefferfall“).23 Wird vom System ein Treffer gemeldet, prüft ein Polizeibeamter noch einmal, ob es sich tatsächlich um einen Treffer handelt.24 Ist dies nicht der Fall („Unechter Trefferfall“), wird der Vorgang manuell von dem Polizeibeamten gelöscht.25 Handelt es sich hingegen um einen Treffer („Echter Trefferfall“), so wird der Datensatz gespeichert und gegebenenfalls für weitere polizeiliche Maßnahmen verwendet.26 Fahrzeughalter und Fahrzeugführer werden über die Kontrolle nicht informiert.27 Der Beschwerdeführer ist Halter eines Kraftfahrzeugs mit Wohnsitz in Bayern und befürchtet, in solche automatisierten Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen zu geraten.28 Vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts hat der Beschwerdeführer bereits erfolglos Klagen vor den Verwaltungsgerichten mit dem Antrag, den Freistaat Bayern zum Unterlassen der Kontrollen zu verurteilen, erhoben .29 Mit seiner Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1, Nr. 4a des Grundgesetzes (GG)30 wendet sich der Beschwerdeführer unmittelbar gegen die drei verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die seinen Antrag, den Freistaat Bayern zum Unterlassen der Kennzeichenkontrollen nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz zu verurteilen, abgewiesen 22 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/1, siehe Fußnote 2, Rn. 2, 6. 23 Siehe Fußnote 2, Rn. 7. 24 Siehe Fußnote 2, Rn. 7. 25 Siehe Fußnote 2, Rn. 7. 26 Siehe Fußnote 2, Rn. 7. 27 Siehe Fußnote 2, Rn. 7. 28 Siehe Fußnote 2, Rn. 14. 29 Urteil des Bayerischen Veraltungsgerichts München vom 23.09.2009, Az.: M 7 K 08.3052; Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17.12.2012, Az.: 10 BV 09.2641; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.10.2014, Az.: BVerwG 6 C 7.13. 30 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 13.07.2017 (BGBl. I S. 2347), abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 8 haben.31 Mittelbarer Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde sind damit auch die Rechtsgrundlagen 32 der Kennzeichenkontrollen nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz.33 Er rügt in seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG, darüber hinaus zweifelt er die Gesetzgebungskompetenz des Freistaats Bayern an und hält die Rechtsgrundlage für zu unbestimmt und unverhältnismäßig .34 3.2. Zentrale Erwägungen des Senats 3.2.1. Grundrechtseingriff In der Durchführung der automatisierten Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz liegt ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG des Beschwerdeführers.35 Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf sensible personenbezogene Daten beschränkt, denn „unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung (gibt es) kein schlechthin, also ungeachtet des Verwendungskontextes , belangloses personenbezogenes Datum mehr“.36 Durch die Kontrollen werden dem jeweiligen Fahrzeughalter zuordenbare Kennzeichen erfasst, aus denen etwa Name oder Anschrift ermittelt werden können.37 Für die Eröffnung des Schutzbereichs ist allein maßgeblich, dass sich das Datum eindeutig dem Halter des Fahrzeugs zuordnen lässt.38 Die Kontrollen erfassen Kennzeichen, Ort, Datum, Uhrzeit und Fahrtrichtung, die mittels einer Abfrage eindeutig dem Halter zugeordnet werden können und fallen damit in den Schutzbereich.39 31 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 1. 32 Die Rechtsgrundlagen sind: Art. 33 Abs. 2, Satz 2 – 5, Art. 13 Abs. 1, Nr. 1 – 5, Art. 38 Abs. 3 des BayPAG in der alten Fassung vom 22.07.2014 (a.F.); Art. 33 Abs. 2, Satz 2 – 5 und Art. 38 Abs. 3 BayPAG a.F. wurden in Art. 39 Abs. 1 und Abs. 3, Satz 1 . 3 BayPAG in der neuen Fassung vom 18.05.2018 (n.F.) zusammengefasst, an Art. 13 wurden lediglich redaktionelle Änderungen vorgenommen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, Rn. 5). 33 Siehe Fußnote 2, Rn. 1. 34 Siehe Fußnote 2, Rn. 21-24. 35 Siehe Fußnote 2, Rn. 35. 36 Siehe Fußnote 2, Rn. 38 (gibt die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder, vgl. etwa: Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 11.03.2008, Az.: 1 BvR 2074/05, Rn. 66). 37 Siehe Fußnote 2, Rn. 40. 38 Siehe Fußnote 2, Rn. 40. 39 Siehe Fußnote 2, Rn. 40. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 9 Ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung liegt jeweils sowohl in der Erfassung des Kennzeichens und als auch in dem Abgleich mit dem Fahndungsbestand.40 Die Erfassung würde nur dann nicht in den Schutzbereich des Grundrechts eingreifen, wenn „Daten ungezielt und allein technikbedingt zunächst miterfasst, aber unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder anonym, spurenlos und ohne Erkenntnisinteresse für die Behörden ausgesondert werden“.41 Vorliegend ist die Erfassung größerer Datenmengen zur Erfassung einer kleinen Treffermenge notwendig und als solche nicht allein technikbedingt, sodass bereits die Datenerhebung in das Grundrecht eingreift.42 Ein weiterer Eingriff liegt im Abgleich der Daten und der folgenden Verwendung.43 Zwar ist ein solcher nur dann zu bejahen, wenn sich das behördliche Interesse an den Daten „spezifisch verdichtet “ hat.44 Bei Kontrollvorgängen wie der Kennzeichenkontrolle ist eine solche Verdichtung des behördlichen Interesses jedoch gegeben.45 Das Bundesverfassungsgericht stellt in Abkehr seiner bisherigen Rechtsprechung klar, dass ein Grundrechtseingriff gegenüber jedem Erfassten vorliegt, unabhängig davon, ob ein „Nichttreffer“, ein „unechter Treffer“ oder ein „echter Treffer“ durch die Kontrolle festgestellt wird.46 Hierzu führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Die Einbeziehung auch der Daten von Personen, deren Abgleich letztlich zu Nichttreffern führt, erfolgt nicht ungezielt und allein technikbedingt, sondern ist notwendiger und gewollter Teil der Kontrolle und gibt ihr als Fahndungsmaßnahme erst ihren Sinn.“47 Weiter heißt es: „Dem steht auch nicht entgegen, dass den Betroffenen im Nichttrefferfall wegen der sofortigen Löschung aller Daten weder Unannehmlichkeiten noch Konsequenzen erwachsen. Denn das ändert nichts daran, dass sie durch die Kennzeichenkontrolle einer staatlichen Maßnahme unterzogen werden, mit der sich ihnen gegenüber ein spezifisches Fahndungsinteresse zur Geltung bringt. (…) Zugleich wird ihre ungehinderte Weiterfahrt unter den 40 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 42. 41 Siehe Fußnote 40, Rn. 43 (gibt die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder, vgl. etwa: Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 04.04.2006, Az.: 1 BvR 518/02, Rn. 74). 42 Siehe Fußnote 2, Rn. 43. 43 Siehe Fußnote 2, Rn. 44. 44 Siehe Fußnote 2, Rn. 48. 45 Siehe Fußnote 2, Rn. 49. 46 Siehe Fußnote 2, Rn. 45. 47 Siehe Fußnote 2, Rn. 50. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 10 Vorbehalt gestellt, dass Erkenntnisse gegen sie nicht vorliegen. Eine solche Maßnahme ist nicht erst hinsichtlich ihrer Folgen, sondern als solche freiheitsbeeinträchtigend.“48 Daher greifen die Kennzeichenkontrollen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aller Erfassten ein und bedürfen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.49 3.2.2. Formelle Verfassungsmäßigkeit Die betroffenen Art. 33 Abs. 2, Satz 2 – 5 und Art. 38 Abs. 3 BayPAG a.F. sind in formeller Hinsicht überwiegend mit der Verfassung vereinbar.50 Es handelt sich bei den Vorschriften um solche der Gefahrenabwehr, für die die Länder grundsätzlich gemäß Art. 70 Abs. 1 GG die Gesetzgebungskompetenz besitzen.51 Bei der vorzunehmenden Abgrenzung zwischen der Bundesmaterie der Strafverfolgung und der Landesmaterie der Gefahrenabwehr ist maßgeblich auf den Zweck der Vorschrift abzustellen.52 Da Gefahrenabwehr und Strafverfolgung eng beieinanderliegen, können sich die Regelungsbefugnisse von Bund und Ländern überschneiden.53 Schwerpunkt der untersuchten Vorschriften ist jedoch die Gefahrenabwehr, sodass dem Bayerischen Gesetzgeber insofern die Gesetzgebungskompetenz zustand.54 Allein dass Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 BayPAG a.F. das Ziel der Unterbindung der unerlaubten Überschreitung der Landesgrenzen vorgibt, überschreitet die Gesetzgebungskompetenz des Freistaats Bayern, denn für diese Regelungsmaterie liegt die Gesetzgebungskompetenz ausschließlich beim Bund, Art. 73 Abs. 1, Nr. 5 GG.55 3.2.3. Materielle Verfassungsmäßigkeit Die angegriffenen Vorschriften des BayPAG sind materiell nicht in jeder Hinsicht mit der Verfassung vereinbar.56 Die festgestellten Eingriffe müssen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen, der dann gewahrt ist, wenn Maßnahmen einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet sind, diesen Zweck zu 48 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 51. 49 Siehe Fußnote 2, Rn. 51. 50 Siehe Fußnote 2, Rn. 54. 51 Siehe Fußnote 2, Rn. 59, 62. 52 Siehe Fußnote 2, Rn. 66. 53 Siehe Fußnote 2, Rn. 71. 54 Siehe Fußnote 2, Rn. 75. 55 Siehe Fußnote 2, Rn. 56. 56 Siehe Fußnote 2, Rn. 81. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 11 erreichen, erforderlich zur Zweckerreichung sind und verhältnismäßig im engeren Sinne sind.57 Weiter müssen insbesondere Normen, die die Datenverarbeitung betreffen, auch die Grundsätze der Normenklarheit und der Bestimmtheit erfüllen.58 Die Vorschriften dienen den in Art. 13. Abs. 1, Nr. 1-5 BayPAG a.F. aufgeführten legitimen Zwecken der Abwehr von Gefahren im Einzelfall, der Eindämmung von Orten, die Rückzugs- und Ausgangspunkte für Kriminalität sind und dem Schutz von gefährdeten Orten.59 Die Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen tragen zu diesem legitimen Zweck zumindest bei und sind deshalb grundsätzlich zur Zweckerreichung geeignet.60 Weiter ist die Maßnahme auch erforderlich, da keine vergleichbar effektive Maßnahme mit einer geringeren Eingriffsintensität ersichtlich ist.61 Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt voraus, dass die Ermächtigung zu den Kontrollen begrenzt ist und übergreifende Anforderungen bei den Kontrollen beachtet werden; dem genügen die angegriffenen Vorschriften zum Teil nicht.62 Als Übermaßverbot soll durch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sichergestellt werden, dass Zweck und Eingriffsintensität in einer Gesamtbetrachtung nicht außer Verhältnis stehen.63 Daraus folgt für die Kontrollen, dass diese durch einen konkreten, objektiv bestimmten Grund veranlasst werden müssen und dem Schutz von Rechtsgütern von erheblichem Gewicht oder vergleichbar gewichtigen Interessen der Öffentlichkeit dienen müssen.64 Durch den objektiv bestimmten und begrenzten Anlass soll der Gesetzgeber eine einzuhaltende Eingriffsschwelle vorgeben.65 Ein bloßes allgemeines Interesse rechtfertigt beliebige Kontrollen demnach nicht.66 Daraus folgert das Gericht: „Die Durchführung von Kontrollen zu beliebiger Zeit und an beliebigem Ort ins Blaue hinein ist mit dem Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich unvereinbar.“67 57 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 82. 58 Siehe Fußnote 2, Rn. 82. 59 Siehe Fußnote 2, Rn. 83, 84. 60 Siehe Fußnote 2, Rn. 85, 86. 61 Siehe Fußnote 2, Rn. 88. 62 Siehe Fußnote 2, Rn. 89. 63 Siehe Fußnote 2, Rn. 90. 64 Siehe Fußnote 2, Rn. 90. 65 Siehe Fußnote 2, Rn. 91. 66 Siehe Fußnote 2, Rn. 92. 67 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 92. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 12 Allerdings stellt das Gericht diesbezüglich klar, dass anlasslose Kontrollen nicht generell ausgeschlossen sind, soweit sie etwa an ein gefährliches oder risikobehaftetes Tun oder die Beherrschung besonderer Gefahrenquellen anknüpfen.68 „Für automatisierte Kennzeichenkontrollen kommt das etwa in Betracht, wenn mit ihnen Gefahren bekämpft werden, die sich gerade aus dem Betrieb der Kraftfahrzeuge ergeben, etwa die Durchsetzung der Versicherungspflicht durch Kontrollen zum Auffinden unversicherter Fahrzeuge. Die Lage ist insoweit nicht anders als bei zahlreichen anderen, hier nicht streitgegenständlichen Arten polizeilicher Kontrollmaßnahmen wie bei anlasslos stichprobenhaft durchgeführten Straßenverkehrskontrollen oder anlasslosen Kontrollen in weiten Bereichen etwa des Umwelt- oder Wirtschaftsverwaltungsrechts.“69 Weiter setzt das Übermaßverbot voraus, dass die Kennzeichenkontrollen im Verhältnis zu ihrem Grundrechtseingriff dem Schutz eines hinreichend gewichtigen Rechtsguts dienen.70 Bei den automatisierten Kennzeichenkontrollen handelt es sich um Grundrechtseingriffe von erheblichem Gewicht.71 Zwar ist zu beachten, dass sich die Kontrollen allein auf die für jedermann erkennbaren Kennzeichen und nicht unmittelbar auf persönliche Merkmale beziehen und keinerlei unmittelbar beeinträchtigenden Folgen haben, doch sind sie nach ihrem Prinzip auf alle Personen bezogen, auch solche, die keinerlei Anlass zur Kontrolle gegeben haben.72 „Solche Informationserhebungen haben grundsätzlich eine erhöhte Eingriffsintensität.“73 Schließlich wird die Eingriffsintensität auch durch den Umstand, dass die Kontrollen verdeckt durchgeführt werden und ein Überwachungsgefühl hervorgerufen werden könnte, erhöht.74 Diese hohe Eingriffsintensität muss sich in der Bedeutung der geschützten Rechtsgüter widerspiegeln , mithin müssen diese von erheblichem Gewicht sein oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse dienen.75 Gewichtige Rechtsgüter sind Leib, Leben und Freiheit der Person und der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder.76 68 Siehe Fußnote 2, Rn. 94. 69 Siehe Fußnote 2, Rn. 94. 70 Siehe Fußnote 2, Rn. 95. 71 Siehe Fußnote 2, Rn. 96. 72 Siehe Fußnote 2, Rn. 97, 98. 73 Siehe Fußnote 2, Rn. 98. 74 Siehe Fußnote 2, Rn. 98. 75 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 99. 76 Siehe Fußnote 2, Rn. 99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 13 Für die Vorschriften des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass diese den genannten Voraussetzungen nicht in jeder Hinsicht genügen .77 So wird zunächst beanstandet, dass die Vorschriften in Teilen allein das Vorliegen einer konkreten Gefahr genügen lassen. Dies ist nach verfassungskonformer Auslegung jedoch dahingehend umzulegen, dass allein eine Gefahr für die oben genannten Rechtsgüter von erheblichem Gewicht ausreicht.78 Zudem muss der Einsatz der verdeckten Kontrollen entgegen der Vorschriften hinreichend dokumentiert werden, um die Entscheidungsgrundlagen nachweisen zu können und eine Selbstkontrolle zu befördern.79 Schließlich genügt die Verwendung der erhobenen Daten für andere Zwecke nicht vollständig den verfassungsrechtlichen Vorgaben: Zwar sind Zweckänderung dem Grundsatz nach zulässig, allerdings nur dann, wenn der anderweitig verfolgte Zweck auch dem Schutz eines erheblichen Rechtsgutes dient; dies stellen die angegriffenen Vorschriften nicht ausreichend sicher.80 4. Anwendbarkeit der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auf die Pilotanlage für Abschnittskontrollen Fraglich ist, ob und inwieweit die dargestellten Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts Anwendung auf das Pilotprojekt der Abschnittskontrollen finden könnten und damit Auswirkungen auf dessen Verfassungsmäßigkeit haben könnten. 4.1. Erwägungen zum Grundrechtseingriff Zunächst könnte durch die Abschnittskontrollen ein Grundrechtseingriff vorliegen. In Betracht käme dabei gleichermaßen ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Bei den Abschnittskontrollen werden die Kraftfahrzeuge beim Ein- und Ausfahren aus dem Messgebiet fotografiert und es wird ein Zeitstempel erzeugt. Dabei wird jeweils das Kennzeichen erfasst, was nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts auch als nicht zwingend sensibles Datum vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erfasst wird. Weiter müsste ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen. Vergleichbar mit den Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen nach dem BayPAG erfolgt die Kennzeichenerfassung bei den Abschnittskontrollen nicht allein technikbedingt und ungezielt, sondern ist gerade notwendiger Bestandteil der Kontrolle, um die Abschnittsgeschwindigkeit feststellen zu können. Das Bundesverfassungsgericht nimmt darüber hinaus in Abkehr seiner bisherigen Rechtsprechung einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für alle Betroffenen an, 77 Siehe Fußnote 75, Rn. 102. 78 Siehe Fußnote 75, Rn. 103-106. 79 Siehe Fußnote 75, Rn. 153-157. 80 Siehe Fußnote 75, Rn. 158-166. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 14 unabhängig davon, ob bei der Kennzeichenkontrolle ein „Trefferfall“ oder ein „Nichttrefferfall“ vorliegt. Dem steht auch nicht entgegen, dass im „Nichttrefferfall“ keinerlei negative Konsequenzen drohen und die Daten automatisiert gelöscht werden. In Anwendung auf die Abschnittskontrollen könnte daraus folgen, dass auch in diesem Fall für jeden Erfassten, gleich ob ein Geschwindigkeitsverstoß festgestellt wird oder nicht, ein Grundrechtsverstoß vorliegt. Für die Übertragung auf die Abschnittskontrollen spricht, dass sich die jeweiligen Erfassungsvorgänge nicht erkennbar signifikant unterscheiden: In beiden Fällen werden die Kennzeichen aller vorüberfahrenden Fahrzeuge von den Kontrollanlagen erfasst. Allein in dieser Erfassung erkannte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss einen Grundrechtseingriff. Angesichts dessen spricht vieles für die Annahme, dass bei den Abschnittskontrollen ebenfalls von einem Grundrechtseingriff gegenüber jedem Erfassten auszugehen ist. Dass keine negativen Folgen für diejenigen entstehen , bei denen kein Geschwindigkeitsverstoß festgestellt wurde, und dass deren Daten ebenso automatisiert gelöscht werden, spricht nach der Maßgabe des Gerichts nicht gegen die Annahme eines Grundrechtseingriffs. 4.2. Erwägungen zur formellen Verfassungsmäßigkeit Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur formellen Verfassungsmäßigkeit sind auf die angegriffenen Vorschriften des Beschlusses zugeschnitten und können als solche nicht unverändert auf die Abschnittskontrollen Anwendung finden. Dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport zufolge handelt es sich bei der Abschnittskontrolle „zweifellos ausschließlich um eine Maßnahme der Verkehrsüberwachung“.81 Ein vom Ministerium an Herrn Prof. Dr. jur. Dieter Müller (Institut für Verkehrsrecht Bautzen) in Auftrag gegebenes Gutachten habe ergeben, dass es sich bei der Verkehrsüberwachung um eine originäre Gesetzgebungskompetenz der Länder nach Art. 70. Abs. 1 GG handele.82 Anderenfalls bestehe jedenfalls lediglich eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1, Nr. 22 GG, von der dieser noch nicht abschließend Gebrauch gemacht habe.83 Unter dem Begriff der „Verkehrsüberwachung“ werden staatlichen Tätigkeiten, die der Überprüfung des Einhaltens der verkehrsrechtlichen Ge- und Verbote zum Zwecke der Abwehr von Gefahren dienen, zusammengefasst.84 Die Abschnittskontrolle dient der Überwachung der einzuhaltenden Höchstgeschwindigkeit auf dem Messabschnitt und kann daher der Verkehrsüberwachung zugerechnet werden. 81 Vgl. Handout des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Verkehrsüberwachung durch Abschnittskontrolle – Pilotprojekt in Niedersachsen“, Stand: 19.12.2018, Seite 5, siehe Fußnote 17. 82 Siehe Fußnote 81. 83 Siehe Fußnote 81. 84 Müller: Rechtsgrundlagen der staatlichen Verkehrsüberwachung, Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (NZV) 2016, 254 (254). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 15 Nach Art. 74 Abs. 1, Nr. 22 GG steht dem Bund unter anderem die konkurrierende Gesetzgebung im Bereich des Straßenverkehrs zu. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu in einer früheren Entscheidung aus: „Das Straßenverkehrsrecht dient hiernach dem Zweck, die spezifischen Gefahren, Behinderungen und Belästigungen auszuschalten oder wenigstens zu mindern, die mit der Straßenbenutzung unter den Bedingungen des modernen Verkehrs verbunden sind. Es regelt in diesem Rahmen die (polizeilichen) Anforderungen, die an den Verkehr und die Verkehrsteilnehmer gestellt werden, um Gefahren von anderen Verkehrsteilnehmern oder Dritten abzuwenden und den optimalen Ablauf des Verkehrs zu gewährleisten. Das Straßenverkehrsrecht ist sachlich begrenztes Ordnungsrecht, für das dem Bund - abweichend vom sonstigen (Polizei-)Ordnungsrecht - die Gesetzgebungskompetenz zusteht.“85 Hieraus folgert eine Ansicht, dass diese konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das sachlich begrenzte Ordnungsrecht notwendigerweise auch die Abwehr aller Gefahren von außen umfasse.86 Danach sei ein Rückgriff auf landesrechtliche Gefahrenabwehrvorschriften als Rechtsgrundlage für die Abschnittskontrollen ausgeschlossen, da der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz auch bereits abschließend in den Vorschriften des Straßenverkehrsrechts Gebrauch gemacht habe.87 Nach anderer Ansicht handele es sich bei der Verkehrsüberwachung hingegen um eine Materie des Polizei- und Ordnungsrechts, die nicht zwingend mit den materiell-rechtlichen Straßenverkehrsnormen verknüpft werden müsse.88 Alternativ könne daher eine Gesetzgebungskompetenz der Länder aus Art. 70 Abs. 1 GG bestehen.89 Soweit nach dem dargestellten Meinungsstreit von einer Gesetzgebungskompetenz der Länder ausgegangen wird, bedarf die Abschnittskontrolle als Eingriff in ein Grundrecht nach dem Vorbehalt des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG einer ausreichenden Rechtsgrundlage.90 Die Pilotanlage der Abschnittskontrolle wird auf die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel des Bundeslandes Niedersachsen aus § 11 NSOG gestützt.91 Die Generalklausel kann ausreichende 85 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.12.1975, 1 BvR 118/71, Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 559 (559). 86 Vgl. etwa Maunz, in: Maunz/Düring: Grundgesetz-Kommentar, 84. Ergänzungslieferung 2018, Art. 74 GG, Rn. 238. 87 Brenner: Section Control – Verfassungsrechtliche Vorgaben und kompetenzrechtliche Risiken, Deutsche Autorecht (DAR) 2/2019, 61 (62, 63). 88 Müller: Rechtsgrundlagen der staatlichen Verkehrsüberwachung, Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (NZV) 2016, 254 (256). 89 Siehe Fußnote 88. 90 Grzeszick, in: Maunz/Düring: Grundgesetz-Kommentar, 84. Ergänzungslieferung 2018, Art. 20 GG, Rn.75, 81. 91 Vgl. Handout des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Verkehrsüberwachung durch Abschnittskontrolle – Pilotprojekt in Niedersachsen“, Stand: 19.12.2018, Seite 5, siehe Fußnote 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 16 Rechtsgrundlage für Grundrechtseingriffe sein, sofern keine speziellere Ermächtigung (Standardmaßnahme ) zur Verfügung steht.92 Nach Ankündigung des Ministeriums für Inneres und Sport Niedersachsen hat der niedersächsische Landesgesetzgeber Schritte eingeleitet, um eine spezielle Rechtsgrundlage für Abschnittskontrollen über den Pilotbetrieb hinaus zu normieren.93 Eine speziellere Rechtsgrundlage als die Generalklausel des § 11 NSOG liegt daher gegenwärtig nicht vor. 4.3. Erwägungen zur materiellen Verfassungsmäßigkeit Der Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aller Betroffenen gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG müsste dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Danach muss der Eingriff einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, erforderlich zur Zweckerreichung sein und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.94 Die Abschnittskontrollen dienen der Überwachung der Einhaltung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit im kontrollierten Streckenabschnitt. Vergleichbar mit den herkömmlichen Radardurchfahrtskontrollen sollen die Abschnittskontrollen die Straßenverkehrssicherheit erhöhen und Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer verringern.95 Radardurchschnittskontrollen dienen damit einem verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 GG normierten Zweck.96 Diese Schlussfolgerung könnte vergleichbar auch auf die Abschnittskontrollen angewendet werden. Weiter müssten die Abschnittskontrollen grundsätzlich geeignet sein, den legitimen Zweck zu erreichen. Da festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitungen sanktioniert werden und am Streckenabschnitt des Pilotprojekts durch ein Hinweisschild auf die folgende Abschnittskontrolle aufmerksam gemacht wird, kann davon ausgegangen werden, dass die Maßnahme grundsätzlich zur Geschwindigkeitsverringerung und damit zur Erhöhung der Verkehrssicherheit geeignet ist.97 Überdies müsste die Abschnittskontrolle auch erforderlich sein. Die Erforderlichkeit setzt voraus, dass kein Mittel, das mit geringerer Intensität in Grundrechte eingreift, und dabei gleichermaßen effektiv zur Zweckerreichung beiträgt, zur Verfügung steht. Als milderes Mittel zu den Abschnittskontrollen könnten die herkömmlichen Radardurchfahrtskontrollen in Betracht gezogen werden. Auch diese dienen dem Ziel, die Straßenverkehrssicherheit zu erhöhen und Gefahren 92 Weiner, in: Möstl/Weiner: Beck’scher Online-Kommentar zum Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen 12. Edition, Stand: 01.11.2018, § 11, Rn. 1.. 93 Vgl. Handout des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Verkehrsüberwachung durch Abschnittskontrolle – Pilotprojekt in Niedersachsen“, Stand: 19.12.2018, Seite 5, 6, siehe Fußnote 17. 94 Vgl. zu den Anforderungen an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits Seite 11. 95 Vgl. zum Zweck der Radardurchfahrtskontrollen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 05.07.2010, Az.: 2 BvR 759/10, Rn. 14, abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2010/07/rk20100705_2bvr075910.html. 96 Siehe Fußnote 95. 97 Vgl. zu den Hinweisschildern das Handout des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zum Thema: „Verkehrsüberwachung durch Abschnittskontrolle – Pilotprojekt in Niedersachsen“, Stand: 19.12.2018, Seite 2, siehe Fußnote 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 17 für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer zu verringern.98 Im Unterschied zu den Abschnittskontrollen werden jedoch bei den Radarkontrollen zwar auch alle Verkehrsteilnehmer erfasst, es wird jedoch zunächst nur die Geschwindigkeit ohne Kennzeichenbilderfassung gemessen. Im Vergleich zu den Abschnittskontrollen werden so deutlich weniger Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorgenommen. Fraglich ist jedoch, ob herkömmlich Radardurchfahrtskontrollen tatsächlich gleichermaßen effektiv die Zweckerreichung sicherstellen können . Gegen diese Annahme könnte sprechen, dass Abschnittskontrollen der Geschwindigkeitsüberwachung auf einem Streckenabschnitt dienen, während Durchfahrtskontrollen lediglich die Einhaltung der Geschwindigkeit an einem bestimmten Punkt befördern können. Geschwindigkeitsübertretungen vor und nach der Durchfahrt können nicht festgestellt werden. Die Abschnittskontrolle überwacht hingegen die Durchschnittsgeschwindigkeit auf einem längeren Streckenabschnitt . Dem könnte wiederum entgegengehalten werden, dass auch durch Abschnittskontrollen kurzzeitige Geschwindigkeitsverstöße auf der kontrollierten Strecke nicht geahndet werden können, solange die Durchschnittsgeschwindigkeit auf dem Abschnitt insgesamt - etwa durch späteres Abbremsen - eingehalten wird. Indes könnten Studien aus benachbarten Ländern, die mit den Abschnittskontrollen vergleichbare Verkehrsüberwachungen vornehmen, herangezogen werden, um Indizien für die Effektivität der Abschnittskontrollen zu erhalten. In Österreich etwa sind die Unfallzahlen auf den Strecken, auf denen die Abschnittskontrollen eingesetzt werden, im Vergleich zur vorherigen Unfallrate deutlich rückläufig.99 Daraus wird von Teilen der Literatur auf eine Korrelation zum Einsatz der Abschnittskontrollen geschlossen.100 Unklar bleiben allerdings die weiteren Umstände dieser Abschnittskontrollen in anderen Ländern , etwa ist nicht deutlich, ob und in welcher Frequenz zuvor Radardurchfahrtskontrollen an den betroffenen Streckenabschnitten eingesetzt wurden. Eine abschließende Bewertung der Ergebnisse und ein Rückschluss auf die Erforderlichkeit der Abschnittskontrollen kann infolgedessen an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Schließlich müssten die Abschnittskontrollen auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Mithin dürfte der angestrebte Zweck in einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zum Umfang und zur Intensität des Grundrechtseingriffs stehen. Hierfür müssten alle in Betracht kommenden Umstände der Abschnittskontrollen abgewogen werden. 98 Vgl. zum Zweck der Radardurchfahrtskontrollen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 05.07.2010, Az.: 2 BvR 759/10, Rn. 14, siehe Fußnote 95. 99 Vgl. hierzu Winkelbauer/Soteropoulos: Wirksamkeit von Section Control, (österreichische) Zeitschrift für Verkehrsrecht (ZVR) 2016, 333, abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/316281102_Wirksamkeit _von_Section_Control. 100 Siehe Fußnote 99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 029/19 Seite 18 Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Beschluss aus, dass „Kontrollen zu beliebiger Zeit und an beliebigem Ort ins Blaue hinein“ mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar sind.101 Polizeiliche Kontrollen sollen demnach nicht anlasslos erfolgen.102 Dies gilt jedoch nicht für solche Kontrollen, die „an ein gefährliches oder risikobehaftetes Tun anknüpfen“.103 In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob die Abschnittskontrollen an das gefährliche und risikobehaftete Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit anknüpfen und daher auch anlasslos zulässig sind. Zweifellos stellt das Fahren unter Geschwindigkeitsverstößen ein gefährliches und risikobehaftetes Tun dar und könnte von der Ausnahme erfasst sein. Es ist aber nicht abschließend aufzuklären, ob die Abschnittskontrollen auch anlasslos zugelassen werden sollen. Vergleichbar mit dem Eingriff durch Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen, die dem Beschluss des Gerichts zugrunde liegen, hat der Grundrechtseingriff durch Abschnittskontrollen eine erhöhte Intensität, da hierdurch zusätzlich die Kennzeichen erfasst werden. Die erhobenen Daten können somit Personen zugeordnet werden. Die Intensität des Eingriffs wird andererseits dadurch abgemildert , dass sich die Kontrollen auf die öffentlich sichtbaren Kennzeichen beziehen und keine unmittelbaren negativen Folgen für diejenigen haben, die sich verkehrskonform verhalten.104 Dennoch ist wie im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von einem intensiven Eingriff auszugehen , der entsprechend nur zum Schutz von Rechtsgütern von erheblichem Gewicht oder vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interessen zulässig ist.105 Die Erhöhung der Verkehrssicherheit schützt Leib und Leben, die zu den gewichtigen Rechtsgütern zählen.106 Aus dem Schutz dieser gewichtigen Rechtsgüter könnte folgen, dass der Grundrechtseingriff noch verhältnismäßig im engeren Sinne ist. 5. Fazit Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts könnten in Teilen auf die Abschnittskontrollen Anwendung finden. Von Bedeutung ist hierbei insbesondere die Abkehr des Gerichts von seiner bisherigen Rechtsprechung durch die Annahme, dass ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber aller Erfassten anzunehmen ist. Dies dürfte gleichermaßen für die Betroffenen der Abschnittskontrollen gelten. Die formelle Verfassungsmäßigkeit der Pilotanlage ist im Wesentlichen von der Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder abhängig. Für eine abschließende Bewertung der materiellen Verfassungsmäßigkeit muss insbesondere die Erforderlichkeit der Abschnittskontrollen und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne näher beleuchtet werden. *** 101 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2018, Az.: 1 BvR 142/15, siehe Fußnote 2, Rn. 92. 102 Siehe Fußnote 2, Rn. 91. 103 Siehe Fußnote 2, Rn. 94. 104 Siehe Fußnote 2, Rn. 97, 98. 105 Siehe Fußnote 2, Rn. 99. 106 Siehe Fußnote 2, Rn. 99.