© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 024/19 Strafrechtliche Steuerungs- und Einwilligungsfähigkeit in akuten Belastungssituationen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 2 Strafrechtliche Steuerungs- und Einwilligungsfähigkeit in akuten Belastungssituationen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 024/19 Abschluss der Arbeit: 13. Februar 2019 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Steuerungs- und Schuldfähigkeit 4 3. Einwilligungsfähigkeit 5 3.1. Einwilligung 6 3.2. Widerruf der Einwilligung 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 4 1. Fragestellung In akuten Belastungssituationen können Personen unter großem psychischem und/oder physischem Druck stehen. Fraglich ist vorliegend, ob sich hieraus Konsequenzen für bestimmte strafrechtliche Aspekte ergeben können. So interessiert zum einen, ob in entsprechenden Situationen eine Strafbarkeit der handelnden Person eingeschränkt oder gar ausgeschlossen sein kann, obwohl ihr Verhalten objektiv einen Straftatbestand erfüllt. Andererseits ist von Interesse, ob die strafrechtliche Einwilligungsfähigkeit Betroffener in die Vornahme von körperlichen Eingriffen – etwa im Rahmen von Heilbehandlungen – beeinträchtigt sein kann. 2. Steuerungs- und Schuldfähigkeit Eine Strafbarkeit setzt im deutschen Strafrecht neben der rechtswidrigen Verwirklichung eines Straftatbestands stets auch die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat voraus – also die konkrete Schuldhaftigkeit des Handelns.1 Diese besondere persönliche Vorwerfbarkeit der Tat könnte ausgeschlossen sein, wenn der Täter einer so erheblichen akuten psychischen oder physischen Belastung ausgesetzt ist, dass sie ihn in seinem freien Handeln beeinträchtigt. Gesetzlicher Anknüpfungspunkt hierfür sind die §§ 20 und 21 StGB2. Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, „wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Nach § 21 StGB handelt mit verminderter Schuld, wessen Fähigkeit , das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist. Als Bewusstseinsstörungen werden Störungen in der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des eigenen intellektuellen und emotionalen Erlebens bezeichnet, die nicht auf einer organischen Ursache beruhen.3 Solche Bewusstseinsstörungen sind dann tiefgreifend, wenn sie von einer Intensität sind, die das seelische Gefüge des Betroffenen in einer mit den krankhaften seelischen Störungen vergleichbaren Art beeinträchtigt.4 Als Auslöser einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung 1 Vgl. etwa Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Auflage 2016, Seite 481, Rn. 13. 2 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.11.1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Art. 14 des Gesetzes vom 18.12.2018 (BGBl. I S. 2639). 3 Schöch, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Auflage 2007, § 20, Rn. 61, 62. 4 Vgl. BGH, Urteil vom 13.12.1989, Az. 3 StR 370/89, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 1990, 231; BGH, Urteil vom 09.02.2019, Az. 3 StR 500/82, NStZ 1983, 280. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 5 kommen etwa Schlaftrunkenheit, Erschöpfung, ein Unfallschock oder die sogenannten normalpsychologischen Affekte in Betracht.5 In akuten Belastungssituationen können in besonderem Maße Affekte ausgelöst werden. Diese bezeichnen die Höchstform der Erregung und werden in die sthenischen Affekte wie Wut, Zorn und Hass und die asthenischen Affekte wie Verwirrung, Furcht und Schrecken unterteilt.6 Ihnen unterliegt jedermann, sie können eine Tat deshalb nur unter engen Voraussetzungen entschuldigen , da sie grundsätzlich von einem geistig gesunden Menschen beherrscht werden müssen.7 Weiter berühren sie regelmäßig nur die Steuerungsfähigkeit des Betroffenen, während das Unrechtsbewusstsein unberührt bleibt.8 Für die Beurteilung der Schuld sind daher im Einzelfall „die Umstände, die für und gegen die Annahme eines die Tatschuld erheblich vermindernden Affekts sprechen, zu ermitteln und sodann zusammenfassend zu würdigen“9. Die Schuldunfähigkeit oder die Minderung der Schuldfähigkeit infolge einer akuten Belastungssituation hängt mithin entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab. Zunächst muss eine Bewusstseinsstörung des Betroffenen vorliegen, die von einer derartigen Intensität ist, dass ihre Auswirkungen mit einer krankhaften seelischen Störung wie etwa einer Psychose vergleichbar sind. Weiter muss der Betroffene infolgedessen unfähig sein, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, oder in dieser Einsichtsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sein. 3. Einwilligungsfähigkeit Darüber hinaus ist fraglich, inwieweit Betroffene in einer akuten Belastungssituation fähig sind, Einwilligungen in körperliche – etwa medizinische – Eingriffe zu erteilen oder zu widerrufen. 5 Schöch, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Auflage 2007, § 20, Rn. 61. Vgl. auch BGH, Urteil vom 09.02.1983, Az. 3 StR 500/82, NStZ 1983, 280, zur Annahme einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung wegen fehlendem Schlaf, mangelnder Nahrungszufuhr, Blutverlust und starken psychischen Belastungen während des Geburtsvorgangs. 6 Schöch, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Auflage 2007, § 20, Rn. 125. 7 Schöch (oben Fußn. 6), Rn. 127. 8 Schöch (oben Fußn. 6), Rn. 123. 9 Vgl. BGH, Urteil vom 28.06.1995, Az.: 3 StR 72/95, NStZ 1995, 539. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 6 3.1. Einwilligung Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist eine Einwilligung des Betroffenen in die körperliche Integrität verletzende ärztliche Heileingriffe (auch) deshalb erforderlich, weil ein entsprechender Eingriff regelmäßig den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB) erfüllen wird, sodass es einer strafrechtlichen Rechtfertigung bedarf.10 Die rechtswirksame Einwilligung des Patienten setzt dessen Einwilligungsfähigkeit voraus.11 Diese bezeichnet die natürlich Einsichts- und Urteilsfähigkeit und liegt vor, wenn der Einwilligende im Zeitpunkt der Einwilligung eine ausreichende Urteilskraft besitzt, um Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Durchführung überblicken zu können und seinen Willen nach dieser Einsicht zu bilden.12 Überdies muss der Einwilligende seinen Willen frei von Willensmängeln bilden können.13 Patienten eines ärztlichen Heileingriffs können dessen Tragweite etwa erst nach einer hinreichenden Aufklärung erfassen.14 Mithin ist die Einwilligung des Patienten grundsätzlich erst dann frei von Willensmängeln, wenn eine ordnungsgemäße Aufklärung durch den Arzt erfolgt ist.15 Die Aufklärung muss diejenigen Kenntnisse vermitteln, die für einen verständigen Patienten den Umständen des Einzelfalls nach bedeutsam sind. Dadurch soll der Patient in die Lage versetzt werden, die Umstände und Risiken des Eingriffs zu erfassen, um sich der Tragweite seiner Zustimmung bewusst werden zu können (sogenannter „informed consent“).16 Der erforderliche Umfang einer Aufklärung hängt auch von der Dringlichkeit und dem Ausmaß des Eingriffs ab.17 Es ist vor diesem Hintergrund nicht ausgeschlossen, dass durch akute Belastungssituationen Betroffene in ihrer Einsichtsfähigkeit beeinträchtigt werden können und dies ihre Einwilligungsfähigkeit beeinträchtigt. Denn die psychische oder physische Belastung könnte ihre Fähigkeit, Wesen , Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu überschauen und nach dieser Einsicht ihren Willen zu bilden, mindern. Ob eine in einer solchen Situation erteilte Einwilligung rechtmäßig erteilt wurde, hängt letztlich entscheidend von den Umständen und der geistigen Verfassung des Betroffenen ab. Bei der Beurteilung der Einsichtsfähigkeit ist in solchen Fällen insbesondere 10 Vgl. etwa BGH, Urteil vom 28.11.1957, Az. 4 StR 525/57, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1958, 267 (268); BGH, Urteil vom 16.11.1971, Az. VI ZR 76/70, NJW 1972, 335 (336); BGH, Urteil vom 19.11.1997, Az. 3 StR 271–97, NJW 1998, 1802 (1803). 11 Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Auflage 2017, § 228, Rn. 14. 12 Paeffgen/Zabel (oben Fußn. 11), Rn. 14, 15. 13 Joecks (Hardtung), in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Auflage 2017, § 223, Rn. 83. 14 Joecks (Hardtung) (oben Fußn. 12), Rn. 88. 15 Joecks (Hardtung) (oben Fußn. 12), Rn. 88. 16 Joecks (Hardtung) (oben Fußn. 12), Rn. 88. 17 Joecks (Hardtung) (oben Fußn. 12), Rn. 88. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 7 auch zu beachten, dass sie an der Komplexität der Situation und der Tragweite der zu treffenden Entscheidung gemessen werden muss.18 Soweit eine Person infolge einer akuten Belastung nicht einwilligungsfähig ist und auch eine Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters oder seines durch eine Patientenverfügung (§ 1901a BGB19) bestimmten Vertreters nicht eingeholt werden kann, kommt ein Abstellen auf die mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen in Betracht.20 Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn ein ärztlicher Eingriff dringend geboten ist und der zu behandelnde Patient nicht bei Bewusstsein ist.21 Die mutmaßliche Einwilligung ist durch ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu bestimmen, wobei zu fragen ist, ob der Betroffene in Kenntnis aller Umstände und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte aller Wahrscheinlichkeit nach seine Einwilligung in den Eingriff erteilt hätte.22 Der mutmaßliche Wille des Patienten ist anhand aller zu Verfügung stehenden Indizien des Einzelfalls zu erforschen. Erst, wenn sich aus diesen Indizien der höchstpersönliche mutmaßliche Wille des Betroffenen nicht ermitteln lässt, darf auf die Orientierung an einem durchschnittlichen, verständigen Menschen zurückgegriffen werden.23 3.2. Widerruf der Einwilligung Ein Widerruf der einmal erteilten Einwilligung ist jederzeit möglich.24 Es gelten insofern wie auch für das Einverständnis die allgemeinen Grundsätze für die Auslegung rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen entsprechend.25 Ein Widerruf muss, soll er Wirksamkeit entfalten, deshalb ernstlich und endgültig gewollt sein, woran es gerade bei einem spontanen – auch nonverbalen – Widerspruch in einer Akutsituation fehlen kann: „Ein ernsthafter Widerruf liegt indes noch nicht unbedingt in einer spontan der ärztlichen Behandlung widersprechenden Äußerung oder Geste, wenn sie auf einem momentanen Schock 18 Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Auflage 2017, § 228, Rn. 16. 19 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.01.2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 31.01.2019. 20 Eschelbach, in: Beck’scher Onlinekommentar zum Strafgesetzbuch, 40. Edition, Stand: 01.11.2018, § 228, Rn. 27. 21 Erb, in: Münchener Kommentar zum Starfgesetzbuch, 3. Auflage 2017, § 34, Rn. 37. 22 Eschelbach, in: Beck’scher Onlinekommentar zum Strafgesetzbuch, 40. Edition, Stand: 01.11.2018, § 228, Rn. 28. 23 Erb, in: Münchener Kommentar zum Starfgesetzbuch, 3. Auflage 2017, § 34, Rn. 37. 24 Sternberg-Lieben, in: SchoenkeKoStGB, 30. Auflage 2019, § 223 StGB, Rn. 46; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht , 3. Auflage 2018, § 223 StGB Rn. 85. 25 BGH, Urteil vom 18.03.1980, Az. VI ZR 155/78 (NJW 1980, 1903). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 024/19 Seite 8 oder vorübergehenden Angstgefühlen beruht; vielmehr muss sich aus dem Umständen ergeben , dass ein Abbruch der Behandlung ernstlich und endgültig gewollt ist (...).“26 * * * 26 Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Auflage 2018, § 223 StGB Rn. 85. So ist etwa die Aufkündigung eines vereinbarten Entbindungskonzepts durch eine Schwangere nur bei ausdrücklicher und eindeutiger Distanzierung beachtlich, vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.03.2011, Az. I-3 U 75/10, 3 U 75/10 (MedR 2012, 44).