Zum Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht Begründung, Historie, Stellenwert heute - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 7 - 015/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zum Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht Begründung, Historie, Stellenwert heute Ausarbeitung WD 7 - 015/08 Abschluss der Arbeit: 13.02.2008 Fachbereich WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt 1. Einleitung 3 2. Historie des Erziehungsgedankens als grundlegendes Prinzip des Jugendstrafrechtes 3 3. Begründung des Erziehungsgedankens 5 4. Reformansätze des Gesetzgebers in den vergangenen Jahren 6 5. Kritische Auseinandersetzung mit dem Erziehungsgedanken in der rechtswissenschaftlichen Literatur 7 5.1. Kritik von Hinz 8 5.2. Ansicht von Kusch 8 5.3. Stellungnahme Ostendorfs 10 6. Fazit 10 - 3 - 1. Einleitung Mit dem Erziehungsgedanken steht und fällt das Sonderstrafrecht für Jugendliche. In der Dogmatik des Jugendgerichtsgesetzes (JGG)1 nimmt er eine besondere Rolle ein – nicht nur ausdrücklich bei einer Vielzahl von Vorschriften, sondern auch als übergeordnetes und ordnendes Prinzip, das das gesamte Jugendstrafrecht durchzieht und ihm sein besonderes Gepräge auferlegt. Man kann darin den „Motor“ eines selbstständigen Jugendstrafrechts sehen und es steht zudem auch für die gesellschaftliche Entscheidung, jugendlichen Straftätern eine dem Alter gemäße Behandlung zuteil werden zu lassen.2 Besonders hervorzuheben ist der Erziehungsgedanke im JGG bei den Erziehungsmaßregeln (§ 9 JGG), beim Bemessungsmaßstab für Jugendstrafen (§ 37 JGG), bei den Anforderungen an den Vollzug des Jugendarrestes (§ 90 Abs. 1 S. 2 JGG) sowie des Jugendstrafvollzuges (§ 91 Abs. 1 JGG). Insbesondere im Hinblick auf die Perversion des Erziehungsgedankens in der Zeit des Nationalsozialismus und auf empirische Untersuchungen zur Strafausweitung unter Rückgriff auf den Erziehungsgedanken sowie im Hinblick auf eine inhaltliche Neuorientierung der öffentlichen Jugendhilfe wird die Charakterisierung des Jugendstrafrechts als Erziehungsstrafrecht von Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur angezweifelt und kritisiert. 2. Historie des Erziehungsgedankens als grundlegendes Prinzip des Jugendstrafrechtes Das Jugendstrafrecht hat in Deutschland eine relativ kurze Geschichte. Es ist als ein selbstständiger, sich vom Erwachsenenstrafrecht in Wesen und Aufgabe unterscheidender Sonderbereich des Strafrechts erst eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts. Gesetzlich begründet wurde das Jugendstrafrecht mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz vom 9. Juli 1922 und dem Reichsjugendgerichtsgesetz vom 16. März 1923.3 Die Erziehung hat eine fast ebenso lange Tradition im deutschen Jugendstrafrecht. Bereits Webler pries 1929 in einem Aufsatz den Erziehungsgedanken: "Es wird eine Zeit kommen, die keinen anderen Gedanken kennen wird als Erziehung." 4 1 Jugendgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3427), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 13. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2894). 2 Grunewald, Ralph, Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht, Berlin 2003, S. 13. 3 Vgl. Schüler-Springorum, Horst, Jugendstrafrecht in Deutschland: Geschichte und Zukunftsperspektiven , in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2007, S. 4. 4 Webler, Heinrich, Wider das Jugendgericht, in: Simonsohn, Berthold (Hrsg.), Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main 1969, S. 75 ff - 4 - Aber auch schon vorher waren erste erzieherische Überlegungen im Strafrecht zu erkennen . So bemerkte der Strafrechtslehrer und spätere Abgeordnete des Deutschen Reichstages Franz von Liszt im Jahre 1900: "Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit , dass er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen."5 Seither ist allgemein anerkannt, dass das Jugendstrafrecht konzeptionell dem Erziehungsgedanken verpflichtet ist.6 Was jedoch genau unter der jugendstrafrechtlichen Erziehung zu verstehen ist, welche Auswirkungen der Erziehungsgedanke auf das Jugendstrafverfahren , insbesondere auf die jugendstrafrechtlichen Sanktionen hat, darüber wird seit der Einführung des Erziehungsstrafrechts im Jahre 1923 gestritten.7 Der Erziehungsgedanke wird sowohl für Nachsicht, Diversion und Milde als auch für Strenge, Rigidität und konsequente Strafverfolgung herangezogen.8 In der Zeit des Nationalsozialismus kam dem Erziehungsgedanken eine besondere Rolle zu. Das Jugendstrafrecht wurde als Erziehungsstrafrecht zur Rekrutierung junger Menschen für die Volksgemeinschaft definiert. Infolgedessen wurde im Jahre 1943 die Sanktionsart „Zuchtmittel“ eingeführt mit dem Arrest an der Spitze.9 Der Arrest sollte „den ehrliebenden, rassisch an sich gesunden jugendlichen Rechtsbrecher zweckentsprechend treffen.“10 In den Jahren des NS-Regimes wurde der Erziehungsgedanke damit nicht konkretisiert oder fortgeführt, sondern ausschließlich missbraucht. Nach dieser Zeit des Missbrauchs wurde der Erziehungsgedanke im JGG 1953 fürsorgerisch beibehalten und weiterentwickelt, wobei die Diskussion in der deutschen Rechtswissenschaft fortwährend anhält.11 Mittlerweile ist das Jugendstrafrecht sogar ein Teil internationaler Abkommen. Am 29. November 1985 haben die Vereinten Nationen in einer Plenarsitzung die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit festgelegt.12 Die Resolution zielt auf die Errichtung einer differenzierten Jugendgerichtsbarkeit ab. Der Erzie- 5 Liszt, Franz von, Die Kriminalität der Jugendlichen, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2, Berlin 1905, S. 338 f. 6 Zu den ablehnenden Ansichten zum Erziehungsgedanken siehe unter Punkt X 7 Vgl. Ostendorf, Heribert, Der Erziehungsgedanke zwischen Rigidität und Diktat leerer Kassen, in: Zentralblatt für Jugendstrafrecht (ZfJ) 2005, S. 415. 8 Ostendorf, ZfJ 2005, S. 415. 9 Ostendorf, ZfJ 2005, S. 415. 10 Staatssekretär Freisler des damaligen Reichsjustizministeriums in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform, 1939, S. 209 ff.; neu abgedruckt im DVJJ-Journal 1994, S. 75. 11 Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 7. Auflage 2007, Grdl. z. §§ 1-2 Rn. 4. 12 Veröffentlicht in Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 99 (1987), S. 253ff. m. Anm. Schüler-Springorum. - 5 - hungsgedanke kommt zwar nicht explizit in der Resolution zum Ausdruck. Die in der Resolution enthaltenen Maßnahmen stehen jedoch in einem engen Kontext mit dem Erziehungsgedanken. 3. Begründung des Erziehungsgedankens Der Grund für die Besonderheiten im Jugendstrafrecht liegt in der psychologischen Entwicklung der Jugendlichen. Sie befinden sich (auf der Grundlage biologischsexueller und psychischer Entwicklungsprozesse) im Allgemeinen und unabhängig von der Frage der Verantwortlichkeit nach § 3 JGG in einem Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, das oftmals mit ausgeprägten Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Identität und Rolle(n) sowie der für sie verbindlichen Verhaltensnormen einhergeht . Neben den biologisch-psychologischen Entwicklungsprozessen tritt ein kriminalsoziologisch kaum minder bedeutsamer Umstand hinzu, dass sich der junge Mensch in dieser kritischen Phase regelmäßig aus der relativen Geborgenheit des Elternhauses löst oder dort zumindest eine ganz neue Rolle einnimmt. Hinzu kommt oftmals der Übergang aus der Familie und Schule in das Arbeits- und Berufsleben, wodurch der Jugendliche auf eine neue Umwelt trifft. Diese hält eine Fülle neuer Anforderungen, Einflüsse und Versuchungen für ihn bereit.13 Daher wird deutlich, dass Hilfestellungen und emotionaler Rückhalt von erwachsenen Bezugspersonen für den Erfolg im notwendigen Streben nach Eigenständigkeit und Selbstverantwortung unentbehrlich sind, so dass eine besondere Beeindruckbarkeit und ein erhöhtes Bedürfnis nach Erziehungsangeboten bestehen.14 Des Weiteren ist zu beachten, was nicht nur pubertierende Täter, sondern mehr oder minder alle jungen Täter von den älteren unterscheidet: Die größere Formbarkeit des jungen Menschen. Erst zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr ist mit einem gewissen Abschluss der charakterlichen Entwicklung zu rechnen. Insofern spricht die Kriminologie von der besonderen Umweltabhängigkeit der Jugendkriminalität. Die Entstehung der Jugendkriminalität resultiert aus verschiedenen Faktoren: zerrüttete Familienverhältnisse , Erziehungsmängel, schlechte Beispiele der Eltern, Geschwister und Freunde, Verführung, negative Einflüsse, die von Film, Fernsehen, Video und Literatur ausgehen können. Diese haben in Bezug auf Jugendliche eine weitaus größere Bedeutung, als es entsprechende ungünstige Umwelteinwirkungen für die Kriminalität der älteren Straftäter haben. Im Umkehrschluss folgt nun aus der stärkeren Bildsamkeit der jugendlichen Straffälligen, dass bei ihnen eine günstige Veränderung der Umwelt und beharrliche Erziehungsarbeit wesentlich mehr Erfolg verspricht als bei den Älteren, deren Charakter 13 Schafftein, Friedrich/ Beulke, Werner, Jugendstrafrecht: eine systematische Darstellung, 14. Auflage 2002, S. 5. 14 Eisenberg, Ulrich, Jugendgerichtsgesetz, 12. Auflage 2007, Einleitung Rn. 5a. - 6 - sich bereits im negativen Sinne verfestigt hat. Diese aufgezeigten größeren Erfolgschancen rechtfertigen somit, der spezialpräventiven Verbrechensvorbeugung durch Erziehung in der rechtlichen Reaktion auf die Jugendstraftat eine weit stärkere Bedeutung beizumessen, als ihr im Rahmen der Strafzwecke des allgemeinen Strafrechts zukommt .15 Abschließend spricht für den Erziehungsgedanken, dass die Aussicht auf Legalbewährung bei einer durch Erziehung verinnerlichten Rechtstreue vergrößert wird.16 4. Reformansätze des Gesetzgebers in den vergangenen Jahren Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums (BMJ) eines 2. JGGÄndG 200417 sah als Herzstück eine Ergänzung des § 2 JGG vor, um bestehende Unsicherheiten hinsichtlich der Bedeutung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht auszuräumen und Hilfestellungen bei der Interpretation erziehungsorientierter Vorschriften zu leisten. Der Vorschlag lautete: § 2 Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts (1) Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegen wirken. Zur Erreichung dieses Zieles sind die Rechtsfolgen und, soweit möglich, auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. (2) Der Wortlaut des bisherigen § 2 wird Abs. 2. Erstmals in der Geschichte des JGG sollte das Ziel des Jugendstrafrechts unter Erwähnung des Erziehungsgedankens ausdrücklich gesetzlich vorgegeben werden. Ziel ist es, die erneute Straffälligkeit junger Straftäter zu verhindern. Erziehung ist demgegenüber nicht ein selbstständiges Ziel oder Anliegen des Jugendstrafrechts, sondern Leitprinzip und Orientierungshilfe im Zielerreichungsprozess. Diese Klarstellung hat erhebliche praktische Bedeutung für die Interpretation einschlägiger Normen und ist gleichzeitig elementar für eine rationale Jugendkriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage.18 15 Schaffstein/ Beulke, Jugendstrafrecht, S. 6. 16 Ostendorf, Nomoslehrbuch – Jugendstrafrecht, 4. Auflage 2007, S. 66 Rn. 48. 17 Die Reformansätze sind durch das seit dem 31.12.2006 geltende 2. Justizmodernisierungsgesetz (BT-Drs. 16/3038) umgesetzt worden. 18 Vgl. Albrecht, Hans-Jörg, Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Gutachten D zum 64. Deutschen Juristentag; Sonnen, Bernd-Rüdeger, Stand und Entwicklung des Jugendkriminalrechts, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB) 2007, S. 128 (131). - 7 - Die Länder Sachsen, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Thüringen haben im Jahre 2004 einen Gesetzesantrag in den Bundestag eingebracht, der den Jugendgerichten ein flexibleres Handlungsinstrumentarium zur Verfügung stellen sollte. 19 Auf diese Weise sollte dem Jugendrichter einzelfallbezogen eine der Tat und dem Täter angemessene und dem Erziehungsgedanken genügende Reaktion ermöglicht werden. In dem Gesetzesantrag wird ebenfalls festgestellt, dass sich das geltende Jugendstrafrecht in seiner Grundstruktur und in seinen Leitprinzipien bewährt hat und insofern nicht veränderungsbedürftig ist, so dass es nur in Teilbereichen verbessert werden soll.20 Zuletzt beschäftigte sich noch ein Gesetzesantrag Bayerns mit dem Jugendstrafrecht, wobei der Erziehungsgedanke nicht Teil des Antrages war.21 5. Kritische Auseinandersetzung mit dem Erziehungsgedanken in der rechtswissenschaftlichen Literatur Trotz der vielen Begründungsansätze steht der Erziehungsgedanke im Strafrecht immer wieder in der Kritik und dies liegt nicht nur an der Unbestimmtheit des Erziehungsbegriffs . Gegen den Erziehungsgedanken werden folgende Argumente vorgebracht:22 - Die Einlösbarkeit des Erziehungsstrafrechts ist zweifelhaft. Die Geldbuße ist schon von ihrer Natur her eine repressive Sanktion, der nur auf Umwegen ein erzieherischer Charakter zuteil wird. In der Sanktionspraxis überwiegen die repressiven Elemente. Zudem ist die Hauptverhandlung nur sehr begrenzt als ein Veranstaltungsort von Erziehung anzusehen. - Daneben ist die Notwendigkeit von Erziehung im Jugendstrafrecht immer dann nicht gegeben, wenn die Straftaten, wie die Kriminologie lehrt,23 vielfach auf die Entwicklungssituation bzw. auf situative Anreize zurückzuführen sind und nicht auf Erziehungsdefizite. - Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass das Erziehungsstrafrecht sich keineswegs immer strafmildernd auswirkt. Vielmehr kann mit dem Topos „Erziehung“ eine Straferhöhung begründet werden.24 - Verfassungsrechtliche Bedenken können sich im Hinblick auf die Respektierung der Menschenwürde ergeben, die es untersagt, eine Besserung im Sinne innerer 19 BR-Drs. 238/04, Entwurf eines Gesetztes zur Stärkung des Jugendstrafrechts und zur Verbesserung und Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens. 20 BR-Drs. 238/04, S. 1. 21 BR-Drs. 181/06, Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsbereiches der Sicherungsverwahrung bei gefährlichen jungen Gewalttätern. 22 Ostendorf, Nomoslehrbuch – Jugendstrafrecht, S. 67 Rn. 49. 23 Walter, Michael, Jugendkriminalität, 3. Auflage 2005, Rn. 261, 272. 24 So auch Weber, Martin, Die Anwendung der Jugendstrafe, 1990, S. 182 ff; Meier, Dieter, Richterliche Erwägungen bei der Verhängung von Jugendstrafe und deren Berücksichtigung durch Vollzug auf Bewährungshilfe, 1994, S. 96. - 8 - Umkehr mit staatlichem Zwang erreichen zu wollen. Bei Heranwachsenden ist zudem zu bedenken, dass selbst das elterliche Erziehungsrecht erloschen ist. 5.1. Kritik von Hinz Hinz hat in der Vergangenheit als einer der größten Kritiker des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht für Aufsehen gesorgt. In einem Aufsatz widmet er sich der Frage, ob der Erziehungsgedanke bei der Jugendstrafe tatsächlich im Vordergrund stehen sollte .25 Seiner Ansicht nach lassen sich zumindest langjährige Freiheitsstrafen nicht mit dem Erziehungsgedanken rechtfertigen. Aus diesem Grund sehen Teile der Literatur den wahren Strafgrund in der positiven Generalprävention.26 Um die generalpräventiven Aspekte gerade im Hinblick auf schwere Kapitalverbrechen stärker zu betonen, schlägt Hinz eine Reihe von Reformen vor, wie etwa die Anhebung der Höchststrafe, verbunden mit einer obligatorischen Strafmilderung. Insbesondere Im Hinblick auf Ehrenmorde solle die Höchststrafe angehoben werden, damit junge Migranten spüren können, dass der deutsche Rechtsstaat mit aller Entschiedenheit reagiert.27 Heranwachsende sollen ausschließlich nach dem Strafgesetzbuch (StGB)28 verurteilt werden. Eine obligatorische Milderung nach § 49 StGB dürfe nicht in Betracht gezogen werden, da ansonsten wohlmeinende Gerichte abermals die Gelegenheit hätten, zu milde zu urteilen.29 Zudem sei das Institut der Vorbewährung (§ 57 JGG) abzuschaffen und Verhandlungen vor dem Jugendgericht sollten öffentlich ausgestaltet sein. „Geheimprozesse“ seien mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht vereinbar.30 5.2. Ansicht von Kusch Kusch geht mit seinen Ausführungen einen Schritt weiter als Hinz und fordert die generelle Abschaffung des Jugendstrafrechts.31 Insbesondere in Großstädten seien Jugendliche vermehrt auf dem Weg zu Intensivtätern . Aufgrund des häufig vorkommenden problematischen Lebenshintergrund sei es 25 Hinz, Werner, Soziales Gebot oder „Lebenslüge“? – Der Erziehungsgedanke bei der Jugendstrafe, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2005, S. 192. 26 Mit Hilfe der positiven Generalprävention soll das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung gestärkt werden. Hierzu im Hinblick auf das Jugendstrafrecht: Streng, Franz, Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentages, N 69; Schulz, Holger, Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht (10 Jahre), 2000, S. 38f. 27 Hinz, ZRP 2005, S. 192 (194). 28 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3198). 29 Hinz, ZRP 2005, S. 192 (195). 30 Ebd. 31 Kusch, Roger, Plädoyer für die Abschaffung des Jugendstrafrechts, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2006, S. 65. - 9 - zumeist anmaßend davon auszugehen, das (Jugend-) Strafrecht sei das erzieherische Mittel um die jungen Straftäter wieder „auf den rechten Weg“ zu bringen. Staatliche Hilfe in Form von Erziehung müsse bei diesen Tätern zwar auch geleistet werden, jedoch könne dies nicht Teil eines Strafverfahrens sein.32 Außerdem weist Kusch auf die Rückfallstatistik hin, die gegen die Sonderstellung des Jugendstrafrechts spreche.33 Die seiner Meinung nach zweckmäßige Zusammenlegung der Strafgerichtsbarkeiten solle einhergehen mit der Schaffung eines einheitlichen Sanktionenrechts, das die Vorteile beider Systeme vereint. Er sieht insbesondere keinen Raum für die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende und die Anwendung von Erziehungsmaßregeln im Strafrecht.34 Ein neues einheitliches Sanktionenrecht – frei vom Erziehungsgedanken – soll nach Kusch ausgebaut werden und die Auflage als Sanktion auf der Stufe zwischen dem Absehen von Strafe und Geldstrafe beziehungsweise Freiheitsstrafe aufnehmen. Er hält diese Sanktionsformen ausnahmslos anwendbar auf jugendliche und erwachsene Straftäter . Allerdings sollen auch kurze und unterbrochene Freiheitsstrafen (der Arrest) möglich sein.35 Er befürwortet ein niedrigeres Strafmaß für Jugendliche, die Möglichkeit einer pauschalen Strafmilderung für Heranwachsende und die Einführung der Einheitsstrafe.36 Neben den genannten Reformen bezüglich der Sanktionen hat Kusch auch einen Aubau der vorgerichtlichen Sanktionsebene im Sinn. Bei Bagatelldelikten solle die Polizei ermächtigt sein, frühzeitig eine mündliche Ermahnung auszusprechen. Eine polizeiliche Ermahnung hält er für wirksamer als eine der in der Auffassung der Straftäter abstrakten Institution Staatsanwaltschaft.37 Insgesamt sei somit die Existenz einer gesonderten Gerichtsbarkeit für Jugendsachen nicht zu begründen. Ein einheitliches Gerichtssystem und Sanktionensystem schafft seiner Meinung nach mehr Transparenz.38 32 Kusch, NStZ 2006, S. 65 (66). 33 Ebd. 34 Ebd. S. 67. 35 Ebd. S. 68. 36 Ebd. S. 69. 37 Ebd. S. 68. 38 Ebd. S. 69. - 10 - 5.3. Stellungnahme Ostendorfs Ostendorf hat in einem Beitrag für die NStZ als Antwort auf Kusch der Forderung nach der Abschaffung des Jugendstrafrechts vehement widersprochen. Ansonsten würde man einen Rechtszustand herstellen, der in der DDR von 1968 bis zu ihrer Auflösung galt.39 Des Weiteren würde eine Abschaffung den bereits genannten internationalen Verpflichtungen (Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit) der Bundesrepublik Deutschland widersprechen.40 Das vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundrecht der Menschenwürde abgeleitete Resozialisierungsstrafrecht werde gerade mit dem als Erziehungsstrafrecht apostrophierten Jugendstrafrecht erreicht.41 Die verfassungsrechtlichen Vorgaben sprächen somit schon gegen eine Abschaffung der Leitprinzipien des Jugendstrafrechts. Unter anderem führt Ostendorf aber auch entwicklungspsychologische und kriminologische Erkenntnisse an, die einer Abschaffung widersprechen. Er weist darauf hin, dass eine Abschaffung nicht zu weniger, sondern zu mehr Kriminalität führen würde.42 Aus diesen genannten Gründen hält Ostendorf die Abschaffung des Jugendstrafrechts mit seinen Leitprinzipien für einen inakzeptablen kulturellen Rückschritt.43 6. Fazit Ziel des Jugendstrafrechts ist es, die erneute Straffälligkeit junger Menschen zu verhindern . Auf dem Weg dorthin ist der Erziehungsgedanke Leitprinzip und Orientierungshilfe . Er ist damit einerseits von erheblicher Bedeutung für die Interpretation einschlägiger Normen des JGG als auch Baustein für eine rationale Jugendkriminalpolitik. Die Bezeichnung des geltenden deutschen Jugendstrafrechts als „Erziehungsstrafrecht“ besagt , dass die ansonsten im Erwachsenenstrafrecht geltende Kriminalstrafe in weitem Umfang durch Erziehungsmaßnahmen ersetzt wird. Auch eine eventuelle Strafe, für die daneben noch Raum verbleibt, soll stärker als im allgemeinen Strafrecht auf den Zweck der Erziehung des Täters ausgerichtet sein.44 Die erzieherische Einwirkung darf in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Festsetzung und Bemessung der Strafe gerichtet sein, sondern muss sich auch auf die Ausgestaltung eines eventuellen Jugendfreiheitsentzugs richten. 39 Ostendorf, Gegen die Abschaffung des Jugendstrafrechts oder seiner esentialia, in NStZ 2006, S 320. 40 Ebd. S. 321. 41 Ebd. S. 322. 42 Ebd. S. 323 f. 43 Ebd. S. 326. 44 Schaffstein/ Beulke, Jugendstrafrecht, S. 1 f. - 11 - Das Spannungsverhältnis zwischen Strafe und Erziehung gibt immer wieder Anlass für Kritik am geltenden Jugendstrafrecht, die sich zwischen „Erziehungsoptimismus“ einerseits und „Abschaffung der Erziehungsideologie“ andererseits bewegt. Erfahrungswissenschaftliche Einsicht in die Ursachen und die besondere Eigenart der Jugendkriminalität (Kleinkriminalität – Bagatellstraftaten – vorübergehende Entgleisungen ) rechtfertigen die Besonderheiten des Jugendstrafrechts. Körperliche (Geschlechts -) Reife verbunden mit mehr oder weniger schwereren Krisen der seelischen Entwicklung und größere Formbarkeit junger Menschen sind ebenfalls Argumente für ein Erziehungsstrafrecht im Jugendstrafrecht. Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass härtere Sanktionen nicht zu einer geringeren Rückfallwahrscheinlichkeit führen, sondern im Gegenteil die Umsetzung des Erziehungsgedankens bei jungen Menschen die Resozialisierung fördert. Die aktuelle Jugendkriminalpolitik bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen konsequenter Umsetzung empirisch gesicherter Erkenntnisse kriminologischer Sanktionsforschung und symbolischen Gesetzesvorschlägen, die auf eine deutliche Verschärfung setzen. Mit einer Abkehr vom Erziehungsgedanken ist jedoch auch in naher Zukunft nicht zu rechnen.