© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 014/21 Reform des strafverfahrensrechtlichen Wiederaufnahmerechts zuungunsten rechtskräftig freigesprochener Personen Diskussionsstand und verfassungsrechtliche Implikationen Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 7 - 3000 - 014/21 Seite 2 Reform des strafverfahrensrechtlichen Wiederaufnahmerechts zuungunsten rechtskräftig freigesprochener Personen Diskussionsstand und verfassungsrechtliche Implikationen Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 014/21 Abschluss der Arbeit: 12. Februar 2021 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 7 - 3000 - 014/21 Seite 3 In den letzten drei Jahrzehnten waren in Deutschland verschiedene rechtspolitische Diskussionen und Initiativen zu verzeichnen, die die erweiterte Möglichkeit der Wiederaufnahme von durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahren zuungunsten der angeklagten Person zum Gegenstand hatten.1 Auch derzeit bestehen Berichten zufolge anknüpfend an die entsprechende Vereinbarung im Koalitionsvertrag2 von CDU, CSU und SPD konkrete politische Bestrebungen , eine solche Möglichkeit für den Fall nachträglich zur Verfügung stehender neuer Beweismittel einzuführen.3 Eine als Anlage 1 beigefügte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages hatte 2019 aufgezeigt, dass die einschlägige Rechtslage im Ausland heterogen ist.4 Im Rahmen der auf Deutschland bezogenen Diskussion stellt sich unter anderem die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine derartige Erweiterung – vorbehaltlich ihrer konkreten Ausgestaltung – grundsätzlich mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar wäre. Besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang, dass in Deutschland anders als in vielen anderen Staaten das Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem) ausdrücklich und eigenständig im Grundgesetz verankert ist (Artikel 103 Absatz 3 GG5) und nach herrschender Meinung nicht nur eine doppelte Bestrafung, sondern bereits die mehrmalige Durchführung von Strafverfahren erfasst. Mit dieser und weiteren verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen einer möglichen Reform setzt sich der als Anlage 2 1 Unter anderem hatte der Bundesrat 2008 einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt (BT-Drs. 16/7957), der Gegenstand einer Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 18.03.2009 war (Informationen – inklusive Sachverständigen-Stellungnahmen – abrufbar unter http://webarchiv.bundestag .de/cgi/show.php?fileToLoad=1251&id=1134; Stand dieser und sämtlicher nachfolgenden Online-Quellen: 12.02.2021). 2 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 125: „Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten“ (abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/resource /blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertragdata .pdf?download=1). 3 Vgl. „Neue Möglichkeit zur Wiederaufnahme von Mordverfahren geplant“, beck-aktuell vom 01.02.2021, abrufbar unter https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/neue-moeglichkeit-zur-wiederaufnahme-von-mordverfahren -geplant; Suliak, Wiederaufnahme zu Ungunsten des Anklagten – Bald Freispruch unter Vorbehalt? Legal Tribune Online vom 19.11.2019 (abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/strafrecht-freispruch -verurteilung-mord-dna-wiederaufnahme-doppelbestrafungsverbot/). 4 Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten aufgrund neuer Erkenntnisse – Überblick über die Rechtslage im Ausland, WD 7-262-18 vom 31.01.2019, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/593140/db45433e87a6f4ffb2dd8c91dff97557/WD-7-262-18-pdf-data.pdf. 5 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 u. 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 7 - 3000 - 014/21 Seite 4 beigefügte Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages auseinander.6 Die Verfasser äußern hierin unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur grundsätzliche Zweifel, ob eine entsprechende Regelung mit den maßgeblichen Grenzziehungen des Grundgesetzes vereinbar wäre.7 Verschiedene aktuelle Veröffentlichungen zeigen sich ebenfalls skeptisch. So betonen Frister/Müller8 in ihrem als Anlage 3 beigefügten Aufsatz, eine Erweiterung des § 362 StPO9 um einen Wiederaufnahmegrund zuungunsten des Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweise laufe der dem Wiederaufnahmerecht zugrunde liegenden Wertung nicht nur zuwider, sondern verkehre die vom Verfassungsgeber getroffene Wertung sogar ins genaue Gegenteil.10 Auch Aust/Schmidt11 halten in ihrem als Anlage 4 beigefügten Beitrag eine entsprechende einfachgesetzliche Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten für nicht möglich, da mit dieser das verfassungsrechtliche Regel-Ausnahme-Verhältnis, demzufolge nach Abschluss eines einmaligen gerichtlichen Verfahrens zumindest grundsätzlich die Rechtssicherheit in den Vordergrund trete und die materielle Gerechtigkeit jener zu weichen habe, als Kern des Mehrfachverfolgungsverbots nicht in sein Gegenteil verkehrt werden dürfe.12 Eine rückwirkende Einführung auch für 6 Die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe in § 362 StPO um neue Untersuchungsmethoden, WD 7-121-16 vom 16.08.2016, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/459054/81065a02699152ed582e70d09a7608cc/wd-7-121-16-pdf-data.pdf. 7 Auch die vom Bundesjustizministerium zu Beginn der 18. Wahlperiode eingesetzte Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens hat von Vorschlägen zur Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zum Nachteil des Angeklagten im Hinblick auf hiergegen vorgetragene verfassungsrechtliche Bedenken abgesehen, vgl. den entsprechenden Abschlussbericht, S. 168 (abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/Abschlussbericht _Reform_StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=2). 8 Frister/Müller, Reform der Wiederaufnahme in Strafsachen, ZRP 2019, 101. 9 Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 49 des Gesetzes vom 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3096) geändert worden ist. 10 ZRP 2019, 101, 103. 11 Aust/Schmidt, Ne bis in idem und Wiederaufnahme – Verfassungsrechtliche Grenzen aktueller Reformvorschläge der Erweiterung von § 362 StPO, ZRP 2021, 251. 12 ZRP 2021, 251, 252. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 7 - 3000 - 014/21 Seite 5 Altfälle verstieße nach Auffassung der Autoren zudem gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot .13 Dieser Bewertung wird von Zehetgruber14 in seinem als Anlage 5 beigefügten Beitrag entgegengehalten, eine „gesetzliche Erweiterung ausschließlich beim Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel, welche alleine oder zusammen mit bereits bestehenden geeignet sind, die Verurteilung wegen eines nicht verjährbaren Verbrechens zu begründen“ stelle eine verfassungsrechtlich zulässige bloße Grenzkorrektur dar. Für die Verfassungsmäßigkeit der Einführung einer entsprechenden, auf Mord und Völkermord beschränkten Wiederaufnahmemöglichkeit – die dann aber auch „eine spätere andere Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren selbst, z. B. wegen Totschlags“ nicht ausschließen soll, plädiert auch Letzgus15. Eine vermittelnde Position dergestalt, dass er zwar für eine Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des/der Angeklagten eintritt, insofern jedoch eine Verfassungsänderung für erforderlich erachtet, vertritt Sabel16 in seinem als Anlage 6 beigefügten Beitrag. * * * 13 ZRP 2021, 251, 254. 14 Zehetgruber, Ist eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zu Ungunsten des Angeklagten möglich? JR 2020, 157. 15 Letzgus, Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten bei neuen Tatsachen und Beweismitteln, NStZ 2020, 717 (der Beitrag ist in Teilen deckungsgleich mit der Stellungnahme „Wiederaufnahme zu Ungunsten des Anklagten – Ergänzung des § 362 StPO“ der Fachkommission Strafrecht des Bundesarbeitskreises Christlich-Demokratischer Juristen, abrufbar unter https://www.cdu.de/system/tdf/media/fk_strafrecht_und_strafprozessrecht _wiederaufnahme_zu_ungusten_des_angeklagten_ergaezung_des_ss_362_stpo.pdf?file=1). 16 Sabel, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrems zuungunsten des Angeklagten bei Mord und Völkermord, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), Festschrift zu Ehren von Marie Luise Graf-Schlicker, 2018, S. 561.