© 2019 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 010/19 Vergaberechtliche Tariftreueklauseln im Lichte der Änderung der EU- Entsenderichtlinie im Jahre 2018 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 010/19 Seite 2 Vergaberechtliche Tariftreueklauseln im Lichte der Änderung der EU-Entsenderichtlinie im Jahre 2018 Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 010/19 Abschluss der Arbeit: 30. Januar 2019 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 010/19 Seite 3 Die EU-Vergaberichtlinie 2014/24/EU1 enthält in ihrem Art. 70 (wie ihre Vorgängerin2 in Art. 26) eine Vorschrift3, die es öffentlichen Auftraggebern grundsätzlich gestattet, Bedingungen für die Ausführung des zu vergebenden Auftrags festzulegen. Diese Bedingungen können auch soziale Belange betreffen.4 Der Europäische Gerichtshof (EuGH)5 hat einerseits klargestellt, dass auch Vorgaben zur Höhe des Arbeitslohns, den der Auftragnehmer seinen Arbeitnehmern zahlt, ein „sozialer Belang“ im Sinne dieser Vorschrift sein kann.6 Er hat andererseits aber auch deutlich gemacht, dass von der Möglichkeit der Festlegung besonderer Auftragsbedingungen nur im Rahmen der sonstigen Vorgaben des Unionsrechts Gebrauch gemacht werden darf.7 Zu diesen Vorgaben gehört die Entsenderichtlinie 96/71/EG8. Nach deren Art. 3 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass Unternehmen, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer in ihr Hoheitsgebiet entsenden, diesen die Mindestlohnsätze garantieren, die im Hoheitsgebiet des Empfangsstaates durch Rechts oder Verwaltungsvorschriften oder durch „für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge“ festgelegt sind. Unter für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen sind gemäß Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 1 der Entsenderichtlinie Tarifverträge zu verstehen, die von allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind. Für den Fall, dass es in dem betreffenden Mitgliedstaat kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gibt, gestattete Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 2 der Entsenderichtlinie in ihrer bis zum 29. Juli 2018 geltenden Fassung den Mitgliedstaaten auch 1 Richtlinie 2014/24/EU vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 65). 2 Richtlinie 2004/18/EG vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge , Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 123 vom 30.4.2004, S. 114). 3 Art. 70 RL 2014/24/EU; davor Art. 26 RL 2004/18/EG. 4 Der deutsche Gesetzgeber hat diese Option in § 128 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, ber. S. 3245), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151), umgesetzt. 5 Eine kurze Zusammenfassung der Rechtsprechung des EuGH („Rüffert, „Bundesdruckerei“ und „RegioPost“) zu Tariftreueerklärungen und der Verpflichtung zur Zahlung von Mindestentgelten sowie der einschlägigen landesrechtlichen Regelungen findet sich bei Ziekow, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 128 GWB, Rn. 13 ff. 6 Vgl. EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 (RegioPost) –, Rn. 54 zu Art. 26 RL 2004/18/EG; abrufbar bei curia.europa.eu (http://curia.europa.eu/juris /document/document.jsf?text=&docid=171643&pageIndex=0&doclang =DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=7642, letzter Zugriff am 29. Januar 2019). 7 EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 (RegioPost) –, Rn. 57 ff. zu Art. 26 RL 2004/18/EG. Die heute geltende Nachfolgevorschrift des Art. 70 RL 2014/24/EU enthält zwar nicht mehr ausdrücklich die Einschränkung: „soweit diese mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind“, aus den Erwägungsgründen 1 und 37 der RL 2014/24/EU lässt sich jedoch entnehmen, dass von der Möglichkeit der Festlegung besonderer Ausschreibungsbedingungen weiterhin nur im Rahmen des sonstigen Unionsrechts einschließlich der Entsenderichtlinie 96/71/EG Gebrauch gemacht werden soll. 8 EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 (RegioPost) –, Rn. 60 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 010/19 Seite 4 Tarifverträge, die nicht für allgemeinverbindlich erklärt wurden, zugrunde zu legen, wenn diese bestimmten Anforderungen genügten. Da es in Deutschland ein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gibt9, kam die durch Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 2 der Entsenderichtlinie eröffnete Option hier jedoch nicht in Betracht. Das war einer der Gründe, weshalb der EuGH in seiner sog. Rüffert-Entscheidung10 aus dem Jahre 2008 eine Regelung aus dem niedersächsischen Landesvergabegesetz für unionsrechtswidrig erachtete , welche öffentlichen Auftraggebern vorschrieb, „Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu bezahlen.“11 Es handele sich, so der EuGH, weder um eine gesetzliche Mindestlohnregelung (da die Vorschrift selbst keinen Mindestlohnsatz festlegte) noch beziehe sie sich auf einen Tarifvertrag , der für allgemein verbindlich erklärt worden sei. Da in Deutschland ein System der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gelte, falle die Regelung auch nicht unter Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 2 der Entsenderichtlinie.12 Mit der Änderungsrichtlinie (EU) 2018/95713 hat der europäische Gesetzgeber Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 2 der Entsenderichtlinie mit Wirkung zum 29. Juli 201814 dahin gehend geändert, dass Tarifverträge, die nicht für allgemein verbindlich erklärt wurden, ebenfalls als Basis für die Festlegung von Mindestlohnsätzen dienen können, obwohl es in dem betreffenden Mitgliedstaat ein System der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gibt.15 Während Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 2 bis zum 29. Juli 2018 lautete: „Gibt es kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen […], so können die Mitgliedsstaaten […] “, lautet er nunmehr: „Mangels eines Systems zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen […] oder zusätzlich zu einem solchen System können die Mitgliedstaaten […].“16 Damit ließe sich einer deutschen Vorschrift, die (wie im Rüffert-Urteil) versucht, einen Mindestlohn unter Bezugnahme auf nicht für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge zu installieren, 9 Vgl. § 5 des Tarifvertragsgesetz (TVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1323), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2651). 10 EuGH, Urteil vom 3. April 2008 – Rechtssache C-346/06 –, abrufbar auf curia.europa.eu (http://curia.europa .eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=71030&pageIndex=0&doclang =DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1, letzter Zugriff am 29. Januar 2019). 11 Wortlaut der Regelung bei EuGH, Urteil vom 3. April 2008 – Rechtssache C-346/06, Rn. 3. 12 EuGH, Urteil vom 3. April 2008 – Rechtssache C-346/06 -, Rn. 24 ff. 13 Richtlinie (EU) 2018/957 vom 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 173 vom 9.7.2018, S. 16). 14 Vgl. Art. 4 RL (EU) 2018/957. 15 Vgl. Art. 1 Nr. 2 Buchstabe d RL (EU) 2018/957. 16 H.d.V. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 010/19 Seite 5 nicht mehr entgegenhalten, dass die Entsenderichtlinie diese Möglichkeit nur für Mitgliedstaaten eröffnet, die anders als in der Bundesrepublik nicht über ein System der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen verfügen. Es ist jedoch zu beachten, dass der EuGH in „Rüffert“ sein Verdikt der Unionsrechtswidrigkeit der Tariftreueerklärungsregelung im niedersächsischen Vergabegesetz nicht allein auf einen Verstoß gegen die Entsenderichtlinie gestützt hatte, sondern auch auf einen Verstoß gegen die im europäischen Primärrecht verankerte17 Dienstleistungsfreiheit. Es handele sich um eine Beschränkung dieser Grundfreiheit, die sich nicht mit dem Gesichtspunkt des Arbeitnehmerschutzes rechtfertigen lasse, weil sie im Ergebnis nur einen Schutz für Arbeitnehmer bewirke, die bei einer Beschäftigung im Rahmen eines öffentlichen Auftrags tätig seien, nicht aber für gleichermaßen schutzwürdige Arbeitnehmer bei einer Beschäftigung im Rahmen eines privaten Auftrags.18 Dieses Argument lässt sich nicht ohne weiteres unter Hinweis auf die Änderung der Entsenderichtlinie relativieren. Denn diese muss als europäisches Sekundärrecht grundsätzlich ebenso die Vorgaben der im europäischen Primärrecht verankerten und damit höherrangigen Dienstleistungsfreiheit beachten wie mitgliedsstaatliche Regelungen. Gleichwohl wird den Unionsorganen bei der Ausgestaltung und Beschränkung der Grundfreiheiten ein weiter gefasstes Ermessen zugestanden , soweit ein akzeptables Schutzniveau erreicht wird, weil eine unionsweite Regelung einheitlich wirke und damit das primäre Regelungsziel der Grundfreiheiten, Diskriminierungen zu vermeiden, respektiere.19 Vor diesem Hintergrund erscheint es also nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die Unionsrechtsmäßigkeit einer vergaberechtlichen Tariftreueregelung aufgrund der Änderung der Entsenderichtlinie im Ergebnis auch in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit großzügiger beurteilt als in der Rüffert-Entscheidung. Für diese Sichtweise ließen sich außerdem spätere Äußerungen des EuGH in seiner RegioPost- Entscheidung20 ins Feld führen, die sich in der Sache als Distanzierung von seiner Rüffert-Argumentation verstehen lassen, wonach vergaberechtliche Mindestlohnregelungen schon deshalb nicht zu rechtfertigen seien, weil sie nur für Arbeitnehmer bei einer Beschäftigung im Rahmen öffentlicher Aufträge, nicht aber im Rahmen privater Aufträge gälten. So heißt es im RegioPost- Urteil in Bezug auf eine Regelung im rheinland-pfälzischen Tariftreugesetzes21, der zufolge öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die sich dazu verpflichten, ihren Beschäftigten ein Mindestentgelt von 8,50 Euro zu zahlen: „Überdies kann, da sich die im Ausgangsverfahren fragliche Maßnahme in den Rahmen von Art. 26 der Richtlinie 2004/18 [Vergaberichtlinie a.F.] einfügt, der unter bestimmten Voraussetzungen die Vorgabe eines Mindestlohns bei öffentlichen Aufträgen gestattet, nicht gefordert werden, da sich die Maßnahme über diesen speziellen Bereich hinaus erstreckt und allgemein für alle Aufträge einschließlich 17 Art. 56 AEUV. 18 Vgl. EuGH, Urteil vom 3. April 2008 – Rechtssache C-346/06 -, Rn. 36 ff. 19 Vgl. Kluth, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 57 AEUV, Rn. 41. 20 EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 –, abrufbar bei curia.europa.eu (http://curia.europa .eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=171643&pageIndex=0&doclang =DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=7642, letzter Zugriff am 29. Januar 2019). 21 Text der Regelung in Rn. 13 des EuGH-Urteils. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 010/19 Seite 6 privater Aufträge gilt. Die Beschränkung des Geltungsbereichs der nationalen Maßnahme auf öffentliche Aufträge ist nämlich die bloße Folge des Umstands, dass es für diesen Bereich spezielle Regeln des Unionsrechts gibt, im konkreten Fall die der Richtlinie 2004/18.“22 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH diese Aussage selbst nicht als eine Distanzierung von „Rüffert“ ansieht, sondern als eine Fortentwicklung. Denn er weist auf bestimmte Unterschiede der Sachverhalte hin, die aus seiner Sicht eine andere Beurteilung rechtfertigen.23 Bei „Rüffert“ sei es um einen nur für die Baubranche geltenden Tarifvertrag gegangen, der sich nicht auf private Aufträge erstreckt habe und nicht für allgemein verbindlich erklärt worden sei. Überdies habe der im Tarifvertrag festgelegte Lohnsatz den für die betreffende Branche nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz geltenden Mindestlohnsatz überschritten. Bei „RegioPost“ gehe es dagegen um einen in einer Rechtsvorschrift festgelegten Mindestlohnsatz, die als zwingende Bestimmung über ein Mindestmaß an Schutz grundsätzlich allgemein und branchenunabhängig für die Vergabe aller öffentlichen Aufträge im Land Rheinland-Pfalz gelte. 24 Im wissenschaftlichen ist es daher umstritten, ob nur für die Vergabe öffentlicher Aufträge geltende Mindestlöhne, die über den nach dem Mindestlohngesetz geltenden Mindestlohn hinausgehen mit den vom EuGH aus der Dienstleistungsfreiheit abgeleiteten Grundsätzen vereinbar sind.25 Vor diesem Hintergrund muss die Frage, in welchem Maße die Änderung von Art. 3 Abs. 8 Unterabsatz 2 der Entsenderichtlinie im Jahre 2008 die Möglichkeiten für vergaberechtliche Tariftreueklauseln in einer Weise erweitert hat, die auch gegenüber der primärrechtlich garantierten Dienstleistungsfreiheit bestand hat, als offen bezeichnet werden. *** 22 EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 –, Rn. 64 f., 73. 23 EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 –, Rn. 73. 24 EuGH, Urteil vom 17. November 2015 – Rechtssache C-115/14 –, Rn. 74 f. 25 Vgl. Ziekow, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 128 GWB, Rn. 17 m.w.N.