© 2021 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 – 009/21 Die Institutionalisierung der Mietermitbestimmung in ausgewählten europäischen Staaten Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 2 Die Institutionalisierung der Mietermitbestimmung in ausgewählten europäischen Staaten Aktenzeichen: WD 7 - 3000 – 009/21 Abschluss der Arbeit: 1. März 2021 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Dänemark 4 3. Frankreich 6 4. Österreich 8 5. Schweden 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 4 1. Einleitung Formen institutionalisierter Mietermitbestimmung waren in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand öffentlicher Diskussion in Deutschland.1 Insbesondere im kommunalen Wohnungsbau gibt es einzelne Pilotprojekte, die in Form von Mieter(bei-)räten, Mietervertretern in unterschiedlicher Intensität Einfluss auf Entscheidungen bei der Verwaltung von Mietwohnungen verschaffen .2 Die Wissenschaftlichen Dienste wurden mit der Prüfung der diesbezüglichen Rechtslage in ausgewählten europäischen Staaten beauftragt. Konkret finden sich in der folgenden Aufstellung Staaten, in denen nach eigenen Recherchen des Fachbereiches erwähnenswerte Regelungen zur institutionalisierten Mietermitbestimmung in größeren öffentlichen oder privaten Wohnungsunternehmen bestehen. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Darstellung ist zu beachten, dass es sich bei den Attributen „öffentlich“ oder „privat“ (genau wie die Begriffe „gemeinnützig“, „sozial“ oder „genossenschaftlich “ etc.) um Rechtsbegriffe handelt, die im jeweiligen nationalen Rechtsgefüge unterschiedlich definiert sein können. Dies erlaubt insbesondere keine pauschale Gleichsetzung der hier gewählten Begrifflichkeiten mit deren Verständnis in Deutschland. Soweit in diesem Gutachten Übersetzungen ins Deutsche vorgenommen werden, handelt es sich um Arbeitsübersetzungen . 2. Dänemark In Dänemark leben ca. 39 % der Bevölkerung zur Miete (EU-Durchschnitt ca. 31 %, Deutschland ca. 49 %).3 Neben rein privat vermieteten Wohnungen unterscheidet das dänische Recht aus historischen Gründen zwischen gemeinnützigen und privaten Wohnungsgenossenschaften.4 Knapp die Hälfte des Mietwohnungsbestandes, ca. 21 % des gesamten dänischen Wohnungsbestandes, 1 Vergleiche beispielhaft Deutschlandfunk Kultur (Internetauftritt), „Wohnungsmarkt und Mitbestimmung – Vom Mietrecht zu den Mieterrechten“, Artikel vom 16. Juli 2019, abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur .de/wohnungsmarkt-und-mitbestimmung-vom-mietrecht-zu-den.976.de.html?dram:article_id=453969 (letzter Abruf dieser und aller weiteren Internetquellen: 1. März 2021). 2 Überblick bei Faulstich u.a., Mieterbeiräte – Zugleich zu den Früchten einer (rechts-)vergleichenden Perspektive auf sonstige Einrichtungen zur Bündelung von Kollektivinteressen, Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (NZM) 2020, S. 617 ff. 3 Zahlen gemäß aktuellen Quelldatenauszug (Stand: 26. Februar 2021) für 2019 von Eurostat, Distribution of population by tenure status, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ilc_lvho02/default/table?lang=en. Erläuterung der Statistiken von Eurostat (für 2018) abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained /index.php/Housing_statistics/de#Wohnbesitzverh.C3.A4ltnisse. 4 Tornow, Wohnungsgenossenschaften in Dänemark – Akteure in der sozialen Quartiersentwicklung, Informationen zur Raumentwicklung (IzR) 2007, S. 263, abrufbar unter: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen /izr/2007/Downloads/4Tornow.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 5 entfällt dabei auf gemeinnützige Wohnungsgenossenschaften (Almene Boliger).5 Dort werden Wohnungen speziell für Familien sowie junge, behinderte oder ältere Menschen angeboten, wobei der Wohnungsbestand mittels Wartelisten prinzipiell auch der Allgemeinheit zur Verfügung steht.6 Die Entscheidungsfindung im gemeinnützigen Wohnungsbau in Dänemark ist von einem im Einzelnen komplexen Zusammenspiel zwischen dem dänischen Staat, Gemeinden, Mietern und den einzelnen Genossenschaften geprägt.7 In den insgesamt 700 gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften in 7 500 definierten Siedlungseinheiten spielt dabei bereits seit den 1960er Jahren die demokratische Mitbestimmung der Mieter (Beboerdemokrati)8 eine besondere Rolle.9 Diese ist auch gesetzlich festgeschrieben.10 5 Boligselskabernes Landsforening – BL (Verband der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften in Dänemark), „Hvad er en almen bolig?“, Artikel vom 7. Juni 2020 (Stand: 10. Oktober 2020), abrufbar in dänischer Sprache unter: https://bl.dk/politik-og-analyser/temaer/hvad-er-en-almen-bolig/. 6 BL, „In English“, Artikel vom 30. Oktober 2018 (Stand: 22. Oktober 2019), abrufbar in englischer Sprache unter: https://bl.dk/in-english/. 7 Nielsen/Haagerup, The Danish Social Housing Sector: Recent Changes and Future Challenges, Critical Housing Analysis 2017, S. 142, 143 f., abrufbar in englischer Sprache unter: http://www.housing-critical.com/homepage -1/the-danish-social-housing-sector-recent-changes. Weitere allgemeine Informationen zum dänischen gemeinnützigen Wohnungsbau finden sich in einem bereits veröffentlichten Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Gemeinnütziger Wohnungsbau in EU-Mitgliedstaaten, WD 7 - 3000 - 213/15 (Sachstand vom 6. Januar 2016), S. 5 f., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/480342/d7b2ad2ebb5227de75f611bce113ed7a/WD-7-213-15-pdfdata .pdf). 8 Tornow (Fußnote 4), S. 265. 9 Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBSR), Mietrecht und energetische Sanierung im europäischen Vergleich, November 2016, S. 24, abrufbar unter: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/bbsr-online/2016/bbsr-online-13-2016- dl.pdf?__blob=publicationFile&v=3. Dort wird von „Siedlungsbereichen“ statt von „Siedlungseinheiten“ gesprochen . 10 Vergleiche insbesondere §§ 33 ff. des Gesetzes über den gemeinnützigen Wohnungsbau (Lov om almene boliger m.v.), abrufbar in dänischer Sprache unter: https://www.retsinformation.dk/eli/lta/2020/1203. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 6 Hiernach wählt in jeder Siedlungseinheit die jährliche Mieterversammlung einen Mieterrat.11 Zudem verabschieden sie das Jahresbudget einer Siedlungseinheit, entscheiden über die Miethöhe , größere Renovierungsarbeiten und die Hausordnung.12 Dem Verwalter einer Siedlungseinheit kommt dabei ein Vorschlagsrecht zu.13 Die gewählten Mieterräte als Exekutivgewalt der Siedlungseinheiten bestimmen eine Vertreterversammlung, die wiederum einen Verwaltungsrat der gesamten Wohnungsgenossenschaft wählt.14 Dabei ist festgelegt, dass die Mietervertreter in jedem Fall die Mehrheit im Gesamtverwaltungsrat halten.15 3. Frankreich Der Anteil der Mieter an der französischen Bevölkerung beträgt knapp 36 %.16 Der französische Mietwohnungsmarkt ist bis in die heutige Zeit vom sozial ausgerichteten, zentralstaatlichen Wohnungsbau der Nachkriegszeit geprägt – vor allem in den Ballungsgebieten.17 Dabei wird der soziale Wohnungsbau von einer Vielzahl von staatlichen, teilstaatlichen und nichtstaatlichen Akteuren betrieben. Der Großteil des sozialen Wohnungsbestandes (84 %) fällt unter das spezifische Rechtsregime der Habitation à loyer modéré (HLM), geregelt in der französischen Bau- und Wohnungsordnung (Code de la construction et de l'habitation (CCH)).18 Unter diesem Regelungskanon agieren verschiedene Gesellschaftsformen; annähernd die Hälfte des HLM-Wohnungsbestandes wird dabei von einer der 198 Entreprises sociales pour l'habitat 11 BL (Fußnote 6). 12 Future Distributed, Social Housing in Denmark: The Tenant Democracy, Artikel vom 16. August 2020, abrufbar unter: https://futuredistributed.org/social-housing-denmark; International Observatory on Social Housing, Great Advice from Denmark on Supporting Social Housing Tenant Rights, Artikel vom 11. Juli 2017, abrufbar unter: https://internationalsocialhousing.org/2017/07/11/great-advice-from-denmark-on-supporting-social-housingtenant -rights/. Vergleiche auch entsprechend Tornow (Fußnote 4), S. 265. 13 Ebenda. 14 BL (Fußnote 6). 15 Ebenda. 16 Zahlen gemäß aktuellen Quelldatenauszug (Stand: 26. Februar 2021) für 2019 von Eurostat, Distribution of population by tenure status, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ilc_lvho02/default/table?lang=en. Erläuterung der Statistiken von Eurostat (für 2018) abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained /index.php/Housing_statistics/de#Wohnbesitzverh.C3.A4ltnisse. 17 BBSR (Fußnote 9), S. 43; Vroelant, “Everyone should be housed“: The French Generalist Model of Social Housing at Stake, in: Chen u.a., The Future of Public Housing, 2013, S. 215 ff., 220 f. 18 Union sociale pour l'habitat – USH (HLM-Dachverband), „Parc social et parc Hlm“, 2020, abrufbar in französischer Sprache unter: https://www.union-habitat.org/union-data/l-essentiel. Vergleiche zur gesetzlichen Grundlage speziell L411 ff. CCH , abrufbar in französischer Sprache unter: https://www.legifrance.gouv.fr/codes/section _lc/LEGITEXT000006074096/LEGISCTA000006128689/#LEGISCTA000006128689 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 7 (ESH) gehalten.19 Hierbei handelt es sich um spezielle privatrechtlich verfasste Aktiengesellschaften mit dem Zweck des Baus und der Verwaltung von Sozialwohnungen, deren Gründung der Genehmigung des französischen Ministeriums für Wohnungswesen bedarf.20 Eine ESH gewährt ihren Mietern besondere Mitbestimmungsrechte. So sind deren Aktionäre gesetzlich in mehrere Kategorien unterteilt:21 Eine oder ein Zusammenschluss von mehreren Gebietskörperschaften fungiert als Referenzaktionär, der in jedem Fall die Mehrheit der Stimmen hält.22 Zu den vorgeschriebenen Aktionärsgruppen zählen aber unter anderem auch drei Mietervertreter .23 Diese werden aus geschlechtsparitätischen Kandidatenlisten für vier Jahre gewählt, die von anerkannten Wohnungsbauverbänden aufgestellt werden.24 Der Referenzaktionär überträgt den gewählten Mietervertretern dabei Aktienanteile zu einem „symbolischen Preis“ (prix symbolique), sie erhalten allerdings unabhängig von ihrem Kapitalanteil mindestens 10 % der Stimmen auf der Hauptversammlung.25 Die Mietervertreter haben, wie auch alle sonstigen Aktionärsgruppen , ein Vorschlagsrecht hinsichtlich der Wahl der Mitglieder des Verwaltungs- und Aufsichtsrates der ESH.26 Die drei Vertreter müssen zudem zwingend dem Verwaltungsrat, dem Exekutivorgan der Gesellschaft, angehören.27 19 USH, „Acteurs du parc HLM“, 2020, abrufbar in französischer Sprache unter: https://www.union-habitat .org/union-data/l-essentiel. 20 Préfet de la Région Bretagne (Präfektur der Region Bretagne – Internetauftritt), „Les Entreprises Sociales de l’Habitat (ESH)“, Artikel vom 18. Juni 2018 (Stand: 12. September 2019), abrufbar in französischer Sprache unter: http://www.bretagne.developpement-durable.gouv.fr/les-entreprises-sociales-de-l-habitat-esh-a3646.html. 21 Vergleiche insgesamt Art. L422-2-1 CCH und den Überblick bei Préfet de la Région Bretagne (Fußnote 20). 22 Préfet de la Région Bretagne (Fußnote 20), Ziffer 5. 23 Art. L422-2-1 Abs. 4 CCH. 24 Vergleiche Art. L422-2-1 Abs. 1 Unterabsatz 3 und näher Art. R422-2-1 CCH, letzterer abrufbar in französischer Sprache unter: https://www.legifrance.gouv.fr/codes/article_lc/LEGIARTI000039347605. 25 Art. L422-2-1 Abs. 1, 2 CCH. 26 Art. L422-2-1 Abs. 4 CCH. 27 Ebenda. Siehe auch Préfet de la Région Bretagne (Fußnote 20), Ziffer 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 8 4. Österreich Der österreichische Wohnungsmarkt ist von einem vergleichsweise hohen Mieteranteil von knapp 45 % geprägt.28 Insbesondere in der Bundeshauptstadt Wien sind über 43 % aller Wohnverhältnisse solche in kommunalen oder genossenschaftlichen Mietwohnungen29 (Deutschland (2011): 19 %).30 Die Mietermitbestimmung ist in Österreich nicht gesetzlich festgelegt.31 Der Gemeinderat der Stadt Wien hat allerdings beispielsweise institutionalisierte Beteiligungsmöglichkeiten für Mieter in städtischen Wohnanlagen in einem „Mitbestimmungsstatut“ festgelegt.32 Maßgeblich findet es Anwendung auf die ca. 220.000 Wohnungen im Bestand des städtischen Unternehmens „Stadt Wien – Wiener Wohnen“, der größten kommunalen Hausverwaltung Europas.33 28 Zahlen gemäß aktuellen Quelldatenauszug (Stand: 26. Februar 2021) für 2019 von Eurostat, Distribution of population by tenure status, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ilc_lvho02/default/table?lang=en. Erläuterung der Statistiken von Eurostat (für 2018) abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained /index.php/Housing_statistics/de#Wohnbesitzverh.C3.A4ltnisse. 29 Statistik Austria, Wohnen 2019 (Mikrozensus), 20. Juni 2020, Tabelle 1.3. (S. 29), abrufbar unter: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/wohnen/wohnsituation/index.html. 30 Anteil der Mietwohnungen im Eigentum von Kommunen oder kommunalen Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften gemäß Zensus 2011 (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI), Faktenblätter zum deutschen Wohnungsmarkt 2019, Stand: April 2019, S. 14, abrufbar unter: https://www.die-wohnraumoffensive .de/fileadmin/user_upload/pdf/BMI-Faktenblaetter-2019-lay03.pdf). 31 Mieterbeirat der Dienststelle des Magistrats der Stadt Wien „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ (Internetauftritt), „Der Mieterbeirat“, abrufbar unter: https://www.mieterbeirat.at/index.php?id=134. 32 Vergleiche Präambel und § 1 des Mitbestimmungsstatuts, aktuelle Fassung vom 1. Januar 2015 abrufbar unter: https://www.wienerwohnen.at/mieterin/lebenimgemeindebau/mietermitbestimmung.html. 33 Stadt Wien – Wiener Wohnen (Internetauftritt), „Über Wiener Wohnen“, abrufbar unter: https://www.wienerwohnen .at/ueber-uns/ueber.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 9 Die Mietereinbeziehung findet dabei in vier, in Intensität zunehmenden Stufen statt: Information ,34 Mitsprache,35 Mitbestimmung36 und Selbstbestimmung/Eigenständigkeit.37 Die Mitbestimmung der Mietergemeinschaft betrifft dabei stets nur eine Wohnanlage als Ganzes, etwa den Bauzustand oder die Gemeinschaftseinrichtungen, nicht aber einzelne Wohnungen.38 Die Hausversammlung ist das zentrale Element der Mitbestimmung innerhalb einer Wohnanlage .39 Eine ihrer Aufgaben ist etwa die Anhörung und Beschlussfassung über die Anträge von Bewohnern.40 In der Wahlversammlung – einer speziellen Form der Hausversammlung – wird unter anderem der Mieterbeirat, bestehend aus Mietervertretern, gewählt.41 Der Mieterbeirat agiert dabei als Interessenvertretung und führt die Beschlüsse der Hausversammlung aus.42 Er ist etwa berechtigt, die Einhaltung der Vorschriften über die Berechnung und Verwendung der Mietund sonstigen Einnahmen der Wohnhausanlage zu überprüfen.43 Er kann im Rahmen der vorhandenen Mittel (z.B. Mietzinsreserve) Erhaltungs- und Verbesserungsarbeiten vorschlagen und mit der Hausverwaltung Vereinbarungen über die Erhaltung und Verbesserung der Wohnhausanlage treffen.44 Zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen einem Mieterbeirat und der Hausverwaltung kann eine unabhängige Stelle, die Wohnungskommission, um Vermittlung angerufen werden .45 Geltende österreichische Bundes- oder Landesgesetze sowie Verordnungen gehen jedoch dem Mitbestimmungsstatut in jedem Fall vor.46 34 Bewohner erfahren im Vorfeld über Vorhaben in ihrem Umfeld, z.B. bei geplanten Sanierungsmaßnahmen (ebenda, S. 5). 35 Bewohner können ihre Meinung äußern, die in die Entscheidungsfindung einfließt, z.B. bei der Umgestaltung von Grünanlagen (ebenda, S. 5 f.). 36 Bewohner entscheiden mit, ob und wie ein Projekt durchgeführt wird, z.B. bei der Gestaltung von Spielplätzen (ebenda). 37 Bewohner entscheiden (mit), bringen eigene Ressourcen (Zeit/Geld/Wissen/Material) ein und setzen die Maßnahmen eigenständig um. Sie haben volle Verantwortung und tragen auch das Risiko, z.B. bei der Gestaltung von Gemeinschaftsräumen (ebenda). 38 Mitbestimmungsstatut, S. 6. 39 Ebenda, S. 24. 40 § 10 Abs. 3 Nr. 2 Mitbestimmungsstatut. 41 Mitbestimmungsstatut, S. 24. 42 § 5 Abs. 1 Satz 1 Mitbestimmungsstatut. 43 § 13 Abs. 1 Satz 1 Mitbestimmungsstatut. 44 §§ 14 Abs. 1 Satz 1, 13 Abs. 3 Satz 1 Mitbestimmungsstatut. 45 § 20 Abs. 1 Mitbestimmungsstatut. 46 Mitbestimmungsstatut, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 10 Weiter haben auch kleinere, nicht-staatliche Wohnungsunternehmen, wie die von der Gewerkschaft der Privatangestellten gegründete gemeinnützige Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA) ähnliche Mietermitbestimmungsstatute für ihre Wohnbaubestände erlassen.47 5. Schweden Der schwedische Wohnungsmarkt ist bis heute von einem starken staatlichen Mietwohnungsbau in den Bevölkerungszentren in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts charakterisiert, wenngleich in jüngerer Vergangenheit stärkere Privatisierungstendenzen zu verzeichnen waren.48 Die Mieterquote liegt landesweit bei knapp 36 %.49 In acht der zehn größten schwedischen Gemeinden ist der Anteil der vermieteten Wohnungen dennoch größer oder gleich zu den im Eigentum genutzten Wohnungen.50 Zwar sieht das schwedische Recht, soweit ersichtlich, keine spezifischen Mitbestimmungsrechte in privaten oder öffentlichen Wohnungsunternehmen vor. Aufgrund der herausragenden Bedeutung für den schwedischen Mietmarkt ist jedoch die indirekte institutionelle Mietermitbestimmung für die Festlegung des Mietpreises besonders hervorzuheben. Im Grundsatz kann der Mietpreis zwar frei zwischen Mieter und Vermieter ausgehandelt werden.51 Soweit ein Mietvertrag eine Verhandlungsklausel gemäß dem Mietverhandlungsgesetz (Hyresförhandlingslag)52 enthält, wird der Preis jedoch durch eine Art von Tarifvereinbarung festgesetzt.53 Das System wurde in 47 WBV-GPA, Mietermitbestimmung – Ein Leitfaden für die Mitbestimmung in Wohnhäusern der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte, abrufbar unter: http://www.wbv-gpa.at/media/file/105_190909_WBV_Mieterstatuten _RZ_Web.pdf. Vergleiche für die Geschichte der Wohnbauvereinigung und des Statuts S. 6 des Leitfadens. 48 BBSR (Fußnote 9), S. 69 f.; Andersson, Understanding Variation in the Size of the Public Housing Sector Across Swedish Municipalities: The Role of Politics, in: Chen u.a., The Future of Public Housing, 2013, S. 259, 260 ff. 49 Zahlen gemäß aktuellen Quelldatenauszug (Stand: 26. Februar 2021) für 2019 von Eurostat, Distribution of population by tenure status, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ilc_lvho02/default/table?lang=en. Erläuterung der Statistiken von Eurostat (für 2018) abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained /index.php/Housing_statistics/de#Wohnbesitzverh.C3.A4ltnisse. 50 Statistics Sweden – SCB (Schwedische Statistikbehörde), „Nearly 5 million dwellings in Sweden“, Artikel vom 23. April 2020 (Stichtag: 31. Dezember 2019), abrufbar in englischer Sprache unter: https://www.scb.se/en/finding -statistics/statistics-by-subject-area/housing-construction-and-building/housing-construction-and-conversion /dwelling-stock/pong/statistical-news/dwelling-stock-2019-12-31/. 51 Kapitel 12, § 19 Abs. 1 schwedisches Grundstücksgesetzbuch (Jordabalken), SFS 1970:994, abrufbar in schwedischer Sprache unter: https://www.riksdagen.se/sv/dokument-lagar/dokument/svensk-forfattningssamling/jordabalk -1970994_sfs-1970-994. 52 SFS 1978:304, abrufbar in schwedischer Sprache unter: https://www.riksdagen.se/sv/dokument-lagar/dokument /svensk-forfattningssamling/hyresforhandlingslag-1978304_sfs-1978-304. 53 Kapitel 12, § 19 Abs. 1 Jordabalken (Fußnote 51). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 11 den 1950er Jahren zur Festlegung der Mieten für den kommunalen Wohnungsbestand eingeführt und in den 1970er Jahren auch auf privat agierende Vermieter ausgeweitet.54 Parteien einer solchen Vereinbarung sind auf der einen Seite Vermieter (oder eine sie vertretende Organisation), auf der anderen Seite eine Mieterorganisation.55 In der Praxis kommt hierbei der schwedischen Mietervereinigung (Hyresgästföreningen) eine zentrale Bedeutung zu. So verhandelt die in deutschen Pressestimmen teilweise auch als „Mietergewerkschaft“ übersetzte Organisation 56 nach eigenen Angaben den Mietpreis in über 90 % aller schwedischen Mietwohnungen aus.57 Finanziert werden die Verhandlungen auf Seite der Mietervereinigung nicht durch Mitgliedsbeiträge , sondern durch einen monatlichen Mieterbeitrag, der als Teil der Miete treuhänderisch von den Vermietern an die Vereinigung weitergegeben wird.58 Im Sinne einer „klassischen“ Mietervereinigung bietet sie im Übrigen aber auch Rechtsberatung für ihre über 500 000 Mitglieder an und betreibt Öffentlichkeitsarbeit in deren Sinne.59 Grundlage für Tarifverhandlungen bildet eine Grundsatzvereinbarung zwischen Vermietern und Mieterorganisation für ein oder mehrere Mietshäuser.60 Zentrale Tarifverhandlungen werden auf Antrag einer Partei durchgeführt und finden normalerweise jährlich statt.61 Verhandlungen sind hierbei nicht notwendigerweise auf die Miethöhe beschränkt: Sofern nicht anders vereinbart, können auf Wunsch einer Partei auch Verhandlungen über den Wohnungszustand oder gemeinsame Einrichtungen in einem Haus geführt werden.62 Grundlage für den Mietpreis ist dabei vor allem der sogenannte Nutzwert einer Wohnung, insbesondere im Vergleich zur Miethöhe von 54 Sveriges Allmännytta – SABO (Verband der kommunalen Wohnungsunternehmen), „Rent setting in Sweden“, Stand: 20. Juni 2013, S. 1, abrufbar in englischer Sprache unter: https://www.sverigesallmannytta.se/in-english /rent-setting-in-sweden/. 55 § 1 Abs. 1, 2 Hyresförhandlingslag. 56 Neues Deutschland, „Miete verweigern, Kündigung ins Klo – Eine Berliner Gewerkschaft für Mieter will mit Streiks gegen Verdrängung vorgehen. Geht das überhaupt?“, Artikel vom 16. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143210.mietergewerkschaft-miete-verweigern-kuendigung-insklo .html. 57 Hyresgästföreningen (Internetauftritt), „Vi förhandlar din hyra“, abrufbar in schwedischer Sprache unter: https://www.hyresgastforeningen.se/om-oss/vad-vi-gor/hyresforhandling/. 58 SABO (Fußnote 54), S. 2. Dies sind meistens etwa 0,5 % der Gesamtmiete (Baheru, Swedish Legislation of Residential Tenancies: An Interaction between Collective Bargaining and Mandatory Regulation, Oktober 2017, S. 19, abrufbar unter: https://www.uni-bremen.de/fileadmin/user_upload/fachbereiche/fb6/fb6/Forschung /ZERP/TENLAW/FollowUp/Malta/Malta_4.3__2018__Regulating_Rental_Conditions_through_Collective _Bargaining_-_H_Baheru.pdf). 59 Hyresgästföreningen (Fußnote 57) und „Vår organisation“, abrufbar in schwedischer Sprache unter: https://www.hyresgastforeningen.se/om-oss/var-organisation/organisation/. 60 §§ 6 ff. Hyresförhandlingslag. 61 SABO (Fußnote 54), S. 3. Siehe auch § 15 Abs. 1 Hyresförhandlingslag. 62 § 5 Abs. 2 Hyresförhandlingslag. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 – 009/21 Seite 12 vergleichbaren Wohnungen anderer tariflicher Vereinbarungen.63 In den allermeisten Fällen erzielen beide Parteien einen Kompromiss bei vermieterseitig geforderten Mieterhöhungen.64 Ansonsten existieren mehrere Ebenen der Streitschlichtung: Soweit kommunale Wohnungen betroffen sind, wird die Schlichtungsstelle des schwedischen Verbandes der kommunalen Wohnungsunternehmen (SABO) zur Mediation oder, falls keine Einigung dort erzielt werden kann, zur Entscheidung angerufen.65 Bei privat vermieteten Wohnungen findet ein ähnliches Verfahren vor staatlichen Mietgerichten statt, deren Entscheidung über die angemessene Miethöhe nach erfolgloser Mediation vor allem auf dem bereits benannten Nutzwert einer Wohnung basiert.66 Auch der nicht in eine Tarifvereinbarung eingebundene Mieter hat jedoch jederzeit das Recht, die Angemessenheit des Mietpreises unter Berücksichtigung des durch die Tarifvereinbarungen beeinflussten Nutzwertes (s.o.) von einem Mietgericht überprüfen zu lassen.67 Insofern bestehen für Vermieter kaum wirtschaftliche Anreize, die Miete außerhalb einer tariflichen Vereinbarung (rechtssicher) zu erhöhen. Als Vorteile des Instruments der zentral ausgehandelten Mieten werden hervorgehoben, dass der Zusammenschluss zu einer Stärkung der Verhandlungsposition der Mieter führe, gleichzeitig aber auch eine effiziente Möglichkeit für die Vermieter darstelle, die Miete gleichzeitig für eine Vielzahl Mieter zu erhöhen.68 Gleichzeitig wird das System auch unter mehreren Gesichtspunkten in der Literatur kritisiert: So führe die künstliche Mietpreissenkung unter das Marktgleichgewicht unter anderem zu fehlenden Anreizen für den Wohnungsbau und somit einem mangelnden Wohnungsangebot, Umgehungsgeschäften sowie sozialer und Spaltung durch eine übermäßige Privilegierung lokal gut vernetzter Personengruppen („Markteingeweihte“) im Vergleich zu Neuankömmlingen wie Migranten („Marktaußenseiter“).69 In diesem Zusammenhang werden auch Parallelen zum „Berliner Mietendeckel“ gezogen.70 * * * 63 Nähere Informationen bei SABO (Fußnote 54), S. 2, 4. Vergleiche zur Festlegung des Nutzwertes auch Kapitel 12, §§ 55 ff. Jordabalken (Fußnote 51). 64 SABO (Fußnote 54), S. 3. 65 Ebenda. 66 Ebenda. 67 Fritzon, Rent Controls – How they damage the housing market, the economy and society, Januar 2020, S. 11, abrufbar in englischer Sprache unter: http://www.epicenternetwork.eu/wp-content/uploads/2020/01/Epicenter _How-rent-controls-damage-the-housing-market_web.pdf. Vergleiche auch §§ 55 ff. Jordabalken (Fußnote 51). 68 SABO (Fußnote 54), S. 2. 69 Vergleiche näher Fritzon (Fußnote 67), S. 13 ff. 70 Ebenda, S. 28.