Deutscher Bundestag Kirchliche Selbstbestimmung im kollektiven Arbeitsrecht und ihre Vereinbarkeit mit Europarecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2011 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-216/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 2 Kirchliche Selbstbestimmung im kollektiven Arbeitsrecht und ihre Vereinbarkeit mit Europarecht Aktenzeichen: WD 6 – 3000-216/10 Abschluss der Arbeit: 4. März 2011 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Der Dritte Weg im System der Kirchen 6 2.1. Historische Entwicklung 6 2.2. Bedeutung des Dritten Weges im juristischen Kontext 7 2.2.1. Rechtliche Grundlagen 7 2.2.2. Kirchenspezifische Unterschiede – Letztentscheidungsrecht des Bischofs 8 2.2.3. Keine Normwirkung der Regelungen des Dritten Weges 8 2.2.4. Beispiel zum innerkirchlichen Verfahren 9 3. Die Ausnahme für Religionsgemeinschaften im Betriebsverfassungsgesetz 10 3.1. Darstellung der Ausnahme 10 3.2. Historische Entwicklung 11 3.3. Argumente gegen eine Vereinbarkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften mit der kirchlichen Ethik 12 4. Das kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Europarecht 12 4.1. Korporative Religionsfreiheit in Europa 12 4.1.1. Verankerung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Art. 17 EUV? 12 4.1.1.1. Regelungsinhalt des Art. 17 AEUV 13 4.1.1.2. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Teil des kirchlichen Status in Art. 17 AEUV? 14 4.1.1.3. Konsequenzen für die Überprüfbarkeit im Kollisionsfall 15 4.1.2. Korporatives Recht der Religionsgemeinschaften aus Art. 9 EMRK 16 4.1.3. Korporatives Recht der Religionsgemeinschaften aus Art. 10 Abs. 1 EGRC 17 4.1.4. Zwischenergebnis 18 4.2. Vereinbarkeit mit Art. 21 und Art. 28 EGRC und Art. 11 EMRK 18 4.2.1. Vereinbarkeit mit Artikel 28 EGRC 19 4.2.1.1. Schutzbereich 19 4.2.1.2. Bewertung eines Kollisionsfalls 20 4.2.2. Vereinbarkeit mit Artikel 21 EGRC 20 4.2.2.1. Schutzbereich 20 4.2.2.2. Kollision des Dritten Weges mit Artikel 21 EGRC? 21 4.2.3. Vereinbarkeit mit Art. 11 EMRK 22 4.3. Fazit 22 5. Die kirchliche Gerichtsbarkeit 23 5.1. Aufbau 23 5.2. Überprüfung der paritätischen Besetzung 24 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 4 6. Rechtsbeistand im kirchengerichtlichen Verfahren der Evangelischen Kirche 24 7. Bindungswirkung kirchengerichtlicher Urteile und ihre Vollstreckung 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 5 1. Einleitung Mit Art. 140 GG sind die Bestimmungen der Art. 136 bis Art. 141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) in das Grundgesetz inkorporiert worden. Von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung, der auch als „lex regia“ des Staatskirchenrechts bezeichnet wird1. Das darin gewährleistete Recht der Kirchen ihre Angelegenheiten innerhalb des für alle geltenden Gesetzes selbst zu ordnen und zu verwalten (sog. Selbstbestimmungsrecht) ist insbesondere wegen der großen Anzahl abhängiger Beschäftigungsverhältnisse in den Kirchen und ihren Einrichtungen bedeutsam.2 Die katholische Kirche und die evangelische Kirche beschäftigen vor allem in ihren karitativen Organisationen mehr als eine Million Menschen und sind daher nach dem Staat der bedeutendste Arbeitgeber in Deutschland. Ihre größten karitativen Organisationen , die (katholische) Caritas und die (evangelische) Diakonie verfügen allein über jeweils fast 500.000 bzw. 450.000 Mitarbeiter. Insbesondere in Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, Heimen für Kinder oder Senioren und Beratungszentren (AIDS, Migrationsfragen, Frauen in Not). Die Kirchen begreifen ihre sozialen Tätigkeiten als Teil ihres Verkündigungsauftrags und als praktische Umsetzung des Gebots der Nächstenliebe. Sofern die Einrichtungen am kirchlichen Sendungsauftrag beteiligt sind, erstreckt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) das Selbstbestimmungsrecht nicht nur auf die verfassten Kirchen sondern auch auf ihre Einrichtungen.3 Nicht nur das Individualarbeitsrecht ist durch die statuierten Loyalitätspflichten unmittelbar betroffen. Auch das Kollektivarbeitsrecht wird in seiner betrieblichen und überbetrieblichen Ausformung tangiert. Die verfassten Kirchen und ihre Einrichtungen lehnen daher für sich das weltliche Tarifrecht ab und haben ein Sondersystem, den sogenannten „Dritten Weg“ geschaffen, in dem die Arbeitsbedingungen durch paritätisch besetzte Kommissionen beschlossen werden. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht unterliegt schließlich auch den Einflüssen aus Europa. Die Loyalitätspflichten der Dienstnehmer in kirchlichen Einrichtungen war 2010 Gegenstand zweier Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und auch bei der Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG in nationales Recht war das kirchliche Selbstbestimmungsrecht berücksichtigt worden. Zum Dritten Weg hat noch kein Europäisches Gericht Stellung genommen. Er ist jedoch auf nationaler Ebene in der Literatur nicht unumstritten und vor allem Gewerkschaften sehen hierin einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG.4 1 WEIß 1999, S. 6. 2 Ver.di schätz die Zahl der Beschäftigten 2005 auf 1.83 Millionen, davon 1.3 Millionen bei den beiden großen Kirchen Deutschlands, vgl. Arbeitsplatz Kirche, Die unbekannten Giganten, Sonderausgabe 16. Dezember 2005, S. 1. 3 BVerfG, Beschluss vom 11.10.1977, 2 BvR 209/76. 4 Zum Meinungsstand: KÜHLING 2007, S. 9 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 6 2. Der Dritte Weg im System der Kirchen 2.1. Historische Entwicklung Bei der Frage nach der Bedeutung des Begriffs „Dritter Weg“ im historischen Kontext ist insbesondere die Entwicklung der Haltung der Kirche zum Streikrecht von Interesse. In der katholischen Kirche wurde die Notwendigkeit des Arbeitskampfes als Mittel zur Austragung von Arbeitskonflikten zunächst nicht einheitlich bewertet. Noch Anfang des 20. Jahrhundert präferierte Pius XI. eine staatliche Schlichtung vor dem Arbeitskampf.5 Der konfliktvermeidende Ansatz wurde jedoch in der Folgezeit nicht weiterverfolgt und es kam Ende 1965 zur Verabschiedung des Pastoralkonstitution „ Gaudium et spes“ durch das Zweite Vatikanische Konzil, worin der Streik als letzter Behelf für unentbehrlich zur Verteidigung und Durchsetzung von Arbeiterrechten angesehen wird.6 Eine ähnliche Entwicklung der Einstellung zum Arbeitskampf lässt sich in der Literatur zur evangelischen Ethik feststellen. Während der Streik in den 50er und 60er Jahren eher negativ betrachtet und eine Belastung der Beziehungen der Tarifpartner befürchtet wurde, ging es in den Folgejahren vor allem um die Frage der Zulässigkeit der einzelnen Mittel des Arbeitskampfes, wobei die Legitimität des Streiks an sich nicht mehr bestritten wurde.7 Die grundsätzliche Billigung von Arbeitskampfmaßnahmen lässt jedoch aus Sicht der Kirchen nicht auf eine Zulässigkeit des Streikrechts im innerkirchlichen System schließen.8 Als Grund hierfür wird angeführt, dass eine externe Bewertung der inneren Ordnung der Kirche durch Dritte , wie beispielsweise den Gewerkschaften, dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zuwiderlaufen würden. In der Erklärung zum kirchlichen Dienst vom 22.09.1993 heißt es hierzu wörtlich : „Streik und Aussperrung widersprechen den Grunderfordernissen des kirchlichen Dienstes “9 Dem „Dritten Weg“ geht begrifflich ein „Erster“ und „Zweiter Weg“ voraus, welche im selbstbestimmten System der Kirchen keine Anwendung finden.10 Die verschiedenen gangbaren Wege sollen im Folgenden kurz dargestellt werden: 5 WALDHOFF 2005, S. 998. 6 http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudiumet -spes_ge.html unter Nr. 68 „Die Beteiligung in der Ordnung von Unternehmen und Gesamtwirtschaft; Die Arbeitskämpfe “. 7 HONECKER 1981, S. 87f. 8 Kritisch zur Zulässigkeit der Ablehnung des Tarifvertrages und zur Zulässigkeit des Arbeitskampfes: GAMILL- SCHEG 1994, S. 46ff. 9 http://www.konfliktfeld-pflege.de/dateien/text/database/down/kirchen-gg.pdf unter: Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst, IV Nr. 1. 10 Für einen nationalsozialistischen Hintergrund dieses Begriffs gibt es – im Gegensatz zum Begriff der „Dienstgemeinschaft “ – keine Hinweise oder Anhaltspunkte in der Literatur. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 7 Der „Erste Weg“ stellt die einseitige Festlegung der Arbeitsvertragsgestaltung einschließlich der Festlegung der Vergütung durch den Dienstgeber dar. Mitwirkungsrechte der Dienstnehmer bestehen nicht. Der „Zweite Weg“ beschreibt das weltliche Tarifvertragssystem, das die Interessenvertretung durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zum Inhalt hat. Die Arbeitsbedingungen werden durch den Abschluss von Tarifverträgen geregelt. Zur Stärkung der jeweiligen Verhandlungsposition dürfen Mittel des Arbeitskampfes, insbesondere der Streik auf Arbeitnehmerseite und die Aussperrung als Pendant hierzu auf Arbeitgeberseite, ergriffen werden. Der „Dritte Weg“ wurde von den verfassten Kirchen in Deutschland zur Lösung von arbeitsrechtlichen Konflikten zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern als eigenständiges Regelungsverfahren entwickelt. Begründet wird dieser kollektivrechtliche Alleingang mit der besonderen Beziehung , die in der kirchlichen Gemeinschaft bestehe. Diese sei so sehr durch das Miteinander im Dienste Gottes geprägt, dass die Gemeinsamkeit des Ziels und der Aufgabe ein „Auskämpfen“ der arbeitsrechtlichen Kontroversen nicht gestatte.11 Bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, lehnen die Kirchen in Deutschland daher das weltliche Tarifvertragssystem und das Streikrecht für sich ab und gehen den Dritten Weg. 2.2. Bedeutung des Dritten Weges im juristischen Kontext 2.2.1. Rechtliche Grundlagen Zur Regelung des Dritten Weges haben die Kirchen eigene Bestimmungen erlassen, die Verfahrensregelungen zur Schaffung der Arbeitsvertragsordnungen für kirchliche Dienstverhältnisse beinhalten. Den ersten Schritt machte die evangelische Kirche 1975/76, indem sie den „Ersten Weg“ verließ und die Festlegung der Arbeitsbedingungen durch eine paritätisch besetzte Kommission beschloss. Rechtliche Grundlage des Dritten Weges in der katholischen Kirche ist die Ordnung für die Zentrale Kommission zur Ordnung des Arbeitsvertragsrechts im kirchlichen Dienst (Zentral-KODA- Ordnung) und die Rahmenordnung für die Kommission zur Ordnung des diözesanen Arbeitsvertragsrechts (Bistum-Regional-KODA-Ordnung). Basis der Regional- und Zentral-KODA- Ordnungen ist die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse “, die in Art. 7 Abs. 1 S. 4 auf die Regelungen der KODA-Ordnungen verweist.12 Die Arbeit der Arbeitsrechtlichen Kommission in der Evangelischen Kirche geht auf die Richtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für ein Arbeitsrechtsregelungsgesetz (ARRG- EKD) vom 8. Oktober 1976 zurück. Rechtliche Verbindlichkeit erlangt der darin geregelte Dritte Weg durch den Erlass von Bestimmungen zur Arbeitsrechtsregelung in den einzelnen evangeli- 11 Siehe hierzu: Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst, 22. September 1993, S. 33: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/VDD/db051_11_auflage.pdf; RICHARDI 2002, S. 932. Ablehnend: BELITZ 2006, S. 194ff. 12 GEHRING/THIELE 2002, S. 1017 Rn. 117f; THÜSING 1999, S. 299. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 8 schen Landeskirchen, wobei sich eine Vielzahl von Einzelregelungen innerhalb der insgesamt 22 Landeskirchen auftut.13 Inhaltlich orientierten sich die Beschlüsse der Kommissionen bisher zum großen Teil an den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes, die auf dem Zweiten Wege erzielt wurden. Hiervon ist jedenfalls die Evangelische Kirche durch ihren Beschluss vom 30. Juni 2005 abgewichen und hat sich gleichzeitig für die Erarbeitung eines „eigenen Tarifsystems“ entschieden.14 2.2.2. Kirchenspezifische Unterschiede – Letztentscheidungsrecht des Bischofs Zwar ist den großen Kirchen Deutschlands gemein, dass sie die Bildung paritätisch besetzter Beschlussgremien vorsehen, allerdings bestehen hinsichtlich der Ausgestaltung im Einzelnen zwischen den Kirchen Unterschiede. Während die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses in der evangelischen Kirche gem. § 14 Abs. 3 S. 1 ARRG-EKD verbindlich sind, hat in der katholischen Kirche der Bischof als Herr des Regelungsverfahrens ein Letztentscheidungsrecht.15 Dieses Letztentscheidungsrecht wird in der Literatur durchaus kritisch gesehen und wegen der nicht als gewährleistet angesehenen Parität als Indiz für eine Abkehr vom Dritten Weg wieder hin zum Ersten gewertet.16 2.2.3. Keine Normwirkung der Regelungen des Dritten Weges Das Bundesarbeitsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es sich bei den Regelungen des Dritten Weges nicht um Tarifverträge i.S.d. § 1 TVG handelt.17 In einer Entscheidung vom 25. März 2009 führt das Bundesarbeitsgericht (BAG) die dem Dritten Wege innewohnende „institutionalisierte Zwangsschlichtung“ als Grund dafür an, weshalb Regelungen des Dritten Weges keine den Tarifverträgen vergleichbare Gewähr böten.18 Vielmehr sieht das BAG in den Beschlüssen der Kommissionen allgemeine Arbeitsbedingungen ohne Rechtsnormcharakter und ohne Außenwirkung.19 Sie werden durch eine Klausel im Arbeitsvertrag Bestandteil des jeweiligen Arbeitsverhältnisses. 13 GEHRING/THIELE 2002, S.1002 Rn. 75f; PAHLKE 1986, S. 351. 14 KLUTE 2006, S. 16f. 15 THÜSING 1999, S. 299. 16 MAIER 2009, S. 33f.; zum Letztentscheidungsrecht siehe: DÜTZ 2007; RICHARDI 2009, S. 237 f. CRÜWELL 2005, S. 193, hält die Besetzung der Kommission nicht für geeignet Parität herzustellen, da die persönliche Unabhängigkeit der Mitarbeitervertreter bereits fraglich sei. 17 Vgl. hierzu BAG, NZA 2006, S. 874. 18 BAG, Urteil vom 25. März2009, 7 AZR 710/07; kritisch hierzu: JOUSSEN ZTR, 2010, S. 59. 19 GEHRING/THIELE 2002, S.1041 Rn. 165. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 9 2.2.4. Beispiel zum innerkirchlichen Verfahren Abschließend soll der Rechtsfindungsprozess im Sinne des Dritten Weges anhand eines Beispiels in der Evangelischen Kirche dargestellt werden20: 20 Die zitierten Bestimmungen sind solche der Ordnung für die Arbeitsrechtliche Kommission des Diakonischen Werkes der EKD vom 7. Juni 2001 in der Fassung vom 7. April 2006. Bleibt die erforderliche Mehrheit aus, ist gem. § 11 Abs. 2 S. 1 über den Gegenstand erneut zu beraten. Kommt ein Beschluss mit der erforderlichen Mehrheit zustande, wird dieser gem. § 12 im Rundschreiben des Diakonischen Werkes der EKD veröffentlicht. Schlichtungsausschuss: Kommt auch in dieser Sitzung kein Beschluss zustande , kann die Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder einer Seite den Schlichtungsausschuss anrufen Der Schlichtungsausschuss besteht gem. § 14 Abs. 1 aus einem oder einer Vorsitzenden und sechs beisitzenden Mitgliedern. Jeweils drei Mitglieder werden von jeder in der Kommission vertretenen Seite bestimmt. Der/Die Vorsitzende wird von der Arbeitsrechtlichen Kommission mit einstimmigen Beschluss der anwesenden Mitglieder bestimmt. Ablauf des Verfahrens (§ 14 Abs. 6): - Die Beteiligten werden angehört. - Der Schlichtungsausschuss beschließt in geheimer Beratung einstimmig. Ein einstimmiger Schlichtungsspruch ersetzt die Beschlussfassung der Arbeitsrechtlichen Kommission, sofern diese nicht einen den Schlichtungsspruch ersetzenden Beschluss fasst oder die Mehrheit der Mitglieder einer Seite der Arbeitsrechtlichen Kommission widerspricht. Kommt kein einstimmiger Schlichtungsspruch zustande oder liegt ein Widerspruch vor, so kann der Schlichtungsausschuss zur zweiten Stufe des Verfahrens angerufen werden : In der zweiten Stufe des Verfahrens beschließt der Schlichtungsausschuss in geheimer Beratung mehrheitlich. Beschlussfassung: - Die Kommission ist gem. § 11 Abs. 1 S. 1 beschlussfähig, wenn mind. 2/3 der stimmberechtigten Mitglieder auf jeder Seite anwesend sind. - Beschlüsse werden gem. § 11 Abs. 1 S. 2 mit einer Stimmmehrheit von 2/3 der stimmberechtigten Mitglieder auf jeder Seite der Arbeitsrechtlichen Kommission gefasst. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 10 3. Die Ausnahme für Religionsgemeinschaften im Betriebsverfassungsgesetz 3.1. Darstellung der Ausnahme In § 118 Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) werden Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen aus dem Anwendungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nimmt das Betriebsverfassungsgesetz mit diesem Vorbehalt auf das „verfassungsrechtlich Gebotene “ Rücksicht.21 Durch diese Ausnahme erweise sich das Betriebsverfassungsgesetz gleichzeitig auch nicht als ein für alle geltendes Gesetz i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV. Der Begriff der Religionsgemeinschaften in § 118 Abs. 2 BetrVG ist ebenso zu verstehen wie der Begriff der Religionsgesellschaft i.S.d Art. 137 Abs. 3 WRV.22 Religionsgemeinschaften sind danach alle Glaubensgemeinschaften weltanschaulicher Art, also nicht lediglich die christlichen Kirchen, sondern z.B. auch der Islam, das Judentum und auch Weltanschauungsgemeinschaften ohne religiösen Bezug.23 Zu seinem Kern zählt aber der „Glaube“ an ein außermenschliches Sein oder eine außermenschliche Kraft. Demgegenüber ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Scientology-Kirche keine Religionsgemeinschaft.24 Von § 118 Abs. 2 BetrVG wird der gesamte Verwaltungsapparat aller Dienststellen unabhängig von deren Rechtsform und Selbstständigkeit erfasst; auch ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen kann hierunter fallen. Andere als karitative und erzieherische Einrichtungen können wegen deren ausdrücklicher Benennung in Abs. 2 nicht unter den Begriff der Religionsgemeinschaften gefasst werden. Sie können aber, sofern sie konfessionellen Bestimmungen dienen, unter dem Begriff des sog. Tendenzbetriebes in Abs. 1 Nr. 1 BetrVG subsumiert werden.25 Die Feststellung einer hinreichenden Zuordnung zu der Religionsgemeinschaft machte die Rechtsprechung früher davon abhängig, ob die Einrichtung unter Verwaltung und Aufsicht kirchlicher Organe stand. Später ließ sie es genügen, dass die Gemeinschaft nach ihrem Selbstverständnis die Einrichtung als ihr zugehörig begriff.26 Heute entspricht es der allgemeinen Rechtsprechung , dass die Arbeitsgerichte für die Zuordnung eine zweistufige Prüfung durchzuführen haben: Geprüft wird zum einen, ob eine Zuordnung besteht, und zum anderen, ob darüber hinaus eine Einflussmöglichkeit besteht. Das BAG führt dazu in seiner Entscheidung vom 5. Dezember 2007 Folgendes aus: 21 BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1977, 2 BvR 209/76. 22 LAKIES 2010, § 118 BetrVG, Rn. 39. 23 WERNER 2010, § 118 BetrVG, Rn. 20. 24 BAG, Beschluss vom 22. März 1995, 5 AzB 21/94; BB 1994, S. 1492. 25 THÜSING 2010, § 118 BetrVG, Rn. 203. 26 KANIA 2011, § 118 BetrVG, Rn. 33. Weiterführend zum Begriff der Zuordnung, siehe: BÄLZ 2009, S. 4ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 11 „Die Zuordnung im Sinne des § 118 Abs. 2 BetrVG setzt eine institutionelle Verbindung zwischen der Kirche und der Einrichtung voraus, auf Grund derer die Kirche über ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeiten verfügt, um auf Dauer eine Übereinstimmung der religiösen Betätigung der Einrichtung mit kirchlichen Vorstellungen gewährleisten zu können.“27 Abschließend bleibt hervorzuheben, dass der Ausnahmetatbestand des § 118 Abs. 2 BetrVG nicht die öffentlich-rechtlich organisierten Kirchen selbst umfasst. Diese werden bereits durch § 130 BetrVG aus dem Anwendungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes ausgeschlossen.28 3.2. Historische Entwicklung Das Betriebsrätegesetz 1920 sah noch keine Bereichsausnahme i.S.d. heutigen § 118 Abs. 2 BetrVG vor. Auch der vom Bundeskabinett am 31. August 1950 verabschiedete Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes sah zwar in § 106 eine Ausnahme für Körperschaften des öffentlichen Rechts vor, nicht jedoch für Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen. Diese wurde erst im BetrVG 1952 eingefügt und dann unverändert im BetrVG 1972 übernommen. Die Opposition hatte 1952 eine Bereichsausnahme lediglich für seelsorgerischer Einrichtungen der Religionsgemeinschaften befürwortet; der Gesetzgeber hat sich jedoch für eine umfassende Ausnahme ausgesprochen, da dies der Eigenart dieser Betriebe und Einrichtungen angemessen sei und diese Stellen selbst in der sowjetischen Besatzungszone nicht unter das dortige Betriebsverfassungsrecht fallen würden. Man müsse „verhindern, dass sich wegen der Nichtzuerkennung dieser Selbstverwaltungsbefugnis durch die Gesetzgebung des Bundes die Lage der kirchlichen Einrichtungen in der Ostzone verschlechtere.“29 Aber auch die Kirchen vertraten einen einheitlichen Standpunkt und übten gemeinsam Druck auf das Bundesarbeitsministerium aus, welches den Gesetzesentwurf maßgeblich bearbeitete, um eine weitreichende Ausnahmeregelung zu erreichen.30 Zwar gab es 1972 Vorschläge die Bereichsausnahme auf Religionsgemeinschaften zu beschränken oder den Absatz ganz zu streichen (so die Forderungen von Gewerkschaftsseite), jedoch wurde diesen mit Blick auf das verfassungsrechtlich gewährte Selbstbestimmungsrecht der Kirche nicht gefolgt.31 Das Selbstbestimmungsrecht ist auch heute noch Hauptargument für die Bereichsausnahme in § 118 Abs. 2 BetrVG.32 27 BAG, Beschluss vom 5. Dezember2007, 7 ABR 72/06, BeckRS 2008, 52131. 28 KANIA 2011, §118, Rn. 29; so auch BAG, Beschluss vom 30. Juli 1987, 6 ABR 78/85. 29 BT-Drs. Nr. 3585, abgedruckt in: RdA 1952, S. 295f. 30 JÄHNICHEN 2006, S. 59ff.; 64ff. 31 THÜSING 2010, § 118 BetrVG, Rn. 184. 32 GAMILLSCHEG 1994, S. 40. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 12 3.3. Argumente gegen eine Vereinbarkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften mit der kirchlichen Ethik In der Literatur wird die Konzeption des Betriebsverfassungsgesetzes als Grund für eine fehlende Übertragbarkeit auf die kirchliche Dienstgemeinschaft angeführt: Dem Betriebsverfassungsgesetz wohne ein Gegengewichtsprinzip inne, das der in der innerbetrieblichen Wirklichkeit bestehenden latenten bzw. akuten Interessengegensätzlichkeit entspreche. Dies werde auch nicht durch das Partnerschaftsgebot in § 2 Abs. 1 BetrVG aufgehoben. Dieses durch Interessenkonflikt und durch Zwang zur Zusammenarbeit geprägte Bild kollidiere jedoch mit dem kirchlichen Selbstverständnis und den religiösen Grundlagen der kirchlichen Dienstgemeinschaft.33 Empirische Erkenntnisse oder theoretische Denkmodelle, die gegen eine Vereinbarkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften sprächen, sind darüber hinaus nicht ersichtlich. 4. Das kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Europarecht Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Rechtsqualität der Europäischen Grundrechte-Charta (EGRC) in Art. 6 Abs. 1 des Vertrages der Europäischen Union in der Form des Vertrages von Lissabon (EUV) verändert und die darin gewährten Rechte, Freiheiten und Grundsätze als mit den Verträgen rechtlich gleichrangig akzeptiert. Gleichzeitig wurde durch den Vertrag von Lissabon in Art. 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Achtung des Status‘ der Kirche und eine Nichtbeeinträchtigung der nationalen kirchenspezifischen Rechtsvorschriften eingeführt. Aber auch aus Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine korporative Religionsfreiheit abgeleitet werden. Der Umfang ist indes noch nicht gerichtlich geklärt und in der Literatur umstritten.34 4.1. Korporative Religionsfreiheit in Europa 4.1.1. Verankerung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Art. 17 EUV? Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche war bisher weder primärrechtlich noch verfassungsrechtlich im europäischen Recht verankert. Die deutlichste Inbezugnahme des nationalen Staatskirchenrechts befand sich bislang in der Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte im Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, deren rechtliche Verbindlichkeit umstritten war und die häufig in den Zusammenhang mit der heute in Art. 4 Abs. 2 EUV enthaltenen Verpflichtung der Union zur Achtung der jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten gestellt wurde und noch immer wird.35 Durch den Lissaboner Vertrag wurden nun in Art. 17 AEUV die ersten beiden Absätze der Erklärung Nr. 11 mit geringfügiger sprachlicher Änderung des Wortlautes in das Primärrecht der 33 Vgl. hierzu PAHLKE 1983, S. 178f. 34 Zur Darstellung des Meinungsstreits siehe SÖBBEKE-KRAJEWSKI 2007, S. 206ff. 35 RICHARDI 2009, § 1 Rn. 35; MÜCKL 2002, S.27; MÜLLER-VOLBEHR 1999, S. 94. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 13 Europäischen Union übernommen. Damit kann eine Diskussion über den normativen Charakter der Amsterdamer Erklärung als obsolet angesehen werden.36 Art. 17 AEUV lautet: (1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. (2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog. 4.1.1.1. Regelungsinhalt des Art. 17 AEUV Die Einführung des Art. 17 AEUV ist eine Reaktion auf die unterschiedlichen nationalen Systeme in Europa. Mit dieser Bestimmung soll der Bandbreite der nationalen Regelungen Rechnung getragen werden. Über die Funktion von Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV bestehen Meinungsverschiedenheiten . Gelegentlich wird der Norm ein materialer Gehalt im Sinne einer besonderen Freiheitsgewährleistung zugunsten von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zugeschrieben , zugunsten insbesondere des Selbstverwaltungsrechts der Religionsgemeinschaften, ähnlich wie sie in Deutschland in Art. 137 Abs. 3 WRV verankert ist.37 Zum Teil wird ihr sogar eine „explizite “ Anerkennung der „Sinnhaftigkeit und Förderungswürdigkeit des soziokulturellen Wertes Religion an sich“ entnommen.38 Entstehungsgeschichte und systematischer Zusammenhang weisen in eine andere Richtung. Vor dem Hintergrund großer Unterschiede bei der Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion in den einzelnen Mitgliedstaaten und der zunehmenden Relevanz europäischer Rechtsharmonisierung für die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften soll Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV die Reichweite der religionsrechtlich zumeist unspezifischen Kompetenzen und sonstigen Gehalte des Unionsrechts begrenzen, soweit es um den Status von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geht. Es ist daher davon auszugehen, dass es um den Schutz nationaler Kompetenzen durch eine negative Kompetenznorm, also um eine begrenzte Bereichsausnahme vom Unionsrecht geht.39 Art 17 AEUV regelt mithin, wie eine der EU zustehende Kompetenz auszuüben ist, wenn damit ein Konflikt mit dem Status der Religionsgemeinschaften nach den nationalen Rechtordnungen verbunden ist. 36 MUCKEL 2005, S. 196; BLOSS 2008, S. 258. 37 MUCKEL 2005, S. 198. 38 BLOSS 2008, S. 271 39 CLASSEN 2010, Art. 17 AEUV, Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 14 4.1.1.2. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Teil des kirchlichen Status in Art. 17 AEUV? Schon nach dem Wortlaut ist der erste Absatz des Art. 17 AEUV im Verfassungsvertrag vorwiegend abwehrend ausgerichtet und gewährleistet jedenfalls den höchst unterschiedlichen Status, den die Kirchen und religiösen Vereinigungen in den einzelnen Mitgliedstaaten genießen. Das bedeutet für die Kirchen und Religionsgemeinschaften, die nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV in Deutschland Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, dass dieser Status als solcher von den europäischen Institutionen unangetastet bleibt. Damit wird zugleich die Vielfalt garantiert, die im Hinblick auf den organisationsrechtlichen Status von Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten herrscht. Auch ein staatskirchliches System wäre als solches daher nicht europarechtswidrig.40 Der Vorschrift kommt damit eine struktursichernde Bedeutung zu. Sie verpflichtet die Union, die grundsätzliche Bestimmung des Staat-Kirche-Verhältnisses den Mitgliedstaaten zu überlassen. Dadurch ist der Weg zu einem institutionellen Unions-Kirchenrecht, das im Wege des Anwendungsvorrangs dem nationalen Staatskirchenrecht vorginge, gesperrt. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob unter dem Begriff „Status“ auch das Selbstbestimmungsrecht im Sinne der nationalen Ausprägung in Deutschland zu verstehen ist. Dies wäre der Fall, wenn man unter Status auch die Gesamtheit aller nationalen Rechte fassen würde, die ein Mitgliedstaat den Religionsgemeinschaften gewährt. Einigkeit besteht in der Literatur darin, dass Art. 17 AEUV einerseits nicht dazu führen kann, dass sämtliche einfachgesetzlichen nationalen Regelungen, aus denen Religionsgemeinschaften Rechte ableiten können, vor Einwirkungen durch europäisches Recht geschützt seien.41 Die Rechtsetzung auf europäischer Ebene könne nicht in jeder Einzelfrage die Besonderheiten der religionsrechtlichen Regelungen sämtlicher Mitgliedstaaten berücksichtigen und jede konkrete Ausprägung des jeweiligen Staatskirchenrechts übernehmen. Dies würde im Ergebnis zu einer generellen Bereichsausnahme führen und die Verwirklichung der Ziele der Union und des europäischen Vertragsrechts beeinträchtigen. Daher könne man nicht sämtliche Berechtigungen, die im deutschen Recht mit dem Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV verbunden sind, als auf alle Zeit von europarechtlichen Einwirkungen ausgenommen ansehen. Andererseits sei die Tätigkeit von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften aber auch nicht völlig dem Statusbegriff entzogen. Wenn Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV unionsrechtliche Pflichten an einen bestimmten Zweck von Vereinigungen knüpfe, mache es keinen Sinn, Maßnahmen zu dessen Verwirklichung vollständig aus dem Anwendungsbereich der Norm auszunehmen. Ein Verständnis des Art. 17 AEUV, das mit dem „Status“ der Kirchen nur ihre Rechtsstellung in einem engen, organisationsrechtlichen Sinne vor Beeinträchtigungen durch die Union geschützt sehe, nehme dieser Norm ihren Sinn. Wenn der Verfassungsvertrag vorschreibe, dass die Union den Status der Kirchen und religiösen Gemeinschaften achtet und ihn nicht beeinträchtigt, müsse man auch bestimmte materielle Rechtspositionen als davon mit umfasst ansehen.42 Insoweit ist dann allerdings wohl ein restriktives Verständnis zugrunde zu legen.43 40 SÖBBEKE-KRAJEWSKI 2007, S. 270. 41 SÖBBEKE-KRAJEWSKI 2007, S. 269. 42 MUCKEL 2005, S. 199. 43 CLASSEN 2010, Art. 17 AEUV, Rn. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 15 Als „gemeinsamer Nenner“ wird unter den Begriff „Status“ neben den institutionellen Rechten der Religionsgemeinschaften auch der Grundbestand an wesensprägenden Strukturen und Normen des nationalen Staatskirchenrechts als subsumierbar angesehen werden können. Ob der Dritte Weg hierunter fällt wird allerdings nicht weiter erörtert.44 4.1.1.3. Konsequenzen für die Überprüfbarkeit im Kollisionsfall Versteht man Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV wie dargelegt als negative Kompetenznorm, darf der Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften so, wie er sich aus dem nationalen Recht ergibt, vom Unionsrecht nicht angetastet werden. Dabei ist der Ausdruck „Achtung“ offen für Relativierungen . Deutlicher ist demgegenüber die Verpflichtung, den Status auch nicht zu beeinträchtigen . Dabei hat das in Abs. 2 enthaltene Gebot, den Status der weltanschaulichen Gemeinschaften in „gleicher Weise“ wie den in Abs. 1 genannten Status von Religionsgemeinschaften zu achten, die gleiche Reichweite wie die Verpflichtung nach Abs. 1, auch wenn insoweit nur von „Achtung “, nicht von einem Verbot der Beeinträchtigung gesprochen wird. Unmittelbar zielt Art. 17 AEUV auf Maßnahmen der Union; als Auslegungsrichtlinie ist die Norm aber auch mit Blick auf das Vertragsrecht von Bedeutung. Umstritten ist, was sich im Einzelnen mit dieser Verpflichtung verbindet, insbesondere wie sie sich in den sonstigen Kontext des Vertrages einfügt und etwa zu den wirtschaftsrechtlichen Gehalten oder dem Verbot der religiösen Diskriminierung nach Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EGRC) verhält. Zum Teil wird für einen Kollisionsfall ein Ausgleich nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz45 und damit eine Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gefordert. Hintergrund ist wohl, dass das Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften in keiner nationalen Rechtsordnung isoliert neben anderen Rechten steht, sondern regelmäßig ein Ausgleich mit anderen Belangen möglich ist; für Deutschland kann etwa auf die Möglichkeit verwiesen werden, dem Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften im Rahmen der „für alle geltenden Gesetze“ nach Art. 137 Abs. 3 WRV Grenzen zu ziehen . Andere Meinungen in der Literatur sprechen jedoch für ein striktes Verständnis, nach dem statusrechtlich Relevantes unionsrechtlich nicht eingeschränkt werden dürfe. Zu Begründung wird zunächst der Wortlaut angeführt, nämlich Verpflichtung zur Achtung und Verbot der Beeinträchtigung . Vor allem spreche der Sinn der Norm dafür. Art. 17 AEUV stelle eine (negative) Kompetenzvorschrift dar und weise damit gerade keinen allein abwägbaren materiellen Gehalt auf. Der unstreitig notwendige Ausgleich der Rechte der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit anderen Allgemeinwohlbelangen sei daher auf nationaler Ebene vorzunehmen. Anderenfalls wäre nämlich regelmäßig genau das erreicht, was durch Art. 17 AEUV gerade vermieden werden soll, nämlich, dass das Unionsrecht über den Status von solchen Gemeinschaften entschiede. Für die Stellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Gesellschaft sei letztlich 44 SÖBBEKE-KRAJEWSKI 2007, S. 373. 45 Bei der praktischen Konkordanz handelt es sich um eine Methode der Lösung von Normenkollisionen. Siehe hierzu auch: JARASS 2005, § 5 Rn. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 16 nicht entscheidend, was ihnen grundsätzlich eingeräumt werde, sondern vielmehr, was sich aus den konkreten Einzelvorgaben unter Beachtung auch einschränkender Rechtsvorschriften im Ergebnis als rechtlicher Freiraum ergebe. Ein zentrales Element bei der Abwägung aber sei das Gewicht der beteiligten Rechtsgüter. Angesichts der großen Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen könne dies nur dadurch geschehen, dass die Union selbst das Rechtsgut „Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften“ gewichte. Genau dies soll jedoch durch Art. 17 AEUV ausgeschlossen sein.46 Ob aus Art. 17 AEUV für die Kirchen ein individueller, einklagbarer Anspruch erwächst ist noch nicht geklärt. Allein Söbbeke-Krajewski hat sich, soweit ersichtlich, bisher mit der Frage beschäftigt und leitet aus den Formulierung „beeinträchtigt nicht“ in Abs. 1 einen subjektivenrechtlichen Gehalt der Norm ab, der wie die Abwehrfunktion eines Grundrechts wirke, mit der der Schutzberechtigte sich gegen verfassungswidrige Regeln verteidigen könne. 4.1.2. Korporatives Recht der Religionsgemeinschaften aus Art. 9 EMRK Die in Art. 9 EMRK garantierte Religionsfreiheit enthält neben der individuellen auch eine korporative Dimension.47 Diese ist sowohl aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung als auch aus Art. 9 EMRK in Verbindung mit der Rechtsprechung zur EMRK herzuleiten. Ursprünglich weigerte sich der EGMR, religiösen Organisationen Rechtsschutz zu gewähren. Art. 9 EMRK wurde als so individualistisch konzipiert verstanden, dass er als für Vereinigungen versperrt eingestuft wurde.48 Dies änderte sich im Jahre 1979, als die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) die Klage der Church of Scientology zuließ und zu dem Ergebnis gelangte, dass die individuelle Religionsfreiheit sich zum Teil gerade erst in gemeinsamer Ausübung realisiere und die Glaubensgemeinschaft ihre Anhänger repräsentiere. Das Urteil des EGMR in der Sache Hasan und Chaush ./. Bulgarien vom 26. Oktober 2000 überwand diesen Repräsentationsgedanken und erklärte die korporative Religionsfreiheit als eigenständiges Recht einer Religionsgemeinschaft .49 Der EGMR interpretiert Art. 9 EMRK im Lichte der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK und leitet daraus als Kernbestandteil des Art. 9 EMRK das korporative Recht einer Religionsgemeinschaft auf autonome Existenz her.50 Der EGMR wählt hierbei einen funktionalen Ansatz und legt fest, dass der Staat den Religionsgemeinschaften ermöglichen müsse, selbst zu definieren , was sie für ein friedliches Funktionieren benötigen: „ Where the organisation of the religious community is at issue, Article 9 of the Convention must be interpreted in the light of Article 11, which safeguards associative life against unjustified State interference. Seen in this perspec- 46 CLASSEN 2010, Art 17 AEUV Rn. 35. 47 WALDHOFF 2007, Art. 10 GRCh Rn. 4. 48 Siehe hierzu: EGMR, Entscheidung vom 6.September 1989, appl. no. 12242/86. 49 Siehe hierzu auch EGMR, Urt. vom 13.Dezember 2001, appl. no. 45701/99, Rn. 118; auch zu finden über: http://www.menschenrechte.ac.at/orig/00_6/Hasan_Chaush.pdf. 50 SÖBBEKE-KRAJEWSKI 2007, S. 168ff. und 207ff.; BLECKMANN 1995, S. 29ff. So auch der EGMR in seiner aktuellen Entscheidung vom 23.September 2010, 1620/03. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 17 tive, the believers' right to freedom of religion encompasses the expectation that the community will be allowed to function peacefully, free from arbitrary State intervention. Indeed, the autonomous existence of religious communities is indispensable for pluralism in a democratic society and is thus an issue at the very heart of the protection which Article 9 affords. It directly concerns not only the organisation of the community as such but also the effective enjoyment of the right to freedom of religion by all its active members. Were the organisational life of the community not protected by Article 9 of the Convention, all other aspects of the individual's freedom of religion would become vulnerable.”51 Ob hieraus jedoch auch ein Selbstbestimmungsrecht i.S.d. des deutschen Rechts abgeleitet werden kann, ist umstritten und noch nicht richterlich entschieden worden.52 Ursache für die uneinheitliche Bewertung ist insbesondere die unterschiedliche Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten des Europarates.53 In der Rechtssache Rommelfanger54 hatte sich die EKMR zwar bereits mit der Rechtmäßigkeit einer von einem katholischen Krankenhaus ausgesprochenen Kündigung eines Arztes zu befassen, der sich durch seine Positionierung zum Schwangerschaftsabbruch gegen die Lehrmeinung der Römisch-Katholischen Kirche gestellt hatte. Allerdings hielt sie die Kündigung unter Berufung auf Art. 10 EMRK aufrecht und verpasste es daher, sich zum Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 9 EMRK zu äußern. Auch in den aktuellen Entscheidungen des EGMR vom 23. September 2010, in denen die Kündigung eines Dekanatskantors der katholischen Kirche und eines Angestellten der Mormonenkirche zur Entscheidung vorlagen, hat der EGMR zwar bestätigt, dass der Art. 9 EMRK im Lichte des Artikels 11 EMRK auszulegen sei und die Autonomie kirchlicher Gemeinschaften , die für die Pluralität in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar seien, zum Kernbestand des Schutzes des Art. 9 EMRK gehörten. Zu der Frage, in welchem Umfang ihre Tätigkeit vom Schutz mitumfasst ist, hat sich der EGMR hingegen nicht positioniert.55 4.1.3. Korporatives Recht der Religionsgemeinschaften aus Art. 10 Abs. 1 EGRC Art. 10 EGRC enthält für „jede Person“ das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit . Berechtigte sind alle natürlichen Personen, unabhängig von ihrem Alter und von der Staatsangehörigkeit . Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des EGMR besitzt die Verbürgung auch eine kollektivrechtliche Seite, erweist sich insofern als „Doppelgrundrecht“: Auch Zusammenschlüsse natürlicher Personen, insbesondere also Kirchen und Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften , genießen den Grundrechtsschutz. Das gilt auch und insbesondere für die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV, da diese durch diesen Status nicht zu Teilen des Staates werden.56 In den Erläuterungen 51 EGMR, Urt. vom 13.Dezember 2001, appl. no. 45701/99, Rn. 118; auch zu finden über: http://www.menschenrechte.ac.at/orig/00_6/Hasan_Chaush.pdf. 52 Siehe zur Darstellung der Problematik BLECKMANN 1995, S. 31ff, der das Selbstbestimmungsrecht als umfänglich gewährleistet ansieht. Ablehnend hingegen: MÜLLER-VOLBEHR 1999, S. 72f. 53 WALDHOFF, 2003, S. 980. 54 EKMR, Nr. 12242/86, 6. September 1989. 55 EGMR, Entscheidungen vom 23. September 2010, 1620/03 und 425/03. 56 WALDHOFF 2007, Art. 10 GRCh Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 18 des Konventspräsidiums wird zu Art. 10 EGRC ausgeführt, dass „das in Absatz 1 garantierte Recht dem Recht entspricht, das durch Artikel 9 EMRK garantiert wird.“57 Deswegen und wegen Art. 52 Abs. 3 EGRC kann bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen auf die Ausführungen zu Art. 11 i.V.m. Art. 9 EMRK verwiesen werden.58 4.1.4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass jedenfalls auf Grundlage der Rechtsprechung des EGMR in der Sache Hasan und Chaush ./. Bulgarien vom 26. Oktober 2000 in der deutschen Literatur mindestens von einem Kernschutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts auf europäischer Ebene ausgegangen wird.59 Dies wird auch deutlich aus den sekundärrechtlichen Bestimmungen , die es den Kirchen und Religionsgemeinschaften anheimstellen, von Regelungsinhalten teilweise abzuweichen.60 Die Bestimmung seines Umfangs gibt der EGMR jedoch nicht vor. Ein „friedliches Funktionieren“, wie es der EGMR bestimmt, wird aber nur im Zusammenhang mit den Lehren und Methoden der Kirche definiert werden können, d.h. es kann alles als vom Schutzbereich mit umfasst angesehen werden, was für ein religiöses, in sich geschlossenes System der Entwicklung einer Lehre und deren Befolgung gewährleistet sein muss. Aufgrund der nationalen Unterschiede erscheint eine Einzelfallbetrachtung für erforderlich und die Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften müssen darlegen, inwiefern eine bestimmte Aktivität für ein friedliches Funktionieren für das Kirchensystem unerlässlich ist. Ob aus Art. 17 AEUV auch ein subjektives Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung folgt, kann nicht abschließend beantwortet werden. Grundsätzlich ist im Kollisionsfall mit anderen Grundrechten eine Abwägung – ob auf nationaler oder europäischer Ebene – vorzunehmen. Hierbei können sich die Kirchen jedenfalls auf den Schutz aus Art. 9 EMRK i.V.m. Art. 11 EMRK und Art. 10 EGRC berufen. 4.2. Vereinbarkeit mit Art. 21 und Art. 28 EGRC und Art. 11 EMRK Gemäß Art. 52 Abs. 3 EGRC haben die Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Grundfreiheiten der EMRK, soweit sie den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen. Die Charta ist auf Akte der EU anwendbar, gilt aber auch für die Mitgliedsstaaten, wenn diese EU-Recht durchführen, besonders also, wenn sie Richtlinien umsetzen. Dies bedeutet, dass jeder Erlass einer Richtlinie zugleich eine auch gegenüber Privaten geltende Grundrechtsdimension eröffnen 57 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, Titel II Erläuterung zu Artikel 10. 58 Siehe hierzu auch Ausführungen unter 4.2. 59 Siehe hierzu mit weiteren Nachweisen: SCHLIEMANN 2003, S. 408f. 60 BLOSS 2008, S. 270. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 19 kann.61 Art. 21 EGRC deckt sich vom Wortlaut mit Art. 14 EMRK. Zur Bestimmung seiner Bedeutung und Tragweite muss daher auf Art. 14 EMRK rekurriert werden. Grundrechtsadressaten sind gemäß Art. 51 EGRC die Union und ihre Stellen sowie die Mitgliedstaaten, soweit sie Unionsrecht durchführen. Da die Kirchen trotz ihres Status‘ als öffentlich-rechtliche Körperschaften nach deutschem Recht keine hoheitliche Rechte ausüben, kann ein eventueller Verstoß des kirchlichen Systems gegen Europarecht nur mit einer Rüge an den Staat, dass dieser nicht ausreichend vor Eingriffen geschützt habe, verfolgt werden.62 4.2.1. Vereinbarkeit mit Artikel 28 EGRC 4.2.1.1. Schutzbereich Art. 28 EGRC beinhaltet das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen. Dieses ist nicht nur als Individualrecht formuliert; auch die jeweiligen Organisationen der Tarifpartner werden als Berechtigte ausdrücklich angeführt. Die Existenz von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden wird folglich vorausgesetzt („oder ihre jeweiligen Organisationen“). Art. 28 EGRC orientiert sich an Art. 6 der Europäischen Sozialcharta (ESC), insbesondere an Nr. 4, und Nr. 12 - 14 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Während Art. 6 ESC und Nr. 12 - 14 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer detaillierte Ausführungen zur Förderung des Rechts auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen und zu besonderen Verfahren für den Fall von Arbeitsstreitigkeiten zum Inhalt haben, beschränkt sich Art. 28 EGRC auf die knapp formulierte Gewährleistung des oben genannten Rechts. Zu beachten ist aber, dass dieses Recht in Art. 28 EGRC lediglich „nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ garantiert wird. D.h. die Modalitäten und Grenzen für die Durchführung von Kollektivmaßnahmen, darunter auch Streiks, werden durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten bestimmt; dies gilt auch für die Frage, ob diese Maßnahmen in mehreren Mitgliedstaaten parallel durchgeführt werden können . Gem. Nr. 13 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte ist zur Erleichterung der Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten „die Einführung von Vermittlungs-, Schlichtungs- und Schiedsverfahren zu erleichtern“, die jedoch ihrerseits ebenfalls in Übereinstimmung mit den einzelstaatlichen Gepflogenheiten stehen müssen. Gem. Art. 153 Abs. 5 AEUV (ex- Art 137 Abs. 3 EG) ist das Koalitionsrecht aus der Regelungskompetenz der Gemeinschaft ausgenommen. Die Reichweite der Gewährleistung des Rechts auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen bestimmt sich vielmehr ausschließlich nach mitgliedstaatlichem Recht. Maßgeblich ist das Recht, dem der Sachverhalt schwerpunktmäßig zuzuordnen ist. In der Literatur wird teilweise kritisiert, dass die Formulierung in Art. 28 EGRC mit dem Hinweis , dass dadurch zwar das Recht auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen, auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen im Arbeitskampf sowie auf soziale Sicherheit und Unter- 61 KORTSTOCK 2011. 62 EGMR, Entscheidung vom 23.September 2010, 1620/03, Rn. 54. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 20 stützung anerkannt werde, der Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten jedoch den eigenständigen Regelungsgehalt dieser gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgarantien weitgehend relativiere. So wird auch in der Literatur vielfach kritisiert, dass das Grundrecht aus Art. 28 EGRC leerlaufe, solange der europäische Rechtsetzer keine Kompetenz bei dem Thema besitze.63 4.2.1.2. Bewertung eines Kollisionsfalls Für den Dritten Weg bedeutet dies, dass der europäische Gesetzgeber das Koalitionsrecht für die kirchlichen Bediensteten nicht regeln darf, aber gleichzeitig nicht ausgeschlossen ist, dass den Regelungen, die auf dem Dritten Wege zustande gekommen sind, europarechtliche Begrenzungen entgegenstehen. Da Art. 28 EGRC sehr stark auf die einzelstaatlichen Vorschriften abstellt und die Vereinbarkeit des Dritten Weges mit dem nationalen Recht in Deutschland anerkannt ist, wird wohl ein Verstoß gegen Artikel 28 EGRC nicht angenommen werden können. Höchstrichterliche Rechtsprechung liegt hierzu jedoch nicht vor Eine andere Sichtweise legt auch die 17. Erklärung des Lissaboner Vertrages zum Vorrang der Verträge nicht nahe, da beide kollidierenden Rechte europarechtlichen Schutz genießen. 4.2.2. Vereinbarkeit mit Artikel 21 EGRC 4.2.2.1. Schutzbereich Art 21 EGRC normiert umfassende besondere Diskriminierungsverbote. In Anlehnung an Art. 14 EMRK sind Diskriminierungen aufgrund bestimmter personengebundener Merkmale und aufgrund der Staatsangehörigkeit verboten. Abs. 1 der Bestimmung enthält insgesamt 17 Diskriminierungsmerkmale . Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH „liegt eine Diskriminierung vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleiche Sachverhalte angewandt werden oder wenn dieselbe Vorschrift auf ungleiche Sachverhalte angewandt wird“.64 Das Verbot erfasst sowohl unmittelbare (offene) als auch mittelbare (versteckte) Diskriminierungen. Das ist für Art. 18 Abs. 1 AEUV anerkannt und trifft auch für Art. 21 Abs. 1 zu.65 Dem Art. 21 EGRC entsprechende Diskriminierungsverbote finden sich auch in den Verfassungen der meisten Mitgliedstaaten, wenn auch regelmäßig nicht in der konkreten Zusammenstellung des Art. 21 EGRC. In Deutschland schützt vor allem Art. 3 Abs. 3 GG vor Diskriminierung durch Anknüpfung an einige der von Art. 21 EGRC genannten Merkmale; gewährleistet wird dieser Schutz aber auch durch Art. 3 Abs. 2 GG sowie entsprechende Grundrechte in den Landesverfassungen. Der Grund für die umfassenden Diskriminierungsverbote liegt in dem Umstand, dass die genannten Merkmale den Menschen unverän- 63 Siehe hierzu: RIEDEL 2010, Art. 28, Rn. 24. 64 EuGH - Boyle and others, C-411/96-Slg. 1998 65 HÖLSCHEIDT 2010, Art. 21 Rn. 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 21 derlich anhaften oder von ihnen nur unter Schwierigkeiten geändert werden können, auf die sie also in der Regel keinen oder nur einen begrenzten Einfluss haben. In diesem Sinne sind die von Art. 21 EGRC aufgezählten Kriterien sämtlich personengebundene Merkmale. Die Vorschrift steht deshalb auch in einem engen inneren Zusammenhang mit dem Schutz der Würde des Menschen durch Art. 1 EGRC. Grundrechtsträger sind alle natürlichen Personen, daneben aber auch juristische Personen des Privatrechts, soweit die Differenzierungsmerkmale auf sie anwendbar sind. Anzunehmen ist dies daher auch für die (kollektive) Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Grundrechtsadressaten sind gemäß Art. 51 EGRC die Union und ihre Stellen sowie die Mitgliedstaaten , soweit sie Unionsrecht durchführen. Sie sind vor allem bei ihrer Rechtsetzung, darüber hinaus aber auch bei ihren vollziehenden und rechtsprechenden Maßnahmen unmittelbar an Art. 21 EGRC gebunden. Private werden durch das Grundrecht nicht unmittelbar verpflichtet, können aber durch Regelungen zur Konkretisierung des Art. 21 EGRC, die beispielsweise auf Art. 19 AEUV gestützt sein können, gebunden werden.66 Verstöße gegen die Diskriminierungsverbote ziehen regelmäßig dieselben Folgen nach sich wie Verstöße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Sofern der Verstoß durch Legislativorgane begangen wurde, kann er demgemäß durch eine Erstreckung der Begünstigung auf die benachteiligte Gruppe, durch die Abschaffung der Begünstigung oder durch eine neue, diskriminierungsfreie Regelung behoben werden. 4.2.2.2. Kollision des Dritten Weges mit Artikel 21 EGRC? Art. 21 EGRC schützt sowohl vor unmittelbarer als auch vor mittelbarere Diskriminierung. Eine Diskriminierung durch den Dritten Weg könnte allenfalls mittelbar dadurch stattfinden, dass die von den Regelungen des Dritten Weges Betroffenen meist einer bestimmten Religion zugehörig sind. Sollte ein solcher Eingriff bejaht werden, so ist zu fragen, wie er gerechtfertigt werden könnte. Ungleichbehandlungen i.S.d. Art. 21 EGRC können grundsätzlich gerechtfertigt werden. Dies ergibt sich aus Art. 52 Abs. 1 und Abs. 3 EGRC, der eine horizontale Schranke für die Chartagrundrechte darstellt. Demnach ist hier Art. 14 EMRK in Verbindung mit dem dazu durch die EMRK-Rechtsprechung entwickelten Rahmen heranzuziehen. Darüber hinaus ist Art. 51 Abs. 1 EGRC zu beachten, wonach eine Einschränkung des Diskriminierungsverbotes dann gerechtfertigt ist, wenn damit ein legitimer Zweck befolgt wird und die Einschränkung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit notwendig ist, um den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer zu entsprechen. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist in Art. 137 Abs. 3 GG gesetzlich verankert und damit i.S.d. Art. 52 Abs. 1 EGRC gesetzlich vorgesehen. Würde man das Selbstbestimmungsrecht als von Art. 11 EMRK i.V.m. Art. 9 EMRK mitumfasst ansehen, so müssten die kollidierenden Interessen im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden. 66 ROSSI 2007, Art. 21 GRCh Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 22 4.2.3. Vereinbarkeit mit Art. 11 EMRK Das in Art. 11 EMRK gewährleistete Versammlungsrecht war Gegenstand der Entscheidungen der EGMR vom 21. April 2009 und vom 12. August 2008. Zunächst umfasst Art. 11 EMRK die wesentlichen Aspekte des Rechts auf Gründung einer Gewerkschaft, das Recht, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, und gleichzeitig das Verbot, gewerkschaftliche Monopole zu bilden. Adressat der Regelung ist jedoch der Staat als Arbeitgeber. Wie auch sonst können sich daraus aber auch positive Verpflichtungen des Staates ergeben. So muss der Staat durch angemessene und geeignete Maßnahmen (z.B. gesetzlicher Art) dafür sorgen, dass von den Freiheitsrechten in der Praxis auch Gebrauch gemacht werden kann. Daraus kann sich die Verpflichtung ergeben, auch im Verhältnis zwischen Privatpersonen mit angemessenen Maßnahmen einzugreifen, um die wirksame Ausübung der Rechte zu gewährleisten.67 Nicht ausdrücklich erwähnt, aber vom Schutz des Art. 11 EMRK ebenfalls umfasst, ist das Streikrecht als wesentliches Element zur Durchsetzung der Rechte der Gewerkschaftsmitglieder.68 Gleiches gilt für das Recht, Tarifverträge mit einem Arbeitgeber abzuschließen. Der Dritte Weg, der ein Streikrecht und Tarifverträge für die Beschäftigten der Kirchen ausschließt, kann als Eingriff in diese Rechte bewertet werden. Eingriffe können jedoch nach Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein, wobei der EGMR eine enge Auslegung der Einschränkungsmöglichkeiten vorgibt. Als Rechtfertigungsgründe kommen nur gesetzlich vorgesehene Regelungen in Betracht, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich sind. Für den Dritten Weg könnte vor allem der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer einschlägig sein. Sieht man das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen als vom Schutz des Art. 11 EMRK i.V.m. Art. 9 EMRK mit umfasst an, stehen sich allerdings zwei gleichrangige Rechte gegenüber, deren widerstreitende Interessen im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden müssten. 4.3. Fazit Ob das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Sinne des deutschen Rechts auf Europaebene geschützt ist, kann nicht abschließend beurteilt werden. Ein Großteil der Literatur sieht es als vom Gemeinschaftsrecht – in unterschiedlichen Ausprägungen – mitumfasst an. Sofern es nach dieser Auffassung durch Art 17 AEUV, Art. 11 i.V.m. Art. 9 EMRK und Art. 10 EGRC gewährleistet wird, stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, wie weit diese Garantie reicht. Der Ausschluss des Streikrechts im Rahmen des Dritten Weges wird als Eingriff in die Rechte aus Art. 11 EMRK qualifiziert werden können. Ob dieser jedoch gerechtfertigt ist, hängt ebenfalls von der Anerkennung eines Selbstbestimmungsrechts der Kirchen durch Europarecht ab. Hierbei muss jedoch betont werden, dass ein Verstoß nur zur Verpflichtung des Staates führen kann, das ver- 67 MAYER-LADEWIG 2006, Art. 11 EMRK, Rn. 3a. 68 EGMR (III. Sektion), Urteil vom 21. April 2009 - 68959/01; Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei; NZA 2010, S. 1423. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 23 letzte Recht umfassender zu schützen, ohne dabei jedoch geschützte Rechtspositionen anderer zu preiszugeben. Die Erklärung Nr. 17 zum Lissaboner Vertrag enthält keine Neustatuierung des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts. Die Erklärung entspricht der gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach mitgliedstaatliches Recht, das dem Gemeinschaftsrecht widerspricht , verdrängt wird.69 5. Die kirchliche Gerichtsbarkeit Wie bereits dargelegt, berechtigt das Selbstbestimmungsrecht die Kirchen, sich gegenüber dem staatlichen Arbeitsrecht durch die Schaffung einer eigenen arbeitsrechtlichen Ordnung abzugrenzen , die der inneren kirchlichen Ordnung und dem kirchlichen Selbstverständnis entspricht. Die Regelungsbefugnis erstreckt sich auch auf das gerichtliche und außergerichtliche Verfahrensrecht , welches die Anwendung und Einhaltung der kirchenrechtlichen Normen und Grundsätze sicherstellen soll.70 Die Ermächtigung zur Rechtsetzung zieht die Verpflichtung nach sich, ausreichenden Rechtsschutz zu gewähren. Für den Staat ist dieser Grundsatz in Art. 19 Abs. 4 GG niedergelegt. Den Kirchen steht auf Grund ihres Selbstbestimmungsrechts die Befugnis zu, das von ihnen gesetzte Recht selbst zu kontrollieren. Die Kontrollbefugnis entbindet aber nicht von der Pflicht, Gerichte zur Entscheidung einzusetzen, die rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen. Für die Qualifizierung eines Spruchkörpers als Gericht im rechtsstaatlichen Sinne kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht darauf an, ob die Kirchen eine rechtsprechende Gewalt als Gericht bezeichnen, sondern darauf, ob ihre Organisation so ausgestaltet ist, dass sie die rechtsstaatlichen Mindestanforderungen an ein Gericht erfüllt.71 5.1. Aufbau Die Gerichtsbarkeit in kirchlichen Arbeitssachen wird in erster Instanz durch Kirchliche Arbeitsgerichte und in zweiter Instanz durch den Kirchlichen Arbeitsgerichtshof ausgeübt. Sie sind auch zuständig für Rechtsstreitigkeiten aus dem Dritten Weg und für Konflikte aus der Mitarbeitervertreterordnung . Die erste Instanz wird durch einen Vorsitzenden, einen beisitzenden Richter aus dem Kreis der Dienstgeber und einem beisitzenden Richter aus dem Kreis der Mitarbeiter besetzt. In zweiter Instanz entscheiden der Präsident, zwei Mitglieder mit der Befähigung zum Richter- 69 FUNKE 2007, S. 733ff. 70 RICHARDI 2009, § 20 Rn. 1f. 71 BAG, Beschluss vom 25. April 1989, 1 ABR 88/87; bestätigt durch BAG, Urteil vom 9. September1992, 5 AZR 456/91. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 24 amt, ein beisitzender Richter aus dem Kreis der Dienstgeber und ein beisitzender Richter aus dem Kreis der Mitarbeiter.72 Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche lehnen sich in Besetzung und Organisation ihrer Arbeitsgerichtsbarkeit an das weltliche Recht an. So enthalten sowohl § 27 und § 46 der Kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung (KAGO) als auch §§ 62, 63 Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG) sowie § 63 Abs. 7 MVG.EKD dynamische Verweise auf das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) und die Zivilprozessordnung (ZPO), soweit kirchenrechtlich (d. h. in der KAGO bzw. im Kirchengerichtsgesetz EKD) nichts anderes bestimmt ist. Der Vorsitzende Richter und der stellvertretende Vorsitzende Richter müssen die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz haben (§ 18 Abs. 2a KAGO ebenso wie § 58 MVG, § 58 Abs. 2 MVG.EKD). Darüber hinaus verlangt § 18 Abs. 2c KAGO vom Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden, dass sie über Erfahrung im Personalwesen oder Arbeitsrecht verfügen. Ebenfalls aus dem weltlichen Recht haben die Kirchen die Praxis übernommen, Vertreter von Dienstnehmer- und Dienstgeberseite, die keine fachlichen Voraussetzungen haben müssen, mit gleichem Stimmrecht an der Entscheidung des Spruchkörpers zu beteiligen (§ 4 KAGO, bzw. MVG § 58 Abs. 4 MVG.EKD).73 5.2. Überprüfung der paritätischen Besetzung Eine Überprüfung, ob in einem gerichtlichen Verfahren tatsächliche Parität durch die Beisitzenden einer jeden Seite gegeben war, ist soweit ersichtlich weder kirchenintern noch durch staatliche Gerichte vorgesehen. Allerdings prüft die zweite Instanz der innerkirchlichen katholischen Gerichtsbarkeit als Revisionsinstanz Rechtsverletzungen im Verfahren der Vorinstanz und kann daher auch deren fehlerhafte Besetzung rügen. Die Zweite Instanz der Arbeitsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche kann diese Überprüfung als Berufungs-und damit zweite Tatsacheninstanz ebenfalls vornehmen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die ordnungsgemäße Besetzung des Kirchengerichts durch ein staatliches Gericht inzident überprüfen zu lassen, indem die Nichteinhaltung rechtsstaatlichen Mindestanforderungen durch das Kirchengericht gerügt wird. 6. Rechtsbeistand im kirchengerichtlichen Verfahren der Evangelischen Kirche Gem. § 61 Abs. 4 MVG.EKD können die Beteiligten zu ihrem Beistand jeweils eine Person hinzuziehen , die Mitglied einer Kirche sein muss, die der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen angehört. Ob rechtsanwaltliche Vertretung unter den Begriff des Beistands fällt, kann nicht abschließend beurteilt werden, da es hierzu an Sekundärliteratur fehlt. Sofern dies der Fall sein sollte, kann für die Beantwortung der Frage, ob diese Regelung gegen Europarecht verstößt darauf verwiesen werden, dass ein Verstoß davon abhängig ist, ob diese Regelung als Teil des Selbstbe- 72 RICHARDI 2009, S. 384f. 73 Kritisch hierzu: REUTER 1999. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 25 stimmungsrechts der Kirchen von einem eventuellen Schutz des Selbstbestimmungsrechts im Gemeinschaftsrecht mit umfasst wäre. Dies hängt jedoch wiederum von der Frage ab, ob und in welcher Ausgestaltung das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Europarecht gewährleistet wird.74 7. Bindungswirkung kirchengerichtlicher Urteile und ihre Vollstreckung Jedenfalls für das katholische Kirchenrecht gilt, dass kirchengerichtliche Urteile grundsätzlich beide Parteien gleichermaßen binden. Wurde ein Beteiligter rechtskräftig verurteilt, so hat er der gerichtlichen Entscheidung Folge zu leisten. Dies gilt sowohl für die Arbeitgeber-, als auch für die Arbeitnehmerseite. Kommt eine Seite ihrer Verpflichtung nicht nach, so ersucht das Gericht den kirchlichen Vorgesetzen des Verpflichteten um Vollstreckungshilfe (siehe hierzu § 52 Abs. 2 KAGO). Bleiben auch solche Maßnahmen erfolglos, so kann eine Geldbuße bis zu 2.500 Euro verhängt werden. Da darüber hinausreichende Maßnahmen zur Durchsetzung von Urteilen im innerkirchlichen System nicht vorgesehen sind, ist zur Vollstreckung aus einem im kirchenrechtlichen Verfahren erstrittenen Titel der Weg zu den staatlichen Gerichten eröffnet. Dies folgt nach der Rechtsprechung aus der Justizgewährungspflicht des Staates gem. Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 92 GG.75 74 Siehe oben 4.1.1. 75 Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 30. Mai 2008, 2 A 813/07. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 26 Literaturverzeichnis BÄLZ, Ulrich (2009): Die verfassungsrechtliche Zuordnung der Diakonie zur Kirche. In: Die Zukunft des Dritten Weges?, Evangelischer Pressedienst, Dokumentation, 16. Juni 2009. BELITZ, Wolfgang (2006): „Es gibt keine zwingende Gründe gegen Tarifverträge in der Kirche“. In: KLUTE, Jürgen; SEGBERS, Franz, (Hrsg.): Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn. Hamburg: VSA-Verlag. BLECKMANN, Albert (1995): Von der individuellen Religionsfreiheit des Art 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Köln u.a.: Carl Heymanns Verlag. BLOSS, Lasia (2008): Cuius religio - EU ius regio? Komparative Betrachtung europäischer staatskirchenrechtlicher Systeme, status quo und Perspektiven eines europäischen Religionsverfassungsrecht. Tübingen: Mohr Siebeck. CLASSEN, Claus Dieter (2010): Kommentierung zu AEUV Art. 17 Religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften. In: GRABITZ, Eberhard; HILF, Meinhard; NETTESHEIM, Martin (Hrsg.): Das Recht der Europäischen Union. Band I. EUV, AEUV. 41. Ergänzungslieferung. München: C.H. Beck. CRÜWELL, Henriette (2005): Eine Frage der Parität. In: CRÜWELL, Henriette; JAKOBI Tobias; MÖHRING-HESSE, Matthias (Hrsg.): Arbeit, Arbeit der Kirche und Kirche der Arbeit Beiträge zur christlichen Sozialethik der Erwerbsarbeit . Festschrift zum 68. Geburtstag von Friedhelm Hengsbach SJ. Münster: Lit VERLAG Münster. DÜTZ, Wilhelm (2007): Bischof und KODA-System. In: ANNUS, Georg, PICKER, Eduard, WISS-MANN, Hellmut: Festschrift für Reinhard Richardi zum 70. Geburtstag. München: C.H. Beck. FUNKE, Andreas (2007): Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. In: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2007, S. 733-740. GAMILLSCHEG, Franz (1994): Kirchliche Selbstverwaltung und Art. 9 III GG. In: BETTERMANN, Karl August; LÖWISCH, Manfred; OTTO, Hansjörg; SCMIDT, Karsten (Hrsg.): Festschrift für Albrecht Zeuner zum siebzigsten Geburtstag. Tübingen: J.C.B. Mohr. GEHRING, Heinrich; THIELE, Christoph (2002): § 630 Anhang, Kirchenarbeitsrecht. In: SCHLIEMANN, Harald: Das Arbeitsrecht im BGB. 2 Aufl. Berlin, New York: Walter de Gruyter. HÖLSCHEIDT, Sven (2010): Charta Artikel 21 Nichtdiskriminierung. In: MEYER, Jürgen: Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 3. Aufl. Baden- Baden: Nomos. HONECKER, Martin (1981): Das „Recht auf Arbeit“ und der Arbeitskampf. In: STREITHOFEN, Heinrich Basilius: Christliche Ethik und Arbeitskampf. Walberg: Institut für Gesellschafts- JÄHNICHEN, Traugott (2006): „Dass die Kirche hierbei allen berechtigten sozialen Anforderungen … nachkommt, ist selbstverständlich“. In: KLUTE, Jürgen; SEGBERS, Franz (Hrsg.): Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn. Hamburg: VSA-Verlag. JARASS, Hans D. (2005): EU-Grundrechte. Ein Studien- und Handbuch. München: C.H. Beck. KANIA, Thomas (2011): Kommentierung zu § 118 BetrVG Geltung für Tendenzbetriebe und Religionsgemeinschaften . In: DIETERICH, Thomas; MÜLLER-GLÖGE, Rudi (Hrsg.): Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. 11. Aufl. München: C.H. Beck. KLUTE, Jürgen (2006): Zukunftsfähig und kirchlich identifizierbar: Tarifverträge plus Dienstgemeinschaft. In: KLUTE, Jürgen; SEGBERS, Franz (Hrsg.): Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn. Hamburg: VSA-Verlag. KORTSTOCK, Ulf (2011): Grundrechtecharta. In: Nipperdey, Lexikon Arbeitsrecht. München: C.H. Beck. KÜHLING, Jürgen (2007): Arbeitskampf in der Diakonie, Studie von Jürgen Kühling im Auftrag der Gewerkschaft ÖTV-jetzt ver.di. Stuttgart: Hauer+Ege GmbH. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 27 LAKIES, Thomas (2010): Kommentierung zu BetrVG § 118 Geltung für Tendenzbetriebe und Religionsgemeinschaften . In: DÜWELL, Franz Josef, Betriebsverfassungsgesetz. 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos Verlag. MAIER, Ulrich (2009): Keine Zukunft für den Dritten Weg. In: Die Zukunft des Dritten Weges. Evangelischer Pressedienst Nr. 26. Frankfurt a.M.: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik (GEP). MEYER-LADEWIG, Jürgen (2006): Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention. 2. Aufl. Baden- Baden: Nomos. MUCKEL, Stefan (2005): Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa. In: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2005, S. 191-200. MÜCKL, Stefan (2002): Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter. MÜLLER-VOLBEHR, Gerd (1999): Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen. Heidelberg: Verlag Recht und Wirtschaft GmbH. PAHLKE, Armin (1983): Kirche und Koalitionsrecht, Zur Problematik des kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsverfahrens insbesondere des Dritten Weges der Kirchen. Tübingen: J.C.B. Mohr. PAHLKE, Armin (1986): Der Dritte Weg der Kirchen im Arbeitsrecht. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1986, S. 350 – 356. REUTER, Roland (1999): Möglichkeiten und Grenzen kirchlichen Rechtsschutz aus Sicht eines Betroffenen. In: Rechtsschutz und Gewaltenteilung in den Kirchen. Evangelische Akademie Bad Boll. Bad Boll: Protokolldienst 17/99. RICHARDI, Reinhard (2002): Tarifvertrag mit Arbeitskampf oder „Dritter Weg” in der Kirche? In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2002, S. 929-934. RICHARDI, Reinhard (2009): Arbeitsrecht in der Kirche. Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht. 5. Aufl. München: C.H. Beck. RIEDEL, Eibe (2010): Charta Artikel 28 Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen. In: MEYER, Jürgen: Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 3. Aufl. Baden- Baden: Nomos. ROSSI, Matthias (2007): Kommentierung zu Art. 20 GRCh. In: CALLIESS, Chrisian; RUFFERT, Matthias (Hrsg.): Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. 3. Aufl. München: C.H. Beck. SCHLIEMANN, Harald (2003): Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht – Kooperation oder Konfrontation. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 2003, S. 407-415. SÖBBEKE-KRAJEWSKI, Markus (2007): Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Eu-ropäischen Union, Ansätze eines systematischen Religionsrechts der EU unter EU-Vertrag, EG-Vertrag und EU- Verfassungsvertrag. Berlin: Duncker& Humblot. THÜSING, Gregor (1999): Der Dritte Weg- seine Grundlagen und seine Zukunft. In: Zeitschrift für Tarifrecht (ZTR), 1999, S. 298-302. THÜSING, Gregor (2010): Kommentierung zu § 118 BetrVG. Geltung für Tendenzbetriebe und Religionsgemeinschaften . In: RICHARDI, Reinhard: Betriebsverfassungsgesetz. Kommentar. 12. Aufl. München: C.H. Beck. WALDHOFF, Christian (2003): Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht. In: JuristenZeitung (JZ) 2003, S. 978 – 986. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-216/10 Seite 28 WALDHOFF, Christian (2005): Kirche und Streikrecht – Streikrecht in der Kirche? In: SÖLLNER, Alfred; GITTER, Wolfgang; WALTERMANN, Raimund; GIESEN, Richard; RICKEN, Oliver (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Manfred Heinze. München: C.H. Beck. WALDHOFF, Christian (2007): Kommentierung zu Art 10 GRCh. In: CALLIESS, Christian; RUF-FERT Matthias (Hrsg.): Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. 3. Aufl. München: C.H. Beck. WEIß, Andreas (1999): Möglichkeiten und Grenzen kirchlichen Rechtsschutz. In: Rechtsschutz und Gewaltenteilung in den Kirchen. Evangelische Akademie Bad Boll. Bad Boll: Protokolldienst 17/99. WERNER, Michael (2010): Kommentierung zu BetrVG § 118. In: ROLFS, Christian; GIESEN Richard; KREIKEBOHM, Ralf; UDSCHING, Peter (Hrsg.): Beck’scher Onlinekommentar zum Arbeitsrecht. München: C.H. Beck.