Medizinischer Mehrbedarf im Sozialrecht - Einführung und Entwicklung - - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 190/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Medizinischer Mehrbedarf im Sozialrecht - Einführung und Entwicklung - Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 190/08 Abschluss der Arbeit: 16.12.2008 Fachbereich WD 6: Arbeit und Soziales Telefon: +49 (30) 227-38642 Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - - Zusammenfassung - Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass keine Änderungen der gesetzlichen medizinischen Mehrbedarfsregelungen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) stattfanden . Die Vorschrift des § 21 SGB II wurde seit ihrem Inkrafttreten am 1.1.2005 nur einmal geringfügig in Abs. 4 geändert. Die Regelung zum „medizinischen Mehrbedarf“ in § 21 Abs. 5 SGB II blieb jedoch unverändert. Im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erfolgten seit dessen Inkrafttreten im Jahre 1961 bis zu dessen Ablösung durch das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) am 1.1.2005 Änderungen der medizinischen Mehrbedarfsregelungen lediglich in den Jahren 1882, 1993, 2001 und 2005, wobei die Änderungen jeweils nur geringfügig waren. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass es sich bei den gesetzlichen Regelungen zum medizinischen Mehrbedarf in § 21 Abs. 5 SGB II und §§ 52, 23 BSHG, § 30 SGB XII um wenige kurze und knappe Regelungen handelt, deren Voraussetzungen über die Jahre nahezu unverändert blieben. Größeren Änderungen unterlag dagegen die Rechtsfolgenseite, d.h. die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV) zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe. Diese Empfehlungen haben sich seit 1974 wesentlich geändert, sowohl im Hinblick auf die Art der Erkrankung als auch hinsichtlich der Höhe des Mehrbedarfs. - 4 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Mehrbedarf allgemein 5 2. Medizinischer Mehrbedarf 5 2.1.1. Medizinischer Mehrbedarf im SGB II 5 2.1.1.1. Voraussetzungen 6 2.1.1.2. Rechtsfolgen, Höhe des Mehrbedarfs 6 2.1.2. Medizinischer Mehrbedarf im BSHG und SGB XII 8 2.1.2.1. Voraussetzungen 9 2.1.2.2. Rechtsfolgen, Höhe des Mehrbedarfs 10 3. Historie der Mehrbedarfsregelungen 10 3.1. Historie der Mehrbedarfsregelungen im SGB II 10 3.2. Historie der Mehrbedarfsregelungen im BSHG und SGB XII 12 4. Anlagenverzeichnis 14 5. Literaturverzeichnis 15 - 5 - 1. Mehrbedarf allgemein Die Mehrbedarfe ergänzen die Regelsatzleistungen bei Vorliegen besonderer Bedarfssituationen , die im Regelsatz nicht berücksichtigt sind. Mehrbedarfsregelungen fanden sich seit 1961 in vereinzelten Paragraphen (§§ 19, 21, 23, 24, 33, 42, 53) des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) und sind nunmehr in § 30 SGB XII, welches das BSHG zum 1.1.2005 ablöste, zu finden. Daneben finden sich Mehrbedarfsregelungen ab dem 1.1.2005 in § 21 SGB II. Bei den Mehrbedarfen handelt es sich um eine abschließende Aufzählung1. Die Höhe des Mehrbedarfs wird im Regelfall pauschal als Prozentsatz vom maßgebenden Regelsatz bemessen. Der maßgebende Regelsatz ist dabei der, der dem Leistungsberechtigten zumindest dem Grunde nach zusteht2. Lediglich der Mehrbedarf für die kostenaufwändige Ernährung (§ 21 Abs. 5 SGB II, § 30 Abs. 5 SGB XII) wird individuell bemessen (näher unten). Verschiedene Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 2 bis 5 SGB II oder § 30 Abs. 1 bis 5 SGB XII sind nebeneinander zu gewähren. Insgesamt darf in der Summe der maßgebende Regelsatz nicht überschritten werden (§ 21 Abs. 6 SGB II, § 30 Abs. 6 SGB XII). Auf den jeweils gesetzlich festgelegten Mehrbedarf besteht, soweit die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen gegeben sind, ein Rechtsanspruch3. Die Leistungen und die Höhe der Mehrbedarfszuschläge stehen somit nicht im Ermessen des zuständigen Trägers. 2. Medizinischer Mehrbedarf 2.1.1. Medizinischer Mehrbedarf im SGB II Der Begriff des „medizinischen Mehrbedarfs“ wird von § 21 SGB II wörtlich nicht erwähnt . Jedoch heißt es dort in Abs. 5: „Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, erhalten einen Mehrbedarf in angemessener Höhe“. Zwar weisen auch die Mehrbedarfstatbestände der Absätze 2 bis 4 des § 21 SGB II im weiten, übertragenen Sinne einen medizinischen Bezug auf; sofern hier von „medizinischem Mehrbedarf“ gesprochen wird, ist jedoch ausschließlich vom Mehrbedarf nach Abs. 5 die Rede, der insofern einen direkten medizi- 1 Lutz in „Übersicht über das Sozialrecht“, 5. Aufl. 2008, Hrsg.: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, S. 694. 2 Temmen, „Grundlagen des Sozialrechts“, Mehrbedarf in der Sozialhilfe (§ 30 SGB XII), 2007. 3 Münder in LPK-SGB XII, § 30 Rn. 1. - 6 - nischen Bezug aufweist. Die Begriffe des Mehrbedarfzuschlags und der Krankenkostzulage werden im Folgenden als Synonyme verwendet. 2.1.1.1. Voraussetzungen Voraussetzung für die Gewährung von medizinischem Mehrbedarf ist, dass es sich um „erwerbsfähige“ Hilfeberechtigte handelt. Dennoch haben Sozialgeldberechtigte, die zugleich die Mehrbedarfsvoraussetzungen des § 28 Abs. 5 SGB II erfüllen, einen Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen4, denn das Sozialgeld umfasst nach § 28 Abs. 1 S. 1 alle sich aus § 19 S. 1 Nr. 1 ergebenden Leistungen und damit auch den § 215. Voraussetzung für die Gewährung von Mehrbedarfszuschlägen ist ein kausaler Zusammenhang zwischen einer bestehenden oder drohenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung6. D.h. gerade die Krankenkostzulage muss nach der aktuellen ernährungswissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnis geeignet sein, die Erkrankung zu beheben, zu lindern oder wenigstens deren Fortschritt aufzuhalten. Die Gewährung von Mehrbedarfszuschlägen für eine kostenaufwändige Ernährung setzt regelmäßig ein ärztliches Attest (des Hausarztes) voraus7. Dem Hilfesuchenden muss auch die Möglichkeit gegeben werden, auf schulmedizinisch nicht anerkannte Behandlungsmethoden zurückgreifen zu können, wenn bei schwerwiegenden Gesundheitsstörungen die Schulmedizin keine anerkannt wirksamen Maßnahmen zur Besserung, Heilung oder Abwehr einer Erkrankung anbietet8. 2.1.1.2. Rechtsfolgen, Höhe des Mehrbedarfs Liegen die Voraussetzungen vor, so hat der Berechtigte einen Rechtsanspruch auf den Mehrbedarfszuschlag9. Die Leistungsträger haben kein Ermessen hinsichtlich der Gewährung von Mehrbedarfszuschlägen. Der Begriff der „angemessenen Höhe“ räumt den Leistungsträgern auch keinen Beurteilungsspielraum ein, so dass eine volle gerichtli- 4 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 3 m.w.N. 5 Vgl. Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 3. 6 SG Augsburg v. 8.11.2005 Az. S 1 AS 225/05. 7 LSG MV v. 3.4.2006 – L 8 B 126/05 AS. 8 Münder in LKP-SGB II, § 21Rn. 26; VG HH v. 30.11.1988 Az. 8 VG 2378/87. 9 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 27. - 7 - che Überprüfung der Entscheidung möglich ist10. Der Leistungsberechtigte hat einen Anspruch auf die tatsächlich erforderlichen Mehrkosten11. Anders als die Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 2 bis 4 SGB II ist der Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung (Krankenkostzulage) betraglich nicht festgelegt. Eine Festlegung ist schon deshalb nicht möglich, weil die unterschiedlichen Bedarfslagen der Berechtigten eine solche nicht zulassen. Überdies ist zu bedenken, dass die ständige Weiterentwicklung der Medizin und der Ernährungsphysiologie die Notwendigkeit und den Umfang kostenaufwändiger Ernährung häufig verändern12. Hinsichtlich der Art der Erkrankung und der Höhe der Krankenkostzulage können nach den Gesetzesmaterialien13 die hierzu vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) entwickelten und an typisierten Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden14. Der DV hat ernährungswissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt und im Jahre 1974 erstmals Gutachten und Empfehlungen veröffentlicht (Anlage 2), welche 1997 (Anlage 3) und 2008 (Anlage 4) überarbeitet wurden . Die Aussage des Gesetzgebers zur Heranziehung der Empfehlungen des DV bezieht sich auf die Rechtsprechung zum alten § 23 Abs. 4 BSHG15. Der Bundesgesetzgeber hat jedoch die Empfehlungen des DV von 1997 als eine auch für die Durchführung der entsprechenden Regelung im SGB II geeignete Grundlage angesehen16. Die Bundesagentur für Arbeit hat die Empfehlungen des DV zu den Krankenkostzulagen in im Kerngehalt in ihre „fachlichen Hinweise“ zu § 21 Abs. 5 SGB II übernommen. Die Bezugnahme des Gesetzgebers auf diese Empfehlungen hat diese jedoch nicht zu einer Art antizipierten Sachverständigengutachten gemacht17. Das Bundesverfassungsgericht 18 hat aber die besondere Bedeutung der Empfehlungen des DV von 1997 bei der Beurteilung der schwierigen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Gewährung von Krankenkostzulagen betont. 10 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 27. 11 VGH HE v. 9.11.1972 Az. VII OE 25/71 – FEVS 21, 363. 12 Temmen, „Grundlagen des Sozialrechts“, Mehrbedarf in der Sozialhilfe (§ 30 SGB XII), 2007. 13 BT-Dr. 15/1516, 57. 14 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 28. 15 Münder in LPK SGB II, § 21 Rn. 28 m.w.N. 16 BT-Drucks. 15/1516 S. 57: „Zur Angemessenheit des Mehrbedarfs können die hierzu vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und an typisierbaren Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden.“ 17 So BSG, Urt. v. 27.2.2008 Az. B 14/7b AS 64/06 R; a.A.: Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 28; LSG NW v. 23.6.2006 Az. L 20 B 109/06 AS. 18 BVerfG, Beschluss v. 20.6.2006 Az. 1 BvR 2673/05. - 8 - Die Aufzählung der Arten von Erkrankungen ist nicht abschließend. Insbesondere wenn neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, können für zusätzliche Erkrankungen entsprechende Krankenkostzulagen bezahlt werden19. Hinsichtlich der Höhe der Krankenkostzulagen wird auf die Anlagen 2 bis 4 verwiesen . Die Besonderheiten des Einzelfalls können ein Abweichen von den in den Empfehlungen vorgegebenen Beträgen erforderlich machen, so etwa wenn Umstände vorliegen, die die Nahrungszufuhr in nicht unerheblichem Umfang beeinflussen (wie z.B. Verdauungsstörungen , häufiges Erbrechen, Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln). Liegen die Voraussetzungen für mehrere Krankenkostenzulagen vor, so ist auf jeden Fall die höchste der in Betracht kommenden Krankenkostenzulagen zu leisten20. Soweit die fraglichen Erkrankungen einen gleichartigen Mehrbedarf verursachen, ist in der höchsten möglichen Krankheitskostenzulage zugleich die Obergrenze der Leistungen zu sehen 21. Wirken sich verschiedene Erkrankungen dagegen so aus, dass unterschiedliche Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 5 SGB II zusammenkommen, ist wegen des Bedarfsdeckungsgrundsatzes eine Begrenzung auf den höchsten Bedarf nicht möglich, vielmehr ist dann eine Kumulation der unterschiedlichen Krankenkostzulagen erforderlich22. Die Summe des insgesamt gezahlten Mehrbedarfs darf die Höhe der für erwerbsfähige Hilfebedürftige maßgebenden Regelleistung nicht übersteigen, § 21 Abs. 6 SGB II. Die Beträge sollen nach den Empfehlungen des DV entsprechend der prozentualen Veränderung der Regelsätze für Alleinstehende/Haushaltsvorstände jährlich fortgeschrieben werden. Die Bewilligungsdauer soll maximal auf zwölf Monate befristet werden. 2.1.2. Medizinischer Mehrbedarf im BSHG und SGB XII Der Begriff des „medizinischen Mehrbedarfs“ wird vom Gesetzestext des BSHG und des dieses ablösenden SGB XII nicht erwähnt. Im Gegensatz zu § 21 SGB II ist in dem nunmehr geltenden § 30 SGB XII nicht ausdrücklich erwähnt, dass die kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen Gründen notwendig sein muss. Die Erforderlichkeit aus medizinischen Gründen entsprach jedoch schon immer der Praxis23. Im Übrigen entsprechen sich § 21 SGB II und § 30 SGB XII im Wesentlichen, es ist der gleiche 19 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 29. 20 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 30. 21 Vgl. Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 30. 22 Münder in LPK-SGB II, § 21 Rn. 31. 23 Münder in LPK-SGB II, § 30 Rn. 26. - 9 - Regelungsgehalt gemeint24. Im Folgenden werden daher nur die Besonderheiten des § 30 SGB XII gegenüber § 21 SGB II dargestellt. 2.1.2.1. Voraussetzungen Es gelten die gleichen Anspruchsvoraussetzungen wie im Rahmen des § 21 SGB II25. Im Gegensatz zu § 21 Abs. 5 SGB II legt § 30 Abs. 5 SGB XII einen bestimmten Kreis von Personen fest, denen ein Mehrbedarfszuschlag nach dieser Norm zu gewähren ist. Es muss sich um eine Person handeln, die - krank, - von Krankheit bedroht, - behindert, - von Behinderung bedroht oder - genesend ist. Ob Krankheit oder Behinderung vorliegt bzw. ob deren Eintritt droht, sollte aufgrund ärztlichen Attestes oder amtsärztlichen Gutachtens festgestellt werden. Der Begriff der Krankheit wurde von der Rechtsprechung definiert. Danach ist Krankheit ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der eine ärztliche Behandlung notwendig macht26. Der Begriff der Behinderung ist legal definiert in § 1 Abs. 2 SGB IX. Danach sind Personen als behindert anzusehen, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Von Behinderung bedroht sind diese Personen, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. Den Begriff „Genesene“ gab es nur im Rahmen der aufgehobenen Tuberkulosehilfe. Bei der Neufassung des § 23 Abs. 4 BSHG durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) im Juni 1993 ist dieser Begriff in „Genesende “ abgeändert worden. Er hatte sich damit einerseits endgültig von der Tuberkuloseerkrankung gelöst und andererseits gleichzeitig eine Einschränkung im Hinblick auf die 24 Auch wird i.R.d. § 30 SGB XII auf die deutlich umfangreichere Rechtsprechung der Sozialgerichte zu § 21 SGB II zurückgegriffen, vgl. Münder in LPK-SGB II, § 30 Rn. 3. 25 Vgl. auch Münder in LPK-SGB II, § 30 Rn. 26: Voraussetzungen sind auch i.R.d. § 30 SGB XII ein kausaler Zusammenhang sowie ein ärztliches Attest. 26 Schellhorn, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 16. Aufl., § 37 Rn. 8. - 10 - Dauer der Gewährung des Mehrbedarfs an Genesende im Anschluss an eine Krankheit erfahren27. Unter Genesende ist dabei der Zustand einer Person nach Abschluss einer akuten, behandlungsbedürftigen Krankheit bis zur endgültigen Gesundung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit zu verstehen28. 2.1.2.2. Rechtsfolgen, Höhe des Mehrbedarfs Hinsichtlich der Rechtsfolgen und der Höhe des Mehrbedarfs gelten die zu § 21 SGB II gemachten Ausführungen entsprechend. 3. Historie der Mehrbedarfsregelungen 3.1. Historie der Mehrbedarfsregelungen im SGB II Das SGB II regelt die Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige. Eingeführt wurde das SGB II zum 01. Januar 2005 durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und wird deshalb umgangssprachlich oft auch als „Hartz IV“ bezeichnet. Das Arbeitslosengeld II (ALG II) fasst – wie im zugrundeliegenden Hartz- Konzept (2002) vorgesehen – die frühere Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe (für Erwerbsfähige ) auf das Leistungsniveau des soziokulturellen Existenzminimums zusammen . Eine Regelung zum Mehrbedarf fand und findet sich in § 21 SGB II. Diese Vorschrift wurde seit Inkrafttreten des SGB II nur einmal geringfügig in Abs. 4 geändert. Die Regelung zum „medizinischen Mehrbedarf“ in § 21 Abs. 5 SGB II blieb unverändert. Veränderungen fanden dagegen im Bereich der Empfehlungen des DV statt, von denen einige wesentliche Änderungen hier beispielhaft genannt werden sollen: - Empfehlungen des DV aus dem Jahre 1974 - Es wurden eigene Empfehlungen für Kinder und Jugendliche abgegeben. - Empfehlungen des DV aus dem Jahre 1997 - Die Empfehlungen von 1997 berücksichtigten eine Reihe von neuen, häufiger auftretenden Erkrankungen, für die nach ärztlicher Expertise zu verallgemei- 27 Schellhorn, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 16. Aufl., § 23 Rn. 32. 28 Schellhorn, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 16. Aufl., § 23 Rn. 32. - 11 - nernde Aussagen zum Ernährungsbedarf gemacht werden konnten, so etwa auch HIV-Infektionen und AIDS sowie Neurodermitis. So war die Krankheit AIDS 1974 noch unbekannt. Nach Bekanntwerden der Krankheit Anfang der achtziger Jahre empfahl es sich, AIDS-Kranken zunächst den gleichen Mehrbedarf wie Krebskranken zu gewähren29. Für lediglich HIV- Infizierte, bei denen die Krankheit noch nicht ausgebrochen war, bedurfte es nach damaliger Auffassung keiner kostenaufwändigeren Ernährung. Nach Auffassung aus dem Jahre 1997 kam es bei einer HIV-Infektion nicht mehr darauf an, ob ein Hilfesuchender mit HIV infiziert oder bereits an AIDS erkrankt war, denn bei HIV-Infizierten konnte die Stärkung der körpereigenen Abwehrkräfte den Ausbruch der Krankheit zeitlich beeinflussen, so dass zur Festigung des Immunabwehsystems auch für den Personenkreis der Infizierten eine Krankenkost anzuerkennen war30. Auch die Krankheit Neurodermitis wurde – obwohl 1974 schon als solche bekannt und bezeichnet31 – erst 1997 in die Empfehlungen des DV aufgenommen . Dies mag daran liegen, dass man früher davon ausging, dass Ursache der Hauterkrankung eine Nervenentzündung sei. - Es wurden spezielle Kostformen wie lipidsenkende Kost, purinreduzierte Kost und Diabeteskost eingeführt. - Weiter wurde nach unterschiedlichen Typen von Diabetes mellitus unterschieden . - Die Empfehlungen gelten ausschließlich für Erwachsene. Die Beschränkung auf Erwachsene wurde vorgenommen, da ein eigenständiges Bemessungsverfahren für die Regelsätze Minderjähriger noch ausstand und somit keine Aussagen getroffen werden konnten, in welchem Umfang der Ernährungsbedarf von Kindern und Jugendlichen bei der Regelsatzfestsetzung berücksichtigt wird32. - Empfehlungen des DV aus dem Jahre 2008 - Die Definition der „Vollkost“ wurde verändert. 29 Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, § 23 Rn. 37. 30 Münder in LKP-SGB II, § 21 Rn. 26; OVG NI v. 7.10.2002 Az. 12 ME 622/02 – FEVS 53, 191; VG Darmstadt v. 23.5.1995 Az. 6 G 530/95 (3) – info also 1995, 226. 31 Vgl. etwa http://www.onmeda.de/krankheiten/neurodermitis.html?p=2; oder http://de.wikipedia.org/wiki/Neurodermitis: „Der Begriff Neurodermitis stammt aus dem 19. Jahrhundert “. 32 Vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe , 2008. - 12 - - Die 1997 eingeführten speziellen Kostformen werden nicht mehr aufgeführt. Bei Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder bei Erhöhung der Blutfettwerte, Gicht, Bluthochdruck sowie bei Gewebewasseransammlungen (kardinalen und renalen Ödemen) ist keine spezielle Kostform mehr einzuhalten, d.h. die Vollkost erfüllt die Bedingungen der Ernährungstherapie. - Die Bemessung der Mehrbedarfszuschläge wurde angepasst. Die Änderungen sind im Einzelnen den Anlagen 2 bis 4 zu nehmen. 3.2. Historie der Mehrbedarfsregelungen im BSHG und SGB XII Regelungen zum Mehrbedarf wurden erstmals zum 1.6.1961 mit Inkrafttreten des BSHG eingeführt und waren dort in den §§ 23, 24, 33, 41, 53 verankert. Die Mehrbedarfsregelungen haben seit 1962 mehrere Änderungen erfahren (Anlage 1). In Bezug auf den „medizinischen Mehrbedarf“, welcher als fett umrandet dargestellt ist, ergeben sich damit zusammengefasst folgende Änderungen: - Ausgehend vom BSHG aus dem Jahre 1961, war der „medizinische Mehrbedarf“ in § 53 Abs. 2 BSHG verortet und wurde nur Kranken, Genesenen und anderen in § 52 BSHG genannten Personen gewährt, die tuberkulosegefährdet oder –bedroht waren. Es kam also entscheidend auf die Tuberkulosegefahr oder –bedrohung an. Der Mehrbedarfszuschlag betrug 50 v. H. des maßgebenden Regelsatzes sowie Ernährungszulagen . - Durch das Zweite Gesetz zur Verbesserung der Haushaltsstruktur (2. Haushaltsstrukturgesetz – 2. HStruktG) wurde mit Wirkung zum 1.1.1982 § 53 Abs. 2 BSHG aufgehoben und in § 23 Abs. 1 Nr. 4 BSHG (Tuberkulosehilfe) und § 23 Abs. 4 Nr. 2 BSHG (Kranken-, Genesenen- und Behindertenhilfe) eingebaut . Dieser „Einbau“ erfolgte nicht ohne die Vornahme von Änderungen: § 23 Abs. 1 Nr. 4 BSHG sprach nunmehr lediglich von „Tuberkulosekranken“, ohne Verweis auf die in § 52 BSHG genannten Personen. Zudem wurde der Mehrbedarf auf die Dauer der Heilbehandlung begrenzt. Diese Regelung war wegen Aufhebung der bis zum 31.12.1981 geltenden Mehrbedarfsregelung in § 53 Abs. 2 notwendig geworden33. Genesene hatten nunmehr – entgegen dem bis 31.12.1981 geltenden Recht – keinen Anspruch auf den pauschalierten Mehrbedarfszuschlag; wohl aber auf den angemessenen Mehrbedarfszuschlag für kostenaufwändige Ernährung nach § 23 Abs. 4 Nr. 2 BSHG. Weiterhin wurde die Höhe des Mehrbe- 33 Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 13. Aufl., § 23 Rn. 15. - 13 - darfszuschlags – im Rahmen der Tuberkulosehilfe - von 50 auf 20 v. H. des maßgebenden Regelsatzes reduziert und war in dieser Höhe nur zu gewähren, „soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht“. Ernährungszulagen wurden nicht mehr gewährt. § 23 Abs. 4 Nr. 2 BSHG schloss die Lücke, die sonst nach Aufhebung der Vorschriften über die Ernährungszulage im Rahmen der Tuberkulosehilfe eingetreten wäre34. Für die in § 23 Abs. 4 Nr. 2 BSHG genannte Personengruppe wurde ein Mehrbedarf in angemessener Höhe eingeführt. Die Gewährung von Ernährungszulagen wurde nunmehr nicht länger als Rechtsfolge, sondern als tatbestandliche Voraussetzung angesehen, indem die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags in angemessener Höhe an die Voraussetzung geknüpft wurde, dass die entsprechende Person einer kostenaufwändigen Ernährung bedurfte. - Der besondere Mehrbedarf für Tuberkulosekranke in § 23 Abs. 1 Nr. 4 BSHG ist durch das das Gesetz über Maßnahmen zur Bewältigung der finanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands, zur langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Entlastung der öffentlichen Haushalte (FKPG) mit Wirkung zum 27.6.1993 gestrichen worden. Eine Sonderregelung , die noch als Überbleibsel aus dem Tuberkulosehilfegesetz von 1959 anzusehen ist, schien entbehrlich, da der krankheitsbedingte Mehraufwand für Ernährung auch für Tuberkulosekranke zur Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags nach der allgemeinen Regelung für Krankenkostzulagen in Abs. 4 führen konnte35. Weiter wurde der Wortlaut von § 23 Abs. 4 BSHG verändert („Genesende“ statt bislang „Genesene“; „kostenaufwändiger Ernährung“ statt bislang „kostenaufwändigeren Ernährung“). Aus den Änderungsbeschlüssen des federführenden 8. Ausschusses (Haushaltsausschuss) ist nicht zu ersehen, warum diese Änderung erfolgte 36. Der DV geht davon aus, dass es sich um einen redaktionellen Fehler gehandelt habe37, weil die Bedeutung des Komparativs nach Sinn und Zweck der Norm übersehen worden sei. Es genüge nicht, dass die Ernährung lediglich „kostenaufwändig“ ist, denn dies sei jede Ernährung, die Geld koste. Vielmehr sei ein doppelter Vergleichsmaßstab erforderlich: Die Ernährung des Kranken oder Behinderten müsse tatsächlich „kostenaufwändiger“ als die des gesunden oder Nichtbehinderten sein. Der Kostenvergleich beziehe sich auf den sozialhilferechtlich anerkannten Regel- 34 Schellhorn, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 16. Aufl., § 23 Rn. 30. 35 Schellhorn, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 16. Aufl., § 23 Rn. 18. 36 Vgl. BT-Drucks. 12/4801, S. 20. 37 Vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe , 2008. - 14 - bedarf an Ernährung. Die Anerkennung eines Mehrbedarfs sei begrifflich immer nur in Bezug auf einen Regelbedarf möglich38. - Die durch das Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB9uaÄndG) mit Wirkung zum 1.7.2001 erfolgte Wortlautänderung des § 23 Abs. 4 BSHG von „Behinderte“ in „behinderte Menschen“ bzw. „von einer Behinderung bedrohte Menschen“ war nur von kurzer Dauer, bedeutete aber eine Ausdehnung des Tatbestandes, da nunmehr auch die Bedrohung durch eine Behinderung miterfasst war. - Durch Art. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 wurde die Sozialhilfe als 12. Buch mit Wirkung ab 1.1.2005 in das SGB eingegliedert. Die Mehrbedarfsregelungen finden sich nunmehr in § 30 SGB XII und entsprechen in ihrer Struktur weitgehend der Regelung des früheren § 23 BSHG39. Die Formulierung „behinderte Menschen“ wurde wieder in „Behinderte“ geändert und der Passus „von einer Behinderung bedrohte Menschen“ gestrichen. 4. Anlagenverzeichnis Tabellarische Übersicht: Entwicklung der Mehrbedarfsregelungen im BSHG und SGB XII. - Anlage 1 - DEUTSCHER VEREIN FÜR ÖFFENTLICHE UND PRIVATE FÜRSORGE e.V.: Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe, 1. Aufl. 1974 (Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 48), BT-Bibliothek: P 21733, Auszug: S. 106-109. - Anlage 2 - DEUTSCHER VEREIN FÜR ÖFFENTLICHE UND PRIVATE FÜRSORGE e.V.: Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe, 2. Aufl. 1997 (Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 48), entnommen aus: Münder, Sozialgesetzbuch II, 2. Aufl. 2007, Nomos Verlag, Auszug. - Anlage 3 - 38 Vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe , 2008. 39 Münder in LPK-SGB XII, § 30 Rn. 3. - 15 - DEUTSCHER VEREIN FÜR ÖFFENTLICHE UND PRIVATE FÜRSORGE e.V.: Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe, 3. Aufl. 2008. - Anlage 4 - 5. Literaturverzeichnis - BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES: Übersicht über das Sozialrecht, 5. Aufl. 2008, BW Verl. u. Software GmbH, BT-Bibliothek: M 585426. - MÜNDER, Johannes / ARMBORST, Christian: Sozialgesetzbuch II, 2. Aufl. 2007, Nomos Verlag. BT-Bibliothek: JUR 10.2 7. - MÜNDER, Johannes: Sozialgesetzbuch XII, 8. Aufl. 2008, Nomos Verlag, BT- Bibliothek: JUR 10.41 8. - SCHELLHORN, Walter / SCHELLHORN, Helmut: Das Bundessozialhilfegesetz: Ein Kommentar für Ausbildung, Praxis und Wissenschaft, 16. Aufl. 2002, Luchterhand Verlag, BT-Bibliothek: M 571532. - SCHELLHORN, Walter / JIRASEK, Hans / SEIPP, Paul: Das Bundessozialhilfegesetz : Ein Kommentar für Ausbildung, Praxis und Wissenschaft, 13. Aufl. 1988, Luchterhand Verlag, BT-Bibliothek: M 543755. - TEMMEN, Uwe: Grundlagen des Sozialrechts, Mehrbedarf in der Sozialhilfe (§ 30 SGB XII), 2007.