Deutscher Bundestag Zur Frage möglicher Änderungen der betriebsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen in Betrieben mit kirchlicher Trägerschaft Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2013 Deutscher Bundestag WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 2 Zur Frage möglicher Änderungen der betriebsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen in Betrieben mit kirchlicher Trägerschaft Aktenzeichen: WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Abschluss der Arbeit: 28. Januar 2013 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Bearbeitung durch WD 10: Punkte 1, 5 ( ) Bearbeitung durch WD 6: Punkte 2 - 4 ( ) Gemeinsame Bearbeitung: Punkt 6 Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Das kirchliche Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht 5 3. Betriebsverfassungsrecht in kirchlichen Einrichtungen 7 3.1. Bereichsausnahme für Religionsgemeinschaften 7 3.2. Einschränkungen für Tendenzbetriebe 10 3.2.1. Tendenzbetriebe 10 3.2.1.1. Konfessionelle Zielsetzungen 11 3.2.1.2. Karitative Zielsetzungen 11 3.2.2. Tendenzschutz 12 3.2.2.1. Absoluter Ausschluss 12 3.2.2.2. Teilweiser Ausschluss 12 3.2.2.3. Relativer Ausschluss der übrigen Vorschriften 12 3.3. Zwischenfazit 13 4. Exkurs: Mitarbeitervertretungsrecht der Kirchen 13 5. Zu den veränderten Rahmenbedingungen der Arbeit kirchlicher Wohlfahrtsverbände – Die Kooperation von Staat und freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden 14 5.1. Der Grundsatz der Subsidiarität im Bereich öffentlicher Aufgaben 14 5.2. Das traditionelle deutsche Sozialstaatsmodell 15 5.3. Wende in der Sozialpolitik ab den 1990er Jahren 16 5.4. Zur Finanzierung der Arbeit freigemeinnütziger Wohlfahrtsverbände 17 5.4.1. Finanzierung von Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft 19 5.5. Gestaltung und Folgen des Modernisierungsprozesses durch die Wohlfahrtsverbände 20 6. Rechtliche Wertung und Fazit 20 7. Quellenverzeichnis 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 4 1. Einleitung Wenn in den letzten Jahren vermehrt die Arbeitsbedingungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Betrieben in kirchlicher Trägerschaft thematisiert wurden, dann ging es hierbei vor allem um die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie, die eine breite Palette sozialer Dienste anbieten. Sie wie auch die anderen gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände sahen sich aufgrund der grundlegenden Umstrukturierung der staatlichen Sozialpolitik seit den 1990er Jahren einem starken Veränderungsdruck ausgesetzt. Die Konsequenzen von organisatorischen Umstrukturierungen, Arbeitsvertrags- (und Tarif-) änderungen sowie der Einführung vielfältiger Qualitätsstandards haben vor allem die Arbeitspraxis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den personalstarken Sozialunternehmen verändert und werden von Vielen als unbefriedigend kritisiert. Diese Kritik richtet sich vor allem an die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie – zum einen, weil von den dortigen Arbeitsbedingungen die mit Abstand meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sind.1 Zum anderen , weil den Beschäftigten aufgrund der Besonderheiten des in den kirchlichen Einrichtungen bislang geltenden kirchlichen Arbeitsrechts zentrale Instrumente des Arbeitskampfs nicht zur Verfügung stehen. Als Folge ihres grundgesetzlich garantierten Selbstbestimmungsrechts sind die Kirchen auch dazu berechtigt, die Arbeitsbeziehungen innerhalb ihrer Einrichtungen nach anderen als den allgemein geltenden arbeitsrechtlichen, im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und im Personalvertretungsgesetz verankerten, Grundsätzen zu organisieren. In diesem System werden Tarifverträge, die auf strukturelle Interessengegensätze abzielen und im Rahmen von Arbeitskämpfen Streiks und Aussperrungen vorsehen, nicht als sinnvolles Instrument zur Gestaltung der Beziehungen der kirchlichen „Dienstgeber“ und ihrer Mitarbeiter („Dienstnehmer“) angesehen (BEYER 1991: 49 f). Stattdessen gibt es im kirchlichen Raum Mitarbeitervertretungsordnungen anstelle von Betriebsräten und den so genannten „Dritten Weg“ – die einvernehmliche Gestaltung der Arbeitsvertragsrichtlinien und Vergütung durch eine Kommission, die zu gleichen Teilen mit Vertretern der Dienstnehmer und Dienstgeber besetzt ist.2 Die diese Ausnahmen vom allgemein geltenden BetrVG ermöglichende Rechtsnorm findet sich in § 118 BetrVG, der die Religionsgemeinschaften vom Anwendungsbereich des BetrVG ausnimmt bzw. privilegiert. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben jedoch die Unterschiede zwischen den betriebswirtschaftlichen Maßnahmen von rein unternehmerisch motivierten und gewinnorientierten Entscheidungsträgern und denen der gemeinnützigen und weltanschaulich begründeten Wohlfahrtsbetriebe verwischt. Der zunehmende Kostendruck im Sozial- und Gesundheitswesen sowie Änderungen bei den arbeitsgesetzlichen Regelungen haben dazu geführt, dass Arbeitgeber in diesen Bereichen nach immer neuen Wegen suchen, insbesondere bei den Personalkosten Ein- 1 WIEMEYER unterstreicht, dass die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände nicht nur in Deutschland, sondern sogar in der Europäischen Union die mitarbeiterstärksten „Konzerne“ seien (WIEMEYER 2001: 125). 2 Siehe beispielsweise die Erläuterung auf der Internetseite der Caritas: http://www.caritas.de/2257.html (16. Januar 2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 5 sparungen zu erzielen. Auch kirchliche Einrichtungen sind hiervon nicht ausgenommen. Bedingt durch den Rückgang kirchlicher und öffentlicher Mittel, den erhöhten Wettbewerbsdruck sowie verschiedene sozialpolitische Veränderungen stehen auch sie unter dem Druck, ihre Rahmenbedingungen für Dienste und Einrichtungen anzupassen. Wie in der Arbeitswelt insgesamt, wurden auch dort betriebliche Ausgründungen („Outsourcing“) sowie der Einsatz von Leiharbeitnehmern als Instrumente des Kostenmanagements intensiviert, häufig um den starken Kostenpunkt Personal deutlich senken zu können. Diese und ähnliche Maßnahmen sind in allen Wohlfahrtsverbänden verbreitet. Unter diesen steht jedoch aufgrund der Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts allein den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden ein weiteres „diakoniespezifisches Instrument des Kostenmanagements“ zur Verfügung, das diese auch nutzen. (BÖCKLER 2012: 80). Die Rechtslage bezüglich der vom BetrVG vorgesehenen Ausnahmen für die kirchlichen Einrichtungen ist grundsätzlich weiterhin eindeutig. Allerdings haben die vielfältigen Umstrukturierungen der Betriebe, die zum Teil zur Bildung von kirchlich-weltlichen Mischbetrieben oder zur Umwandlung ehemals weltlicher in kirchliche Betriebe (oder umgekehrt) führten, die Arbeitsgerichte in den letzten Jahren beschäftigt. Denn entscheidend für die Frage, ob in einem Betrieb das allgemeine Arbeitsrecht – und somit das BetrVG – oder das kirchliche Arbeitsrecht gilt, ist die Zuordnung des Betriebes in den einen oder anderen Bereich. Dennoch wird nicht mehr nur von gewerkschaftlicher Seite der Fortbestand der kirchlichen Privilegien grundsätzlich in Frage gestellt, gerade im Bereich der sozialen Dienste. Begründet wird dies unter anderem damit, dass die kirchlichen Wohlfahrtsverbände heute „in derselben Weise finanziert [werden], wie andere freie Träger auch.“ Zwar würden „die Kirchen für sich in Anspruch nehmen, mit den von ihnen betriebenen Sozialeinrichtungen der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, während sie tatsächlich die Dienste nur organisieren, aber nur zu einem geringen Teil selbst bezahlen.“3 Vor diesem Hintergrund sind Forderungen laut geworden, die betriebsverfassungsrechtliche Privilegierung von Betrieben in kirchlicher Trägerschaft nach § 118 BetrVG künftig an die Bedingung zu knüpfen, dass sie mehrheitlich vom jeweiligen Träger finanziert werden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2012). Die folgende Untersuchung widmet sich zunächst den juristischen Aspekten der Klassifizierung kirchlicher Betriebe als Tendenzbetriebe im Sinne des BetrVG, wobei insbesondere den durch die Rechtsprechung entwickelten Kriterien für die Zuordnung von Betrieben in den Bereich des kirchlichen bzw. weltlichen Arbeitsrechts Bedeutung zukommt. Daran anschließend werden Informationen zu den Modernisierungsprozessen bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden und insbesondere zu den finanziellen Grundlagen ihrer Arbeit gegeben. 2. Das kirchliche Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht Beiden großen Kirchen in Deutschland wird gemäß Art. 140 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV) ein Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht garantiert. Dies ist die Rechtsgrundlage für ein kirchliches Arbeitsrecht, das kirchli- 3 Vgl. „Die Caritas-Legende“, S. 1. Im Internet unter: http://www.kirchensteuer.de/node/83 (20. Dezember 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 6 chen Arbeitnehmern individuelle Loyalitätspflichten auferlegen kann und im kollektiven Arbeitsrecht einen Sonderweg, den sog. Dritten Weg geht. Danach ist es den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gestattet, „ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten “. Garantiert wird insoweit die „innere Gestaltungsfreiheit“. Die von Art. 137 WRV erfassten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben diesbezüglich das Recht, selbstbestimmt und ohne staatliche Aufsicht oder Bevormundung über ihre inneren Angelegenheiten zu entscheiden.4 Das aus Art. 137 Abs. 3 WRV abgeleitete Recht besteht unabhängig vom rechtlichen Status. Es kommt mithin nicht darauf an, ob eine Religionsgemeinschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft gemäß Art. 137 Abs. 5 WRV oder als privatrechtlicher Verein ausgestaltet ist. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ist insbesondere wegen der großen Anzahl abhängiger Beschäftigungsverhältnisse in den Kirchen und ihren Einrichtungen bedeutsam. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bezifferte die Zahl der Beschäftigten im Jahr 2011 auf gut 1,3 Millionen bei den beiden großen christlichen Kirchen Deutschlands einschließlich ihrer Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie.5 Von besonderer Bedeutung für den Dienst in der Kirche ist das christliche Leitbild der sog. Dienstgemeinschaft. Soweit sich Kirchen in ihrer Eigenschaft als Religionsgemeinschaften auf Art. 137 Abs. 3 WRV stützen, unterfallen auch ihre rechtlich selbständigen Untergliederungen – kirchennahe Einrichtungen und Vereinigungen – dem Selbstbestimmungsrecht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst es insgesamt „alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich frei ist, wenn die Einrichtungen nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück des Auftrags der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen“.6 Von praktischer Bedeutung ist das vor allem für kirchliche Krankenhäuser und die vielfältigen Dienste im sozialen Bereich. Solche karitativen Einrichtungen , die in der Regel als Rechtssubjekte des Privatrechts konstituiert werden, können indes das Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV nicht selbst (aus eigenem Recht) für sich in Anspruch nehmen. Trägerin dieser Gewährleistung ist allein die jeweilige Religionsgemeinschaft. Sie kann darüber befinden, inwieweit sie die rechtlich selbständigen, ihr materiell aber zugehörenden sozialen Werke am Selbstbestimmungsrecht teilhaben lassen möchte.7 4 KORIOTH in: Maunz/Dürig, Art. 137 WRV Rn. 17. 5 Vgl. STEFANIAK (2011). 6 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Oktober 1977 - 2 BvR 209/76. 7 KORIOTH in: Maunz/Dürig, Art. 137 WRV Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 7 3. Betriebsverfassungsrecht in kirchlichen Einrichtungen Das BetrVG regelt die Zusammenarbeit zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern des Betriebes. Dem Betrieb soll damit eine Ordnung gegeben werden, in der einerseits die berechtigten Belange der Belegschaft wie auch der einzelnen Arbeitnehmer geltend gemacht werden können und in der andererseits die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers im Grundsatz gewahrt bleibt. Der Grundgedanke ist dabei, dass Arbeitgeber und Betriebsrat gemeinsam mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen vertrauensvoll zusammenarbeiten – zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebs. Das BetrVG lässt die Arbeitnehmer an Entscheidungen im Betrieb teilhaben. Die Beteiligungsrechte der Beschäftigten erstrecken sich praktisch auf das gesamte betriebliche Geschehen und betreffen soziale, personelle und wirtschaftliche Angelegenheiten. Sie gliedern sich in Mitbestimmungsrechte und Mitwirkungsrechte. Hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht, kann der Arbeitgeber nur dann entscheiden und handeln, wenn der Betriebsrat zustimmt. Wenn der Betriebsrat lediglich ein Mitwirkungsrecht hat, muss der Arbeitgeber den Betriebsrat lediglich informieren , ihn anhören oder die entsprechenden Angelegenheiten mit ihm beraten. Betriebsräte sind grundsätzlich in allen Betrieben privatrechtlicher Rechtsträger (z.B. Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Aktiengesellschaft, Gesellschaft bürgerlichen Rechts) mit in der Regel mindestens fünf ständigen und für die Wahl des Betriebsrats wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, zu wählen (§ 1 BetrVG). Für sog. Tendenzbetriebe, die die in § 118 Abs. 1 BetrVG aufgeführten geistig-ideellen Zielsetzungen verfolgen, sind die Vorschriften des BetrVG nicht anwendbar, soweit die Eigenart des Unternehmens oder des Betriebes dem entgegensteht.8 Für Religionsgemeinschaften statuiert § 118 Abs. 2 BetrVG, dass das BetrVG insgesamt nicht zur Anwendung kommt. § 118 BetrVG schafft so einen Ausgleich zwischen grundgesetzlichen Freiheitsrechten (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 4 GG, Art. 5 GG, Art. 9 Abs. 3 GG) und dem sozialstaatlichen Erfordernis der Mitbestimmung.9 3.1. Bereichsausnahme für Religionsgemeinschaften Nach § 118 Abs. 2 BetrVG sind Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen als Folge ihres durch Art. 140 GG i.V.m. § 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts vom Anwendungsbereich des BetrVG ausgenommen. Das BetrVG entspreche damit nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) den verfassungsrechtlichen Geboten , den „Religionsgesellschaften“ die selbständige Regelung ihrer Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu gewährleisten. Durch diese Ausnahme erweise sich das BetrVG gleichzeitig auch nicht als ein für alle geltendes Gesetz i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV.10 8 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Übersicht über das Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 378 Rn. 33. 9 WERNER in: Beck'scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG; BT-Drs. 6/2729 S. 17. 10 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Oktober 1977 – 2 BvR 209/76. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 8 Der Begriff der Religionsgemeinschaft in § 118 Abs. 2 BetrVG ist ebenso zu verstehen wie der Begriff der Religionsgesellschaft i.S.d. Art. 137 Abs. 3 WRV.11 Religionsgemeinschaften sind danach alle Glaubensgemeinschaften weltanschaulicher Art, also nicht lediglich die christlichen Kirchen, sondern z.B. auch der Islam, das Judentum und auch Weltanschauungsgemeinschaften ohne religiösen Bezug.12 Zu seinem Kern zählt aber der „Glaube“ an ein außermenschliches Sein oder eine außermenschliche Kraft. Demgegenüber ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) die Scientology-Kirche keine Religionsgemeinschaft.13 Von § 118 Abs. 2 BetrVG wird der gesamte Verwaltungsapparat aller Dienststellen unabhängig von deren Rechtsform und Selbständigkeit erfasst. Andere als karitative und erzieherische Einrichtungen können wegen deren ausdrücklicher Benennung in Abs. 2 nicht unter den Begriff der Religionsgemeinschaften gefasst werden. Sie können aber, sofern sie konfessionellen Bestimmungen dienen, unter den Begriff des Tendenzbetriebes in § 118 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG subsumiert werden.14 Besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang die Frage, wann ein bestimmter Betrieb als karitative oder erzieherische Einrichtung der Kirche gilt. Trotz ausdrücklicher gesetzlicher Beschränkung auf diese Arten von Einrichtungen wird die exakte Zuordnung einer Einrichtung zu einer Religionsgemeinschaft durch die teilweise als „weitgehend uferlose“ bezeichnete Definition des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften verwässert.15 Ob nämlich eine Einrichtung als karitativ anzusehen ist, ist nicht nur nach den Kriterien des Abs. 1 festzustellen, sondern bestimmt sich auch maßgeblich nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft .16 Nach Auffassung des BAG gehört auch die Definition dessen, was karitativ oder erzieherisch ist, zum verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften . Das Selbstverwaltungsrecht beziehe sich auch auf die Entscheidung, in welcher Weise die Kirche in der Welt tätig werden will. Entscheidend sei, ob die Einrichtung auf Grund ihrer Aufgabenstellung und Zwecksetzung nach dem Verständnis der Kirche als karitativ anzusehen ist.17 Auf die Rechtsform der Einrichtung kommt es dabei nach der Rechtsprechung des BAG nicht an. So fällt auch ein rechtlich selbständiger evangelischer Presseverband unter Abs. 2,18 ebenso eine Wohnungsbau- und -verwaltungsgesellschaft, wenn ihre konkrete Betätigung dem kirchlichen Selbstverständnis entspricht.19 11 LAKIES in: Düwell, Betriebsverfassungsgesetz, § 118 BetrVG Rn. 39. 12 WERNER in: Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG, Rn. 20 m.w.N. 13 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 22. März 1995 – 5 AzB 21/94. 14 THÜSING in: Richardi, Betriebserfassungsgesetz, § 118 BetrVG Rn. 203. 15 KANIA in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 32. 16 LUNK in: NomosKommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 67. 17 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23. Oktober 2002 – 7 ABR 59/01. 18 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24. Juli 1991 – 7 ABR 34/90. 19 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23. Oktober 2002 – 7 ABR 59/0. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 9 Die Feststellung einer Zuordnung zu einer Religionsgemeinschaft machte die Rechtsprechung früher davon abhängig, ob die Einrichtung unter Verwaltung und Aufsicht kirchlicher Organe stand. Später ließ sie es genügen, dass die Gemeinschaft nach ihrem Selbstverständnis die Einrichtung als ihr zugehörig begriff.20 Heute entspricht es der allgemeinen arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, dass für die Zuordnung eine zweistufige Prüfung durchzuführen ist: Geprüft wird zum einen, ob eine Zuordnung besteht, und zum anderen, ob darüber hinaus ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeiten seitens der Religionsgemeinschaft besteht. Das BAG führt dazu in seiner Entscheidung vom 5. Dezember 2007 Folgendes aus: „Die Zuordnung im Sinne des § 118 Abs. 2 BetrVG setzt eine institutionelle Verbindung zwischen der Kirche und der Einrichtung voraus, auf Grund derer die Kirche über ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeiten verfügt, um auf Dauer eine Übereinstimmung der religiösen Betätigung der Einrichtung mit kirchlichen Vorstellungen gewährleisten zu können.“21 Dieser Einfluss der Religionsgemeinschaft bedarf allerdings keiner satzungsmäßigen Absicherung . Jedoch muss die Religionsgemeinschaft in der Lage sein, einen etwaigen Dissens in religiösen Angelegenheiten zwischen ihr und der Einrichtung unterbinden zu können.22 Indizien für eine organisatorische Zuordnung können die kirchliche Trägerschaft oder die Verantwortlichkeit leitender Personen gegenüber der Amtskirche sein. Die Mitgliedschaft einer Einrichtung im Diakonischen Werk der Religionsgemeinschaft allein vermag die erforderliche Einflussnahmemöglichkeit nicht zu begründen.23 Die Frage der Finanzierung hat hier – soweit ersichtlich – in arbeitsgerichtlichen Verfahren keine maßgebliche Rolle gespielt. Zwar wird vereinzelt in der Literatur eine Finanzierung und/oder Haftungsfreistellung durch die Religionsgemeinschaft als Indiz für eine organisatorische Zuordnung herangezogen.24 Hieraus dürfte gleichwohl nicht der Umkehrschluss zu ziehen sein, dass eine fehlende Finanzierung durch die Religionsgemeinschaft eine Zuordnung ausschließt. Hervorzuheben ist, dass der Ausnahmetatbestand des § 118 Abs. 2 BetrVG nicht die öffentlichrechtlich organisierten Kirchen selbst umfasst. Diese werden bereits durch § 130 BetrVG aus dem Anwendungsbereich des BetrVG ausgeschlossen.25 Die Bereichsausklammerung des § 118 Abs. 2 BetrVG betrifft daher neben den privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften vor allem die in privatrechtlicher Form verselbständigten karitativen und erzieherischen Einrichtungen der Kirchen.26 20 KANIA in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 33 m.w.N. 21 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 5. Dezember2007 – 7 ABR 72/06. 22 Vgl. umfassend RICHARDI, Arbeitsrecht in der Kirche, § 16 Rn. 15 – 64. 23 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 5. Dezember 2007 – 7 ABR 72/06, wonach die Religionsgemeinschaft zumindest über eine inhaltliche und personelle Einflussmöglichkeit auf das Diakonische Werk verfügen muss, die sich über dessen Satzung auf dessen Mitglieder fortsetzt. 24 LUNK in: NomosKommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 68. 25 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 30. Juli 1987 – 6 ABR 78/85. 26 THÜSING in: Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, § 118 BetrVG Rn. 196. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 10 3.2. Einschränkungen für Tendenzbetriebe Zwar hat die Zuordnung zu § 118 Abs. 2 BetrVG die weitaus größte Bedeutung. Soweit nach den oben unter 3.1 geschilderten Grundsätzen eine Einrichtung nicht als karitativ oder erzieherisch bezeichnet werden kann oder eine Zuordnung der Einrichtung zur Religionsgemeinschaft nicht möglich erscheint, kommt eine Einordnung als Tendenzbetrieb im Sinne des § 118 Abs. 1 BetrVG in Betracht, die unter Wahrung des besonderen Schutzbedürfnisses für die konfessionellen und karitativen Zielsetzungen eine eingeschränkte Anwendung der Bestimmungen des BetrVG zur Folge hat. 3.2.1. Tendenzbetriebe27 Das Gesetz definiert Tendenzbetriebe als „Unternehmen und Betriebe, die unmittelbar und überwiegend politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung, auf die Art. 5 Abs. 1 S. 2 des Grundgesetzes Anwendung findet, dienen“ (§ 118 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Der Katalog der Tendenzen ist abschließend.28 Es handelt sich dabei also um Betriebe oder Unternehmen, deren geistig-ideelle Zielsetzung als besonders schutzwürdig angesehen wird. Dabei kann nach der Rechtsprechung des BAG neben ideellen Zielen auch ein Erwerbszweck verfolgt werden. Für Betriebe allerdings, die karitative Zwecke verfolgen, sind insoweit nur kostendeckende Einnahmen mit dem Tendenzschutz vereinbar.29 Ein Tendenzbetrieb muss einem oder mehreren der in § 118 Abs. 1 S. 1 BetrVG genannten Zwecken unmittelbar dienen. Hierfür muss der Unternehmenszweck selbst auf die Tendenz ausgerichtet sein. Die Rechtsform des Trägers des Betriebes ist auch hier unerheblich, vielmehr ist allein die Art des Unternehmens maßgeblich.30 Die geschützte Tendenz muss zudem „überwiegend“ verwirklicht werden. Die Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals wird insbesondere bei sog. Mischbetrieben relevant. Nach heute überwiegender Ansicht wird darauf abgestellt, in welcher Größenordnung ein Unternehmen seine personellen und sonstigen Mittel zur Verwirklichung seiner tendenzgeschützten und nicht geschützten Ziele regelmäßig einsetzt (sog. quantitativ-numerische Prüfung).31 Ein quantitatives Überwiegen des tendenzbezogenen Mitteleinsatzes führt zur Anerkennung des Tendenzschutzes.32 27 Die Ausführungen zu dem Punkt 3.1 folgen im Wesentlichen KANIA in: Erfurter Kommentar, § 118 BetrVG Rn. 1-11; vgl. dort zahlreiche Nachweise aus der Rechtsprechung, vgl. dazu ausführlich auch THÜSING in: Richardi, § 118 BetrVG Rn. 47-75 sowie 96-103 m.w.N. 28 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 ABR 28/98. 29 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 8. November 1988 – 1 ABR 17/87. 30 WERNER in: Beck'scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 3. 31 LUNK in: NomosKommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 10. 32 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 15. März 2006 – 7 ABR 24/05. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 11 3.2.1.1. Konfessionelle Zielsetzungen Einer genauen Abgrenzung bedürfen wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen von § 118 Abs. 1 und Abs. 2 BetrVG die konfessionellen Bestimmungen dienenden Unternehmen und Betriebe. Zunächst scheiden im Rahmen des Abs. 1 alle Einrichtungen aus, die von Abs. 2 erfasst werden. Der somit verbleibende, geringe Anwendungsbereich der konfessionellen Bestimmungen beschränkt sich daher auf Einrichtungen, deren Wertstreben auf das Einstehen für einen Glauben gerichtet ist und die gegenüber der Kirche selbständig sind bzw. nach kirchlichem Selbstverständnis keine Einrichtungen der Kirche darstellen.33 In Betracht kommen insoweit konfessionell orientierte Frauen- und Jugendverbände, Vereine zur Missionsförderung und konfessionelle Eheanbahnungsinstitute . Die Betriebe der Caritas und der Inneren Mission fallen unter Abs. 2.34 Es gilt ein weiter Konfessionsbegriff, der nach herrschender Meinung auch Einrichtungen wie die christlichen Pfadfinderschaften oder Vereinigungen von Freidenkern und Anthroposophen erfasst .35 Die Entscheidung darüber, ob eine Einrichtung Abs. 1 oder Abs. 2 zugeordnet werden kann, bleibt letztlich eine Frage des Einzelfalls, über die die Arbeitsgerichte zu entscheiden haben. 3.2.1.2. Karitative Zielsetzungen Karitativen Bestimmungen dient ein Unternehmen stets dann, wenn „es sich mit seiner Aufgabe die Hilfe am körperlich, geistig und seelisch leidenden Menschen zum Ziel gesetzt hat, seine Tätigkeit auf die Heilung oder Minderung oder vorbeugende Abwehr der inneren oder äußeren Nöte solcher Hilfsbedürftiger gerichtet ist“.36 Erforderlich ist nicht, dass die Hilfeleistung unentgeltlich erfolgt. Kostendeckende Einnahmen dürfen erzielt werden. Unerheblich ist nach der Rechtsprechung des BAG37, wer rechtlich oder wirtschaftlich an dem Unternehmen beteiligt ist oder einen beherrschenden Einfluss ausübt. Karitative Unternehmen sind demzufolge beispielsweise Wohlfahrtseinrichtungen wie das Deutsche Rote Kreuz oder die Arbeiterwohlfahrt unter den oben dargelegten Voraussetzungen. Der Bereich des § 118 Abs. 2 BetrVG ist weiter zu verstehen als der des Abs. 1, weil der Grund der Herausnahme der karitativen Einrichtungen der Kirchen aus dem Anwendungsbereich des BetrVG nicht im Tendenzschutz von Erziehung und Caritas liegt, denn dieser Schutz rechtfertigt, wie Abs. 1 zeigt, nicht die völlige Freistellung, sondern nur die modifizierte Anwendung des 33 THÜSING in: Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, § 118 BetrVG Rn. 56. 34 THÜSING in: Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, § 118 BetrVG Rn. 56. 35 LUNK in: NomosKommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 15. 36 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29. Juni 1988 – 7 ABR 15/87; Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 15. März 2006 – 7 ABR 24/05. 37 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29. Juni 1988 – 7 ABR 15/87. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 12 Gesetzes. Grund zur Freistellung ist vielmehr die verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmung der Kirchen.38 3.2.2. Tendenzschutz Auch in den Betrieben, die unter den Tendenzschutz fallen, können Betriebsräte gebildet werden . Die gesetzlichen Kompetenzen der Betriebsräte sind jedoch, wie sich aus § 118 Abs. 1 S. 1 und S. 2 BetrVG ergibt, teilweise eingeschränkt oder gar nicht gegeben.39 Hier ist eine nach den unterschiedlichen Beteiligungsrechten differenzierte Betrachtung angezeigt. 3.2.2.1. Absoluter Ausschluss Dient ein Tendenzunternehmen einem Tendenzzweck, sind gemäß § 118 Abs. 1 S. 2, 1. Hs. Betr VG die Vorschriften über den Wirtschaftsausschuss (§§ 106 – 110 BetrVG) nicht anzuwenden. Damit entfällt die Pflicht zur Errichtung eines Wirtschaftsausschusses und zur Unterrichtung der Arbeitnehmer über die wirtschaftliche Lage und Entwicklung des Unternehmens. Die nach § 43 Abs. 2 S. 3 BetrVG bestehende Verpflichtung zur Erstattung eines Jahresberichts bleibt dagegen uneingeschränkt bestehen.40 3.2.2.2. Teilweiser Ausschluss Die Beteiligungsrechte bei Betriebsänderungen (§§ 111 – 113 BetrVG) sind gemäß § 118 Abs. 1 S. 2, 2. Hs. BetrVG nur beschränkt anwendbar. Soweit es sich um die unternehmerische Entscheidung über die Betriebsordnung handelt, ist der Betriebsrat von Beteiligungsrechten ausgeschlossen ; insoweit hat der Freiheitsspielraum des Unternehmers den Vorrang. Dagegen stehen dem Betriebsrat Beteiligungsrechte zu, soweit es sich um die Regelung des Ausgleichs oder um die Milderung wirtschaftlicher Nachteile für die Arbeitnehmer infolge der Betriebsänderung handelt (§ 112 Abs. 4 BetrVG).41 3.2.2.3. Relativer Ausschluss der übrigen Vorschriften Die übrigen Vorschriften des BetrVG finden gemäß § 118 Abs. 1 S. 1 BetrVG keine Anwendung, „soweit die Eigenart des Unternehmens oder des Betriebs dem entgegensteht“. Diese sog. Eigenartsklausel ermöglicht eine tendenzrelative Anwendung der betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften , indem sie die Möglichkeit offenhält, zum einen bestimmte Vorschriften uneingeschränkt bestehen zu lassen und zum anderen Regelungen nur teilweise anzuwenden. Unter den genannten Voraussetzungen können u.a. die folgenden Regelungsbereiche des BetrVG eingeschränkt sein: 38 Landesarbeitsgericht Hamburg, Beschluss vom 15. Februar 2007 – 7 TaBV 9/06; Landesarbeitsgericht Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 26 TaBV 843/10. 39 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Übersicht über das Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 379 Rn. 37. 40 WERNER in: Beck'scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, § 118 BetrVG Rn. 14. 41 KOCH in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, § 214 Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 13 – Allgemeine Vorschriften der Mitwirkung und Mitbestimmung, §§ 74-80, 81-86 BetrVG – Soziale Angelegenheiten, §§ 87-89 BetrVG – Personelle Angelegenheiten, §§ 92-105 BetrVG Zur Feststellung, ob eine Vorschrift der Eigenart des Tendenzbetriebs entgegensteht, wird die sog. Maßnahmetheorie herangezogen. Danach ist erforderlich, dass ein Tendenzträger betroffen ist und die Maßnahme einen Tendenzbezug aufweist, also aus tendenzbedingten Gründen erfolgt. 3.3. Zwischenfazit Als Ausfluss des verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltungsrechts bestimmen die Religionsgemeinschaften weitgehend selbst, ob eine Einrichtung als karitativ anzusehen ist. Die Rechtsform der Einrichtung ist unerheblich. Jedoch ist ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeiten erforderlich, eine satzungsmäßige Absicherung mag häufig vorliegen, ist jedoch fakultativ. Der Aspekt der Finanzierung der Arbeit einer Einrichtung dürfte für sich genommen als unzureichender Ansatzpunkt für eine organisatorische Zuordnung anzusehen sein. Zwar kann der Finanzierung durch die Religionsgemeinschaft indizielle Bedeutung für eine Zuordnung zukommen ; daraus darf jedoch nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass eine fehlende Finanzierung durch die Religionsgemeinschaft eine Zuordnung ausschließt. 4. Exkurs: Mitarbeitervertretungsrecht der Kirchen Hervorzuheben ist, dass Mitarbeitern in kirchlichen Einrichtungen, für die nach § 118 Abs. 2 BetrVG die Anwendbarkeit des BetrVG ausgeschlossen ist, eine Teilhabe an sie betreffenden betrieblichen Entscheidungen nicht völlig verwehrt ist. Vielmehr haben auch die Kirchen zu diesem Zweck eigene Regelungen zum Mitarbeitervertretungsrecht geschaffen.42 Die kirchlichen Mitarbeitervertretungsordnungen stellen sich als autonome Regelungen dar, die entsprechend dem Selbstverständnis der Kirchen auszulegen sind. In Bezug auf die Beteiligungsrechte der Mitarbeitervertretung lässt sich in der Gesamtschau feststellen, dass sie im Wesentlichen äquivalente Regelungen zum BetrVG in dem Umfang darstellen, wie dieses unter Berücksichtigung des Tendenzschutzes nach § 118 Abs. 1 Anwendung findet.43, 44 42 Zur Frage einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Kirchen zur Schaffung von Regelungen der Mitarbeitervertretung vgl. SCHIELKE (2007) S. 76 ff. 43 BAUMANN-CZICHON/GATHMANN (2006) S. 57. 44 Einen kursorischen Vergleich der Mitarbeitervertretungsordnungen der Kirchen mit dem BetrVG bietet , (2012): Die Beteiligungsrechte der Mitarbeitervertretungen nach kirchlichem Arbeitsrecht und Betriebsverfassungsrecht . Vergleich der Regelungen der Rahmenordnung der Deutschen Bischofskonferenz für eine Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO), des Kirchengesetzes über Mitarbeitervertretungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (MVG.EKD) und des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Ausarbeitung WD 6 - 3000- 053/12 vom 7. Juni 2012. Berlin: Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste (unveröffentlicht). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 14 5. Zu den veränderten Rahmenbedingungen der Arbeit kirchlicher Wohlfahrtsverbände – Die Kooperation von Staat und freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Gewichtung der Anteile der öffentlichen Hand einerseits und der kirchlichen Träger andererseits an der Finanzierung sozialer Dienste. Dies führt zunächst zu der grundsätzlichen Frage, in welcher Weise und aus welchen Motiven Staat und Wohlfahrtsverbände auf dem Gebiet der Sozialpolitik miteinander kooperieren, denn bezüglich der öffentlichen Finanzierung der von ihnen erbrachten sozialen Leistungen sind alle freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbände45 gleichgestellt. Grundlegend für diese Betrachtung ist die Bedeutung des Grundsatzes der Subsidiarität im Bereich öffentlicher Aufgaben. 5.1. Der Grundsatz der Subsidiarität im Bereich öffentlicher Aufgaben Die Bundesrepublik ist in ihrer Grundstruktur subsidiär verfasst, wenn auch der Grundsatz der Subsidiarität im Grundgesetz erst im Jahr 1993 mit der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG ausdrücklich Erwähnung fand (ISENSEE 2002: 130). Das heißt, dass in einem mehrstufigen Gemeinwesen, dessen Handlungsebenen auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet sind, „der unteren Ebene [im Prinzip] der Vorrang im Handeln zu[kommt], wenn und insoweit sie ihrer Aufgabe gewachsen ist und sie diese auch angemessen erfüllt.“ (ISENSEE 2002: 147). Im Bereich der Sozialpolitik erlangte das Subsidiaritätsprinzip öffentliche Aufmerksamkeit und Bedeutung , als der Gesetzgeber 1961 unter Berufung auf diesen Grundsatz im neuen Bundessozialhilfegesetz den Vorrang der freien Träger in der Jugend- und Sozialhilfe vor den öffentlichen festlegte. Vom Bundesverfassungsgericht wurde dieses Gesetz sechs Jahre später im Wesentlichen bestätigt (ISENSEE 2002: 129). In einem der Leitsätze dieser im Kurztitel als „Sozialhilfe-Urteil“ bezeichneten Entscheidung fasst das Gericht die eingeschränkte Rolle des Staates bei der Umsetzung der von ihm formulierten Sozialpolitik zusammen: „Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Es besagt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber für die Verwirklichung dieses Ziels nur behördliche Maßnahmen vorsehen darf; es steht ihm frei, dafür auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorzusehen.“46 Dabei ist zwischen staatlichen Aufgaben im engeren Sinne und dem - weiteren - Begriff der öffentlichen Aufgaben zu unterscheiden. Eine öffentliche Aufgabe bezeichnet „eine Tätigkeit, die im Allgemeininteresse liegt, Gemeinwohlziele verwirklicht und daher nicht (…) nach Belieben erbracht oder nicht erbracht werden kann, sondern eine öffentliche Leistungsverpflichtung darstellt , die eine ganz konkrete Erfüllung gebietet.“ Wesentlich sind dabei unter anderem bestimmte Kriterien der Erfüllung wie Nachhaltigkeit der Leistungserbringung, Zurücktreten des Gewinninteresses , Allgemeinzugänglichkeit usw. Dabei spielen organisatorische Erwägungen keine Rolle : „Wer auch immer diese Aufgabe – gleichgültig in welcher Rechtsform – erfüllt, erfüllt die betreffende öffentliche Aufgabe“ (PERNTHALER 2002: 186). 45 Dazu zählen: die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz, das Diakonische Werk sowie die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. 46 Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 18. Juli 1967, BVerfGE 22, 180. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 15 Indem der Staat die Erfüllung öffentlicher Aufgaben anderen gesellschaftlichen Akteuren überlässt , kann er sich jedoch nicht der grundsätzlichen Verantwortung für deren Erfüllung entledigen , denn „die Verfassung [lässt] eine Ausgliederung öffentlicher Aufgaben nicht als einseitigen Prozess der Verselbständigung und Entstaatlichung zu, sondern [setzt] ihre Einbindung in ein staatsübergreifendes System der öffentlichen Aufgabenerfüllung (…) voraus (PERNTHALER 2002: 197). Das (Allgemein-) Interesse an der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe kann staatlicherseits durch eine teilweise oder vollständige Kostenerstattung oder durch die Formulierung von Auflagen wie z.B. Qualitätsstandards oder Leistungsverpflichtungen zum Ausdruck kommen (PERNTHALER 2002: 187). Andere Ansätze teilen weniger die im Subsidiaritätsmodell betonte grundsätzliche Vorrangigkeit der Tätigkeit freier Wohlfahrtsverbände, sondern gehen von einem Steuerungsanspruch des Staates in der Sozialpolitik aus. In der deutschen Verfassungspraxis hat sich jedoch ein „vermittelndes Modell der gegenseitigen Zuordnung von freien Wohlfahrtsverbänden und Staat“ herausgebildet (DELBRÜCK 1995: 30). Dieses findet seine „verfassungsdogmatische Grundlage in der Verknüpfung der Staatsleitprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit unter dem verfassungsrechtlichen Leitbild des freiheitlichen Sozialstaates“. Daraus ist DELBRÜCK folgend im Sektor sozialpflegerischer Tätigkeit operativ ein kooperatives Nebeneinander der Akteure Staat und Wohlfahrtsverbände abzuleiten: „Das bedeutet weiter, dass die verfassungsrechtliche Ordnung zwar keine effektive Bestandsgarantie für die Freien Wohlfahrtsverbände enthält, der Staat jedoch gehindert ist, die Verbände aus ihrem Tätigkeitsfeld zu verdrängen, und im Interesse der Wahrung von Freiheitlichkeit und Pluralität des Sozialstaates gehalten ist, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Wohlfahrtsverbände so weit wie nur möglich zu respektieren, also dort, wo diese Verbände die anstehenden Aufgaben sinnvoll erfüllen können, die staatliche Aktivität zu beschränken.“ (DELBRÜCK 1995: 31). 5.2. Das traditionelle deutsche Sozialstaatsmodell Auf dem Grundsatz der Subsidiarität aufbauend bildete sich in Deutschland ein „subsidiärkorporatistisch ausgestaltetes Sozialsystem“, in dem vorstaatlichen Organisationen bzw. den organisierten Interessen eine "intermediäre" Stellung zwischen Individuum und Staat zukommt. Das deutsche Modell des Sozialstaats nahm damit zwischen dem „liberal-angelsächsischen Modell eingeschränkter politischer Wohlfahrtsverantwortung“ auf der einen Seite und dem „sozialdemokratisch -skandinavischen Modell ausschließlich staatlich organisierter sozialer Dienstleistungen “ auf der anderen Seite eine Mittelstellung ein (GABRIEL 2003: 2). Zu den Charakteristiken des deutschen Sozialstaatsmodells zählt die starke Stellung, die es „den Wohlfahrtsverbänden im intermediären Feld zwischen Staat, Markt und den traditionalen Sicherungsformen familialer Solidarität“ einräumt (GABRIEL 2003: 3). Dementsprechend hatten die freien Wohlfahrtsverbände gerade im Bereich sozialer Aufgaben bis in die 1980er Jahre eine tragende Rolle in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben inne und ermöglichten es dem Staat, „Beistand und Hilfe nichtstaatlich und weltanschaulich plural“ sicherzustellen (BROCKE 1999: 3). Dabei entstand in einigen Bereichen eine starke „Verquickung“ von Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 16 kirchlicher und staatlicher Tätigkeit47 und eine wechselseitige Abhängigkeit: „Die öffentlichen Träger sind auf die Leistungskapazitäten der freien Träger angewiesen, diese sind umgekehrt von der Finanzierung ihrer Leistungen durch Bund, Länder und Gemeinden sowie die Sozialversicherung abhängig.“ (BROCKE 1999: 5). Auch die Verschränkung der jeweiligen Rollen und Funktionen verdeutlicht die Intensität der Kooperation zwischen freien und öffentlichen Trägern. Der mit dem damals neuen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961 erstmals gesetzlich vorgeschriebene Vorrang der freien Träger in der Jugend- und Sozialhilfe wurde auf der anderen Seite faktisch durch Aufsichts- und Kontrollrechte seitens staatlicher Behörden eingeschränkt, führte jedoch auch zu einer Förderungspflicht des Staates gegenüber freien Trägern und Wohlfahrtsverbänden (BRAUNS 1995: 22). Interessant ist dabei vor allem die Tatsache, dass ein großer Teil der Leistungskapazitäten der freien Wohlfahrtsverbände im Zuge der starken Ausweitung des sozialstaatlichen Sektors in den 1960er und 1970er Jahren erst geschaffen wurde. Insbesondere die beiden kirchlichen Verbände Diakonie und Caritas konnten in dieser Zeit eine gewaltige Stellenexpansion verzeichnen und so erst zu den größten nicht-staatlichen Arbeitgebern deutschland- und europaweit werden. Diese Expansion ging keineswegs mit einer gesellschaftlichen Aufwertung von Kirche und christlicher Konfession einher, sondern hing – gegenläufig zu „Prozessen der gesellschaftlichen Entkonfessionalisierung und Entkirchlichung“ – mit der starken Ausweitung des Sozialstaates zusammen. Dessen Sozialleistungsumfang hat sich seit 1970 (…) auf heute (2009) 754,0 Mrd. € verneunfacht, und „daran hat die verbandliche Caritas wie alle anderen Wohlfahrtsverbände – bis zum Ende der 1980er Jahre über das sozialrechtlich garantierte Subsidiaritätsprinzip – partizipiert.“ Die schnelle Expansion der kirchlichen Verbände zu wesentlichen Trägern sozialer Aufgaben und zu den größten Arbeitgebern sei EBERTZ zufolge daher „nicht zuletzt Ausdruck einer Steuerung kirchlichen Organisationsgeschehens durch sozialstaatliche Interessen [gewesen]“ (EBERTZ 2011: 1). Dies führe auch zu der Frage, ob der kirchliche Wohlfahrtsverband durch die enge Verflechtung mit dem Staat nicht „unter eine fremde Logik“ gezwungen werde (EBERTZ 2011: 2).48 5.3. Wende in der Sozialpolitik ab den 1990er Jahren Spätestens seit den 1980er Jahren geriet der Wohlfahrtsstaat, der sich bis dahin herausgebildet hatte, in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern, unter Veränderungsdruck und war fortan von dem Ziel geleitet, „auf die bereits etablierten sozialpolitischen Einrichtungen im Sinne einer bestimmten Steuerungsintention“ einzuwirken. In dem bislang von der engen Verflechtung zwischen freien und öffentlichen Trägern bestimmten Sozialpolitik setzte nun eine Entwicklung der zunehmenden „marktorientierten Entstaatlichung“ ein, die EBERTZ als Sozialpolitik „zweiter Ordnung“ bezeichnet. Diese habe „nicht zuletzt auch zu einer politisch initiierten Überlagerung des rechtlich verankerten Subsidiaritätsprinzips durch die Einführung von Wirtschaftlichkeits - bzw. Wettbewerbsprinzipien geführt.“ (EBERTZ 2011: 3). 47 Eine solch tragende Rolle schreibt SCHULTZ den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie noch 1980 im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe zu: „Ohne sie könnte der Staat seiner sozialstaatlichen Verantwortung nur durch wesentlich erhöhte eigene Anstrengungen genügen.“ (SCHULTZ 1980: 461). 48 In diesem Sinne auch HERMANNS, der dem Staat über die Finanzierung eine bestimmende Rolle hinsichtlich der Bedingungen der Arbeit der freien Träger zuschreibt (HERMANNS 2001: 155). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 17 Dieser Prozess hatte auch eine Veränderung des ordnungspolitischen Status‘ der Wohlfahrtsverbände hin zu einer „Deprivilegierung“ zur Folge. Diese wurde deutlich in der Reform des BSHG im Jahr 1996, mit der die bis dahin bestehende (bedingte) Vorrangstellung der Träger freier Wohlfahrtsverbände relativiert wurde (§ 93 Abs. 1 BSHG).49 Fortan wurde von einer Gleichwertigkeit aller Träger von Einrichtungen und Diensten ohne Rücksicht auf ihre Trägerschaft ausgegangen, womit die freien Wohlfahrtsverbände als Träger den immer zahlreicheren privaten Trägern im sozialen Bereich gleichgestellt wurden. Entscheidend für die Auftragszuweisung ist allein die Höhe der im Leistungsvertrag festgesetzten Vergütung „bei gleichem Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung“, wobei „vorrangig“ die jeweils niedrigste Vergütungssumme zum Zuge kommen soll.50 Gleichzeitig wurden Finanzierungsregelungen geändert und das Selbstkostendeckungsprinzip früherer Zeiten durch Entgelte und Preise ersetzt. Daneben wird ein bedeutender Anteil der ambulanten und teilweise auch der stationären Dienstleistungen durch „Zuwendungen“ finanziert , die von Verbandspraktikern vor allem wegen der geringen Planungssicherheit, die der Finanzierung von Daueraufgaben entgegenstehe, kritisiert wird (BRAUNS 1995: 25). 5.4. Zur Finanzierung der Arbeit freigemeinnütziger Wohlfahrtsverbände Grundsätzlich besteht die Finanzierung freigemeinnütziger Tätigkeit aus drei großen Anteilen: den Eigenmitteln, den öffentlichen Zuwendungen und den Leistungsentgelten.51 Die Eigenmittel enthalten Einzelposten wie z.B. Mitglieds- und Förderbeiträge, Spenden, Wohlfahrtsmarken, Lotterien , Sammlungen, Stiftungen, Kirchensteuer, Kollekten sowie Erträge aus Nebenbetrieben und der Vermögensverwaltung (BRÜCKERS 1995: 63). Öffentliche Zuwendungen, die grundsätzlich projektbezogen gewährt werden, stellen zwar nur einen geringen Anteil der Finanzierung der Arbeit von Wohlfahrtsverbänden dar. Dennoch hat diese Art der Projektförderung offenbar einen ganz besonderen Nebeneffekt für die Verbände, bietet sie doch „Ansatzpunkte genug, um den staatlichen Einfluss überproportional zum finanziellen Anteil werden zu lassen. (…) Selbst mit einem 10%-Anteil unterliegt die gesamte Arbeit den Vorgaben der öffentlichen Verwaltung.“ (BRÜCKERS 1995: 63). Öffentliche Mittel fließen den Wohlfahrtsverbänden darüber hinaus in Form indirekter Hilfen zu. Dazu zählen Zuzahlungen für Zivildienstleistende52, die privaten Trägern nicht zur Verfügung stehen. Auch die Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an gemeinnützige Organisationen und die 49 § 93 Abs. 1 BSHG findet seine Entsprechung in § 75 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) XII. Auch das Pflegeversicherungsgesetz von 1994 stellt private Anbieter und Wohlfahrtsverbände in der Möglichkeit der Abrechnung ausdrücklich gleich (KLUG 1995: 36). 50 Die dieser Bestimmung des BSHG entsprechende Regelung findet sich in § 5 SGB XII. Erläuternd dazu SCHELL- HORN 2006: 60 Rn 6. 51 BRÜCKERS nennt zusätzlich als „vierte, wenngleich indirekte Form“ die steuerliche Subventionierung von Förderern und Spendern der Wohlfahrtsverbände. Dieser Anteil soll immerhin 10% des Aufkommens an Eigenmitteln ausmachen. (BRÜCKERS 1995: 62/63). 52 Hierfür veranschlagt eine Studie von Deutsche Bank Research ca. 330 Mio. € jährlich (DEUTSCHE BANK 2010: 6). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 18 Befreiungen von Gewerbe-, Körperschafts- und Umsatzsteuern zählen zu diesen indirekten staatlichen Hilfen.53 Den weitaus größten Finanzierungsanteil bilden die Leistungsentgelte für die Inanspruchnahme sozialer Dienste und Einrichtungen. Sie basieren – theoretisch – auf einer privatrechtlichen Vereinbarung zwischen dem Bezieher einer Dienstleistung und dem Leistungserbringer. In der Praxis handelt es sich häufig um eine Mischfinanzierung, da der Staat zunehmend selbst Leistungsansprüche der Bürgerinnen und Bürger geregelt hat, für deren Erfüllung die freie Wohlfahrtspflege die erforderlichen sozialen Einrichtungen und Dienste bereitstellt. Die öffentliche Hand tritt hier immer öfter in eine direkte vertragliche Beziehung zum Leistungserbringer (dem Wohlfahrtsverband ), was diesen dazu zwingt, sich den jeweiligen „bürokratischen Regulierungsmechanismen “ zu unterwerfen: „Garniert mit der Verrechnung von staatlichen Fördermitteln mit entsprechenden Pflegesatzerstattungen ist die Grundlage gelegt für eine Mischfinanzierung, die in der Öffentlichkeit – sogar in der Fachöffentlichkeit – den Eindruck der hohen Subventionsleistungen zugunsten Dritter erweckt. Da der öffentliche Kostenträger sich auch nicht scheut, in seinen Haushaltsplänen derartige Leistungen als Subvention darzustellen, erweckt er damit den falschen Eindruck, dass alles das, was aus öffentlichen Kassen kommt, auch eine öffentliche Zuwendung ist.“ (BRÜCKERS 1995: 63/64). Insgesamt haben die Wohlfahrtsverbände für die Verwaltung und Verausgabung der aus öffentlichen Kassen stammenden Mittel eine Vielzahl gesetzlicher Vorgaben zu beachten. Im Einzelnen sind dies die Abgabenordnung und die das Gemeinnützigkeitsrecht prägenden Vorschriften der Finanzverwaltung, das Haushaltsrecht der Länder und des Bundes, das Pflegesatzrecht mit den entsprechenden Verordnungen und das Handelsrecht. Die unumgängliche Inanspruchnahme aller drei beschriebenen Finanzierungsarten hat nicht nur insgesamt eine hohe Regelungsdichte zur Folge, sondern sie schafft durch Widersprüche zwischen einigen der Vorschriften zusätzliche Hürden für die Arbeit der Verbände. Hinzu kommen stetig steigende Qualitätsstandards und andere staatlicher Vorgaben. So führten allein die verschiedenen Änderungen des BSHG zu deutlichen Eingriffen in die Gestaltung der sozialen Dienstleistungen der freien Träger (KLUG 1995: 35). All dies bringt BRÜCKERS zu der ernüchternden Feststellung: „[D]iesem Gebräu aus betriebswirtschaftlichen Anforderungen, bürokratischer Regelungsdichte, Restriktionen finanzwirtschaftlicher Entscheidungsspielräume und wirtschaftliches Handeln konterkarierender Vorgaben ist kein anderer Träger des Wirtschaftslebens ausgesetzt.“ (BRÜCKERS 1995: 64). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wohlfahrtsverbände für ihre Leistungen zwar regelmäßig einen bedeutenden Anteil von finanziellen Mitteln durch staatliche Stellen erhalten. Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass es sich hierbei um staatliche Subventionen ohne entsprechend erbrachte Leistungen bzw. Aufwendungen handelt. Aufgrund der komplizierten und sich überlagernden Finanzierungssysteme müsste im Einzelfall genau geprüft werden, welcher der oben beschriebenen Positionen Mittel zuzuordnen wären. Überdies wäre zu berücksichtigen , dass die mit den Zahlungen verbundenen gesetzlichen Vorgaben (wie z.B. Qualifizierungsstandards für das Personal) wiederum erhebliche Auswirkungen auf Art, Umfang und Kostenintensität der jeweiligen Leistung haben. 53 Die Subventionshöhe von Körperschafts- und Gewerbesteuer für kirchliche, mildtätige und gemeinnützige Zwecke werden auf rund 220 Mio. €, die der Umsatzsteuer auf 250 Mio. € geschätzt (DEUTSCHE BANK 2010: 6). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 19 Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Finanzierungsmodalitäten für die sozialen Leistungen der freien Wohlfahrtsverbände treffen sowohl auf die kirchlichen wie die weltlichen Verbände zu. Im Unterschied zu letzteren erhalten kritische Fragen nach dem Ausmaß öffentlicher Zuschüsse für die kirchlichen Verbände jedoch durch die diesen zufließenden Kirchensteuern und die sogenannten „Staatsleistungen“54 eine zusätzliche Brisanz. 5.4.1. Finanzierung von Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft Hinsichtlich der Finanzierung der von ihnen erbrachten sozialen Dienste stehen die Kirchen seit Jahren unter kritischer Beobachtung. Zentral ist hierbei die Frage, in welchem Verhältnis die staatlichen Mittel zu den von den kirchlichen Verbänden selbst aufgebrachten finanziellen Mittel stehen. Hierzu hat sich der spätere Vizepräsident des deutschen Caritasverbandes Feldhoff in einem viel zitierten Artikel bereits 1990 geäußert: „Die meisten Sozialeinrichtungen „verdienen“ die Mittel, die sie benötigen, als Leistungsentgelte (beispielsweise über Pflegesätze), und die Finanzierung ihrer Dienste ist durch staatliche Kostenträger weithin gesetzlich geregelt.(…) Von den Leistungsentgelten zu unterscheiden sind die öffentlichen Zuschüsse des Bundes, der Länder und der Kommunen, mit denen die karitative Arbeit auch finanziert wird.“ (FELDHOFF 1990) Diese Grundlinien der Finanzierung ihrer sozialen Dienste sind heute noch zutreffend. Für den Bereich der katholischen Kirche bzw. der Caritas sind Details hierzu in den Haushaltsplänen der einzelnen Bistümer enthalten, die online zugänglich sind. Auch die evangelische Kirche unterstreicht auf ihrer eigens dazu eingerichteten Webseite die Bedeutung öffentlicher Mittel für „Leistungen, die der Allgemeinheit dienen“. „Hierfür erhalten die Kirchen Fördermittel und Zuschüsse von staatlichen und kommunalen Stellen sowie von anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften (…). Die Verwendung von kircheneigenen Mitteln im sozialen Bereich wird für Kindertagesstätten (17,7 %) und Diakoniestationen (1,2%) angegeben.55 Dagegen erhalten Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft für Investitionen oder den laufenden Betrieb keinerlei Eigenmittel der Kirchen, denn sie unterliegen den gleichen Finanzierungsbedingungen wie die Krankenhäuser anderer Träger. Gemäß § 4 Krankenhausfinanzierungsgesetz werden sie „dadurch wirtschaftlich gesichert, dass 1. ihre Investitionskosten im Wege öffentlicher Förderung übernommen werden und sie 2. leistungsgerechte Erlöse aus den Pflegesätzen, die nach Maßgabe dieses Gesetzes auch Investitionskosten enthalten können, sowie Vergütungen für vor- und nachstationäre Behandlung und für ambulantes Operieren erhalten.“ Eigenmittel der Kirchen würden in diesem Zusammenhang nur für freiwillige Zusatzeinrichtungen wie seelsorgerische Dienste oder beispielsweise die Unterhaltung einer Kapelle auf dem Krankenhausgelände zum Einsatz kommen. 54 Vgl. hierzu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages Nr. WD 10 3000 - 013/10 „Historische Aspekte der Staatsleistungen an die Kirchen gemäß Art. 140 Grundgesetz“. 55 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland. Kirchensteuern und Finanzen. Im Internet unter: http://www.ekd.de/download/kirchensteuern_und_finanzen.pdf (16. Januar 2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 20 5.5. Gestaltung und Folgen des Modernisierungsprozesses durch die Wohlfahrtsverbände In Reaktion auf den veränderten sozialpolitischen Kurs seit den 1990er Jahren und verstärkt durch parallel laufende gesellschaftliche Entwicklungen56, haben die Träger und Einrichtungen im Sozialsektor einen intensiven Modernisierungsprozess initiiert, der darauf zielte, „aus weltanschaulich und sozialpolitisch begründeten gemeinnützigen Organisationen sozialwirtschaftliche Leistungserbringer zu formen“. Sie haben nunmehr professionelle Dienstleistungen zu erbringen, deren Ergebnisse unter allgemeinen Effektivitäts- und Effizienzkriterien darstellbar ist (BÖCKLER 2012: 24). Dies führte häufig dazu, dass Ihr Wirken nicht mehr in erster Linie von der Umsetzung eines bestimmten Menschenbildes, sozialen Anspruchs oder karitativer Ideale bestimmt war, sondern vielmehr der Erbringung professioneller und auf dem sozialen Markt konkurrenzfähiger Dienstleistungen diente (BÖCKLER 2012: 25). In der praktischen Umsetzung führte dies unter anderem zu folgenden Entwicklungen bei den freigemeinnützigen Trägern: die Einführung einer neuen „Geschäftsfeldpolitik“, die die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den verbandlichen Territorialgliederungen ablöst; die Aufgabe des Territorialprinzips durch Fusionen und Konzentrationsprozesse hin zu kapitalstarken, überregional agierenden Anbietern; Ausgliederungen von Betrieben oder Betriebsbestandteilen mit der Bildung rechtlich selbständiger Einheiten außerhalb der Verbandsstruktur sowie die Nutzung von Leiharbeit (BÖCKLER 2012: 25-27). Diese Entwicklungen sind bei allen Wohlfahrtsverbänden bzw. im Sozialsektor insgesamt zu beobachten, jedoch haben sie aufgrund der ethischen Implikationen im Bereich der kirchlichen Verbände eine besonders hohe öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. 6. Rechtliche Wertung und Fazit Den Kirchen in Deutschland steht ein verfassungsrechtlich garantiertes Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht zu, wonach Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften das Recht haben, selbstbestimmt und ohne staatliche Aufsicht ihre inneren Angelegenheiten zu regeln. Dem Selbstbestimmungsrecht unterfallen auch die rechtlich selbständigen Untergliederungen – kirchennahe Einrichtungen und Vereinigungen. Nach § 118 Abs. 2 BetrVG sind Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen vom Anwendungsbereich des BetrVG ausgenommen. Die im Einzelfall relevant werdende Frage, ob eine Einrichtung unter § 118 Abs. 2 BetrVG fällt, ist häufig schwierig zu entscheiden. Die Religionsgemeinschaften bestimmen weitgehend selbst, ob eine Einrichtung als karitativ anzusehen ist. Die Rechtsform der Einrichtung ist unerheblich. Jedoch ist ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeiten erforderlich, eine satzungsmäßige Absicherung ist nicht zwingend. Der Aspekt der Finanzierung dürfte für sich genommen als unzureichender Ansatzpunkt für eine organisatorische Zuordnung anzusehen sein. Die bestehende 56 So haben die Veränderungen der familiären Strukturen hin zu mehr Individualität und Mobilität zu einer stärkeren gesellschaftlichen Vereinzelung geführt. Auch die deutliche Verringerung des Anteils unentgeltlicher Familienarbeit durch Frauen aufgrund von Emanzipation und verstärkter Berufstätigkeit gehört unter anderem zu den deutlichen Veränderungen der sozialen Voraussetzungen von Wohlfahrtsproduktion in Deutschland (GABRIEL 2003: 6-7). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 21 Finanzierung durch die Religionsgemeinschaft kann indizielle Bedeutung für eine Zuordnung bekommen. Gleichwohl dürfte hieraus nicht der Umkehrschluss zu ziehen sein, dass eine fehlende Finanzierung durch die Religionsgemeinschaft eine Zuordnung ausschließt. Mit der Intensivierung des staatlichen Engagements auf sozialem Gebiet, vor allem in der Krankenhausversorgung , hat die öffentliche Hand parallel zur eigenen Tätigkeit „das Wirken der freien Träger einkalkuliert […] und […] öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt. So kann festgestellt werden, dass der Staat die Rolle der freien Träger im Sozialwesen, zu denen auch die kirchlichen Einrichtungen zu zählen sind, als bedeutend eingestuft hat und sie als notwendige gesellschaftliche Institution angesehen hat. (DELBRÜCK: 27 f.) Damit handeln der Staat und die freien Wohlfahrtsverbände im Rahmen der sozialstaatlichen Ordnung traditionell im Sozialgefüge in einem fest verankerten kooperativen Nebeneinander. Sie wirken „partnerschaftlich“ zusammen. (DELBRÜCK: 29) Die staatlichen Zuwendungen sind nicht als schlichte Subventionen zu verstehen, sondern vielmehr als subsidiär von der öffentlichen Hand zu leistende Beiträge zur Aufgabenerfüllung durch die Verbände und damit Sozialleistungen. (DELBRÜCK: 34) Der Staat erkennt durch die Zahlungen die Eigenständigkeit der Einrichtungen an. Dadurch wird insbesondere auch der verfassungsrechtliche Status der kirchlichen Einrichtungen anerkannt und respektiert. Daraus folgt, wie DELBRÜCK zu Recht betont, dass Forderungen, wonach, “wer öffentliche Mittel in Anspruch nimmt, sich den staatlichen Bindungen […] zu fügen hat, […] mit dem Charakter der staatlichen Leistungen an die Verbände daher nicht vereinbar [sind]. Vielmehr ist hier auf grundrechtliche und institutionelle Schutzvorkehrungen zugunsten der (staatsfreien) Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit (Selbstbestimmung) der Verbände Rücksicht zu nehmen “(DELBRÜCK: 34 f.). DELBRÜCKS Feststellungen stehen im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Sozialverbände unter die staatliche Finanzkontrolle, die immerhin einen engen Zusammenhang mit der Mittelgewährung aufweist. Ein derartiger Zusammenhang lässt sich zwischen Staatlicher Finanzierung und der Anwendung arbeitsrechtlicher Bestimmungen nicht herstellen. Hinzu kommt vorliegend, dass die Kirchen den Bestimmungen des BetrVG weitestgehend gleichwertige eigene Regelungen zur Mitarbeitervertretung erlassen haben (s.o. Punkt 4). Auch die vorangegangenen sozialwissenschaftlichen Betrachtungen hinsichtlich der Rolle freigemeinnütziger Wohlfahrtsverbände in der deutschen Sozialpolitik haben keine Hinweise darauf ergeben, dass die betriebsverfassungsrechtlichen Privilegien der kirchlichen Verbände sinnvollerweise mit den ihnen zufließenden öffentlichen Finanzmitteln verknüpft werden könnten. In der subsidiär gestalteten Sozialpolitik der Bundesrepublik haben alle freien Wohlfahrtsverbände traditionell eine starke und eigenständige Rolle inne. Ihre gemeinsame Einbindung – als politisch und weltanschaulich ganz unterschiedlich ausgerichtete Verbände – ermöglicht es dem Staat, sein Sozialwesen weltanschaulich neutral (bzw. plural) zu gestalten und den Bürgerinnen und Bürgern Wahlfreiheit für die Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen zu gewährleisten. Dabei entstand ein System, bei dem Staat und Wohlfahrtsverbände (inzwischen ergänzt durch private Träger) zum Teil in erheblichem wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Der Staat nimmt seine sozialpolitische Gesamtverantwortung wahr, indem er die gesetzlichen Rahmenbedingungen schafft und die zu erbringenden Leistungen der freien und privaten Träger finanziert. Diese stellen ihre Kapazitäten an Einrichtungen, Personal und Know-how zur Verfügung, sind jedoch von der staatlichen Finanzierung in existenzieller Weise abhängig, und dies nicht nur in Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 22 quantitativer Hinsicht, da die komplexen sozialgesetzlichen Vorgaben auch unmittelbaren Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Leistungsangebote haben. Wenn auch die theoretischen und praktischen Grundlinien ihrer Arbeit auf alle Wohlfahrtsverbände zutreffen, so kommt dennoch der Situation der beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände in der öffentlichen Diskussion eine besondere Relevanz zu. Zum einen unterhalten Caritas und Diakonie die mit Abstand meisten sozialen Einrichtungen und beschäftigen deutschland- wie europaweit die meisten Arbeitnehmer. Diese starke sozialpolitische Stellung der kirchlichen Verbände entwickelte sich jedoch parallel zu bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungen von insgesamt abnehmenden Werte- und Glaubensorientierungen - ein Prozess, der durch die deutsche Wiedervereinigung aufgrund der geschwächten Position der beiden christlichen Kirchen in Ostdeutschland noch erheblich verstärkt wurde. Eine Einschränkung der kirchlichen Privilegien in § 118 Abs. 2 BetrVG allein mit der überwiegend staatlichen Finanzierung zu begründen, erscheint folglich zweifelhaft. Die vorangegangen Überlegungen deuten darauf hin, dass eine Versagung der betriebsverfassungsrechtlichen Sonderstellung einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bedeuten würde. Wenn auch einiges darauf hindeutet, dass die zunehmend kritische Hinterfragung der derzeit bestehenden verfassungsrechtlichen Position der Kirchen in Deutschland auch zukünftig anhalten wird und möglicherweise erst durch gewisse Modifikationen der derzeit bestehenden Regelungen zu befrieden sein könnte, scheint gegenwärtig die Finanzierung sozialer Leistungen kirchlicher Träger insgesamt kein geeigneter Ansatzpunkt für eine Relativierung des verfassungsrechtlichen Status‘ der Kirchen zu sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000-113/12 WD 6 – 3000-170/12 Seite 23 7. Quellenverzeichnis BAUMANN-CZICHON, BERNHARD / GATHMANN, MIRA (2006). Kirchliche Mitbestimmung im Vergleich – BetrVG – MVG/EKD – MAVO. 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