Deutscher Bundestag Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Beschäftigte der NSDAP und anderen verbrecherischen Organisationen zur Zeit des Nationalsozialismus Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2013 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-162/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 2 Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Beschäftigte der NSDAP und anderen verbrecherischen Organisationen zur Zeit des Nationalsozialismus Aktenzeichen: WD 6 – 3000-162/12 Abschluss der Arbeit: 9. Januar 2013 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Rentenversicherung der hauptamtlich Beschäftigten in Partei und Staat während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 4 2. Die versorgungsrechtliche Situation hauptamtlich Beschäftigter der NSDAP und von Beamten nach dem staatlichen Zusammenbruch 5 3. Das Institut der Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung 7 4. Fiktive Nachversicherung unversorgt ausgeschiedener Beamter 7 5. Fiktive Nachversicherung nach dem Gesetz zur Regelung der Verbindlichkeiten nationalsozialistischer Einrichtungen und der Rechtsverhältnisse an deren Vermögen (NSVerbG) 8 6. Versorgungsrechtliche Regelungen für ehemalige Beamte in der DDR 10 7. Abschließende Betrachtung 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 4 1. Rentenversicherung der hauptamtlich Beschäftigten in Partei und Staat während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Beamte des Reiches, der Länder, der Kommunalverwaltungen und anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit Dienstherrenfähigkeit gehörten wegen der Aussicht auf eine Beamtenversorgung nicht zum versicherten Personenkreis der gesetzlichen Rentenversicherungen.1 Dies galt beispielsweise auch für die im Polizeiapparat beschäftigten Beamten der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) bzw. des Reichssicherheitshauptamtes.2 Berufssoldaten der Wehrmacht sowie die berufsmäßigen Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes und der Waffen-SS im Fronteinsatz während des Zweiten Weltkriegs waren ebenfalls versicherungsfrei. Dagegen unterlag die größere Anzahl der nicht beamteten Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst der Rentenversicherungspflicht. Hierzu gehörten auch die hauptamtlich Beschäftigten der NSDAP und ihrer Untergliederungen, wie beispielsweise der als parteiinternen Polizei eingerichteten Schutzstaffel (SS). Die Verwaltung des neben den staatlichen Dienststellen eingerichteten umfangreichen Apparates der NSDAP konnte nicht allein von ehrenamtlich tätigen Parteimitgliedern durchgeführt werden, sondern bedurfte vor allem in der Leitungsebene des Einsatzes hauptberuflicher Kräfte. Trotz der nach der Übertragung der Regierungsgewalt auf die Nationalsozialisten erfolgten weitgehenden Angleichung der Parteiorganisation an die staatliche Verwaltung und der Eigenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts besaß die NSDAP keine Beamtenstellen, so dass die hauptamtlichen Mitarbeiter aufgrund eines privatrechtlichen Arbeitsvertrags beschäftigt wurden.3 Die hauptamtlich Beschäftigten der NSDAP und ihrer Untergliederungen waren daher zunächst grundsätzlich rentenversicherungspflichtig, soweit deren Entgelt die Jahresarbeitsverdienstgrenze in der Rentenversicherung der Angestellten nicht überstieg .4 Die Bezahlung der hauptamtlich Beschäftigten im Parteiapparat entsprach einem vergleichbaren staatlichen Amt.5 Es kann davon ausgegangen werden, dass angestellte Funktionsträger der obersten Leitung aufgrund der Höhe ihres Verdienstes oberhalb der Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung unterlagen. Leitende Mitarbeiter der NSDAP 1 §§ 1234, 1237 Reichsversicherungsordnung in der Fassung des Gesetzes vom 15. Dezember 1924 (RGBl. I S 79), §§ 11, 14 Angestelltenversicherungsgesetz vom 28. Mai 1924 (RGBl. I S. 563). 2 Die Gestapo beschäftigte im Jahre 1944 insgesamt rund 32.000 Mitarbeiter; Deutsches Historisches Museum, abrufbar im Internet unter http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/gestapo/, zuletzt abgerufen am 5. Dezember 2012. 3 Wilfferodt, Walter, in: Kommentar zum Gesetz zur Regelung der Verbindlichkeiten nationalsozialistischer Einrichtungen und der Rechtsverhältnisse an deren Vermögen, Manuskript, 1965, S. 114. 4 § 3 Angestelltenversicherungsgesetz vom 28. Mai 1924 (RGBl. I S. 563); ab 1934 betrug die Jahresarbeitsverdienstgrenze 7.200 RM, Lungwitz, Herbert, in: Zusammenstellung der Vorschriften über Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung und der Beiträge der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten einschließlich der Berliner Einheitsversicherung, herausgegeben von der LVA Berlin, 1960. 5 Die NSDAP vor und nach 1933 / Armin Nolzen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. - 58 (2008), 47 vom 17.11.2008, S. 19 – 26. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 5 waren auch häufig in Personalunion zugleich höhere Beamte und damit ohnehin rentenversicherungsfrei . Mit dem Gesetz über die versicherungsrechtliche Stellung der im Dienste der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Beschäftigten vom 4. März 1943 erfolgte für bestimmte leitende Mitarbeiter aufgrund der bei der NSDAP eingerichteten so genannten Eigenversorgung eine versorgungsrechtliche Angleichung mit den in einem Beamtenverhältnis stehenden Personen. Die vom Reichsschatzmeister der NSDAP am 30. Januar 1943 erlassenen Allgemeinen Versorgungsrichtlinien waren den beamtenrechtlichen Versorgungsbestimmungen nachgebildet. Ab Januar 1943 waren danach für etwa 38.000 Beschäftigte der NSDAP, für die ein Anspruch auf Leistungen aus der Eigenversorgung als beamtenähnlicher Versorgung vorgesehen war, insoweit keine Beiträge mehr an die gesetzliche Rentenversicherung zu zahlen.6 Soweit eine Anwartschaft auf Versorgung gewährleistet war, sind auch die vor dem Jahr 1943 an die Rentenversicherung gezahlte Beiträgen zur Errichtung eines Versorgungsstocks nach § 7 Abs. 1 des Gesetzes vom 4. März 1943 von den Rentenversicherungsträgern - in der Regel war dies die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte - an die NSDAP zu erstatten. Die Erstattung der Rentenversicherungsbeiträge war nicht auf Zeiten der Beschäftigung bei der NSDAP beschränkt , sondern war für sämtliche im Versicherungskonto Beitragszeiten durchzuführen. Soweit eine Erstattung erfolgt ist, sind die Beiträge rückwirkend unwirksam geworden. Das Versicherungsverhältnis wurde damit aufgelöst. Die Erstattung der Beiträge aufgrund der Feststellung der Gewährleistung einer Versorgung durch den Reichsschatzmeister der NSDAP ist aufgrund der Kriegsereignisse jedoch nur für rund 6.500 hauptamtlich Beschäftigte durchgeführt worden, die namentlich auf Listen im Kontoarchiv der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte erfasst wurden. Für den größten Teil der insgesamt fast 200.000 im NSDAP-Parteiapparat Beschäftigten7 sind die bis Ende 1942 an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlten Beiträge daher wirksam geblieben. Aus diesen Beitragszahlungen sind entsprechende Rentenleistungen zu gewähren. Es erfolgt generell keine statistische Erfassung von Rentenleistungen nach den Arbeitgebern der Versicherten. Daher kann über die Anzahl und Höhe der auf eine Beitragszahlung für eine Beschäftigung bei der NSDAP zugrunde liegenden Rentenzahlungen keine Aussage getroffen werden. 2. Die versorgungsrechtliche Situation hauptamtlich Beschäftigter der NSDAP und von Beamten nach dem staatlichen Zusammenbruch Nach dem staatlichen Zusammenbruch nahmen die Rentenversicherungsträger in den vier Besatzungszonen , in Berlin und im Saargebiet ihre Arbeit im Prinzip nach den reichsgesetzlichen Vor- 6 Wilfferodt, Walter: (Fn 3) S. 115, sowie Brigmann, Wolfgang und Binz, Matthias: Nachversicherung in den gesetzlichen Rentenversicherungen, Carl Heymanns Verlag, Köln, 1968, S. 144 ff. 7 Im Juni 1944 waren insgesamt 48.638 Männer und 140.000 Frauen bei der NSDAP hauptamtlich beschäftigt. Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred: Geschichte der NSDAP, 3. Auflage, PapyRossa Verlag, Köln, 2009, S. 490. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 6 schriften wieder auf.8 Eine Leistungsgewährung kam grundsätzlich nur für eine vorherige weiterhin wirksame Beitragszahlung in Betracht. Die rund 6.500 hauptamtlich Beschäftigten der NSDAP, denen die Gewährleistung einer Versorgung zugesagt wurde und deren Beiträge zur Rentenversicherung aufgrund der Erstattung unwirksam geworden sind, hatten daher zunächst keinen Anspruch auf Rentenleistungen. Dieser hätte sich gegen die inzwischen verbotene NSDAP richten müssen. Das Vermögen der NSDAP einschließlich des Versorgungsstocks aus den Beitragerstattungen wurde von den Alliierten beschlagnahmt und von neu eingerichteten Landesämtern für Vermögenskontrolle verwaltet. Das Vermögen von NS-Organisationen ist in einem jahrelangen, komplexen Verfahren auf Bund, Länder, Kommunen, gesellschaftliche Vereinigungen und Organisationen aufgeteilt worden.9 Nach dem staatlichen Zusammenbruch am 8. Mai 1945 war die Weiterbeschäftigung der bis dahin im Dienst stehenden und die Versorgung oder im Ruhestand befindlichen Beamten zu klären. Neben Vertriebenen und Angehörigen aufgelöster Dienststellen waren auch Beamte weiterbestehender Behörden betroffen, die auf Grund von Anordnungen der Militärregierungen zum Zwecke der politischen Überprüfung, also im Rahmen der Entnazifizierung, von ihrem Amt oder Arbeitsplatz entfernt und nicht wieder im öffentlichen Dienst verwendet wurden. Mit dem Grundgesetz wurde dem Bundesgesetzgeber in Artikel 131 aufgegeben, die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden waren und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet wurden, zu regeln. Dieser Verpflichtung ist der Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen (G 131) vom 11. Mai 1951 nachgekommen . Danach konnten frühere Beamte des Reichs oder der Länder, die im Rahmen der Entnazifizierung nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, wieder als Beamte beschäftigt werden. Ferner sah das G 131 die Übernahme von Ansprüchen auf eine Alters - und Hinterbliebenenversorgung vor, wenn die Voraussetzungen hierfür zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Dienstverhältnis bereits erfüllt waren.10 Das Berufsbeamtentum und die Beamten selbst wurden so weitgehend rehabilitiert.11 Lediglich für wenige Belastete, wie Personen, die in einem Dienstverhältnis zur Gestapo oder dem Forschungsamt des Reichsluftfahrtministeriums standen, war nach § 3 Nr. 4 G 131 weder eine Wiederverwendung im Staatsdienst, noch eine staatliche Beamtenversorgung vorgesehen.12 Dies ist 8 Schmähl, Winfried: Die Entwicklung der Rentenversicherung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Mauerfall (1945 – 1989). In: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand, Kapitel 2, Rn 2 ff. 9 Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), abrufbar im Internet unter http://www.zeitgeschichtehamburg .de/forschung.php?nid=50&id=5&stufe=5, zuletzt abgerufen am 5. Dezember 2012. 10 Finke, Hugo und Liebich, Rainer: Nachversicherung – Allgemeine Darstellung mit Gesetzestexten, Broschüre der Deutschen Rentenversicherung Bund, Berlin, 2010, S. 162. 11 Langhorst, Wolfgang: Beamtentum und Artikel 131 des Grundgesetzes, Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften , Frankfurt am Main, 1994, S. 216. 12 Badura, Peter in: Maunz/Düring, Grundgesetz-Kommentar, 66. Ergänzungslieferung, 2012, Art. 131 GG, Rn 20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 7 nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Grundgesetz vereinbar.13 Die Dienstzeiten in der Gestapo werden jedoch bis heute im Rahmen der fiktiven Nachversicherung nach § 72 G 131 gegebenenfalls in der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigt.14 Gleiches gilt für die nach der durch eine Novelle im Jahre 1965 eingeführten Regelung des § 3 Nr. 3 Bst. a G 131 ausgeschlossenen früheren Beamten, die während des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben und ebenfalls anstelle einer Versorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung als nachversichert gelten. 3. Das Institut der Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung Durch bereits auf das Jahr 1923 zurückgehende rentenrechtliche Bestimmungen werden die versorgungsrechtlichen Folgen der Beendigung eines Beamtenverhältnisses im Rahmen einer Nachversicherung geregelt.15 Beamte, die ohne Anspruch oder Anwartschaft auf eine Versorgung aus dem Dienst ausscheiden, werden in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert und damit so gestellt, als wären sie von vornherein rentenversichert gewesen. Die Beiträge für die Nachversicherung berechnen sich aus den Bruttobezügen des ausgeschiedenen Beamten während seiner Dienstzeit und werden nachträglich vom Dienstherrn an die Rentenversicherung gezahlt. Die früheren Dienstzeiten zählen wie Beitragszeiten aufgrund einer versicherten Beschäftigung und können einen Rentenanspruch begründen und die Rente erhöhen. Näheres regeln heute die §§ 8, 181 ff. des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI). Für frühere Beamte des Reichs oder der Länder sowie für Berufssoldaten und vergleichbare Personen , die ohne Anspruch auf Versorgung ausgeschieden sind, kommt eine fiktive Nachversicherung in Betracht. Im Gegensatz zur echten Nachversicherung nach § 8 SGB VI findet bei der fiktiven Nachversicherung keine Beitragszahlung durch den Dienstherrn statt. Es wird vielmehr im Nachhinein ein Versicherungsverhältnis kraft Gesetzes fingiert und den Rentenversicherungsträgern werden die daraus entstehenden Kosten aus Steuermitteln erstattet. Die fiktive Nachversicherung ist für Zeiten bis 8. Mai 1945 über § 233 Abs. 1 bzw. für Berechtigte in Ostdeutschland über § 233a Abs. 1 SGB VI unter anderem nach § 72 G 131 möglich. In der DDR sah zuletzt § 2 Abs. 2 Bst. l) und m) der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung vom 23. November 1979 vor, dass auch Zeiten des Militärdienstes und Dienstzeiten ehemaliger Beamter als versicherungspflichtige Tätigkeit gelten. 4. Fiktive Nachversicherung unversorgt ausgeschiedener Beamter Das G 131 ist mit dem Dienstrechtlichen Kriegsfolgen-Abschlußgesetz (DKfAG) zum 1. Oktober 1994 aufgehoben worden. Nach § 2 Abs. 2 DKfAG regeln sich die Durchführung der Nachversicherung und die Erstattung aber nach dem bisherigen Recht. 13 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 1957, Az. 1 BvR 357/52. 14 Siehe Punkt 4: Fiktive Nachversicherung unversorgt ausgeschiedener Beamter. 15 Brigmann, Wolfgang und Binz, Matthias, (Fn. 6) S. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 8 Eine fiktive Nachversicherung kommt danach unter anderem für Beamte, die nicht zur Wiederverwendung im öffentlichen Dienst vorgesehen waren, in Betracht. § 72 G 131 regelt die fiktive Nachversicherung beispielsweise für Beamte, die ihr Amt am 8. Mai 1945 durch Wegfall des Dienstherrn verloren haben, Berufssoldaten der Wehrmacht, berufsmäßige Angehörige des Reichsarbeitsdienstes und berufsmäßige Angehörige der früheren Waffen-SS im Fronteinsatz, die am 8. Mai 1945 noch im Dienst standen, sowie Beamte, die ihr Amt durch Entnazifizierung oder Anordnung der Militärregierung verloren haben, soweit für sie kein Anspruch auf Alters- und Hinterbliebenenversorgung besteht.16 Dies ist zum Beispiel bei geringen Dienstzeiten der Fall, trifft aber auch auf Personen zu, die als Beamte, Richter oder Berufssoldaten Ansprüche oder Anwartschaften von einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen ausgeschlossen worden sind, weil sie während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben.17 Gegebenenfalls gelten die Dienstzeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung als nachversichert . Die aufgrund der fiktiven Nachversicherung nach § 72 G 131 erbrachten Rentenleistungen sind den Rentenversicherungsträgern nach § 2 Abs. 2 DKfAG zu erstatten. Im Bundeshalt sind für das Jahr 2012 hierfür noch 16 Mio. Euro vorgesehen.18 Sind Beamte, Berufssoldaten der Wehrmacht, berufsmäßige Angehörige des Reichsarbeitsdienstes oder berufsmäßige Angehörige der früheren Waffen-SS im Fronteinsatz bereits vor dem Kriegsende aus dem Dienst ausgeschieden und ist eine an sich seinerzeit zu erfolgende Nachversicherung aufgrund der Kriegswirren unterlassen worden, ist eine mit § 72 G 131 vergleichbare fiktive Nachversicherung nach § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) vom 5. November 1957 möglich. 5. Fiktive Nachversicherung nach dem Gesetz zur Regelung der Verbindlichkeiten nationalsozialistischer Einrichtungen und der Rechtsverhältnisse an deren Vermögen (NSVerbG) Aufgrund alliierter Bestimmungen waren Verbindlichkeiten gegen das Vermögen der NSDAP von den Vermögensverwertern nicht zu begleichen, wenn dies zu einer Entschädigung von Personen geführt hätte, die die nationalsozialistische Partei oder die nationalsozialistische Herrschaft unterstützt haben.19 Daher hatten hauptamtlich Beschäftigte der NSDAP, deren Rentenversicherungsbeiträge aufgrund der Gewährleistung einer Versorgung erstattet wurden, aus diesen Zeiten weder Anspruch auf Leistungen aus der früheren NSDAP-Eigenvorsorge noch aus der gesetzli- 16 Finke, Hugo und Liebich, Rainer, (Fn. 11) S. 163 ff. 17 Vgl. auch Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA), Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 12/154 28.04.1993 S. 13165C-13166A/Anl. 18 Bundeshaushaltsplan 2012, Kapitel Sonstige Versorgungsausgaben 6067, Titel 636 22. 19 Art. V Abs. 6 der aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 folgenden Direktive Nr. 50 vom 29. April 1947. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 9 chen Rentenversicherung. Mit dem häufig als NS-Abwicklungsgesetz bezeichneten NSVerbG vom 17. März 1965 ist für diesen Personenkreis eine rentenrechtliche Abgeltung geregelt worden. Ferner erfolgte eine Sonderregelung für Angehörige der SS-Verfügungstruppe vor 1940. Das NSVerbG ist nach § 3 ausdrücklich nicht anzuwenden auf Ansprüche, die im Bereich der Gestapo, der Waffen-SS, des Reichsarbeitsdienstes und der Organisation Todt entstanden sind. Entgegen der Annahme der Alliierten handelt es sich hierbei nicht um Einrichtungen der NSDAP, sondern vielmehr um Einrichtungen des Deutschen Reichs, für dessen frühere Beamte ggf. das G 131 anzuwenden ist. Für die früheren leitenden Beschäftigten der NSDAP, für die bis zum Kriegsende die Gewährleistung einer Versorgung ausgesprochen wurde und deren Beiträge zur Rentenversicherung aus diesem Grunde an den Reichsschatzmeister der NSDAP erstattet und daher unwirksam geworden sind, ist nach § 20 NSVerbG eine fiktive Nachversicherung vorgesehen. Danach gelten Zeiten von früheren NSDAP-Beschäftigten, die vor 1943 aufgrund der Erstattung der Beiträge unwirksam geworden sind, als nachversichert. Die fiktive Nachversicherung wirkt insoweit wie eine Rückgängigmachung der Unwirksamkeit und stellt die betroffenen 6.500 namentlich erfassten Versicherten so, als ob die Gewährleistung einer Versorgung seitens der NSDAP nicht erfolgt wäre. Damit lebt das durch die Erstattung aufgelöste Versicherungsverhältnis quasi wieder auf.20 Die insgesamt rund 38.000 Beschäftigten der NSDAP, die nach den Allgemeinen Versorgungsrichtlinien vom 30. Januar 1943 Anspruch auf Leistungen aus der Eigenversorgung erhalten sollten , mussten hinnehmen, dass für sie nach 1942 keine Rentenversicherungsbeiträge mehr gezahlt wurden und hier somit keine rentenrechtlich relevante Zeit vorliegt, aus der Rentenleistungen zu gewähren wären. Die SS war eine Gliederung der NSDAP und war weder im Verband der Wehrmacht oder für deren Zwecke eingesetzt, noch unterstand sie deren Befehlsgewalt. Die Anfänge der bewaffneten SS-Verfügungstruppe der SS gehen auf die Aufstellung einer Stabswache zurück. Aus dieser kleinen Gruppe entwickelten sich in der Folgezeit weitere Einheiten, die dem Reichsführer der SS unterstanden. Mit der Wehrmacht standen die SS-Verfügungstruppen zunächst nicht im Zusammenhang . Dies ergibt sich aus einer Geheimen Kommandosache Hitlers vom 17. August 1938 über die Aufgaben der deutschen Polizei, der SS und der Wehrmacht, in der ausdrücklich festgestellt ist, dass die SS-Verfügungstruppe weder ein Teil der Wehrmacht noch ein Teil der Polizei, sondern eine Gliederung der NSDAP sei. Dennoch galt die gesetzliche Wehrpflicht durch den Dienst von gleicher Dauer in der SS-Verfügungstruppe als erfüllt.21 Ab 1. Januar 1940 ist die SS-Verfügungstruppe in die Waffen-SS übergegangen, die für Zwecke der Wehrmacht oder unter deren Befehlsgewalt eingesetzt wurde. Ihre Angehörigen wurden seitdem versorgungsrechtlich wie Soldaten der Wehrmacht behandelt. Berufsmäßige Angehörige der Waffen-SS fallen deshalb ab diesem Zeitpunkt unter die Regelung des § 72 G 131. Die Ableistung der gesetzlichen Wehrpflicht von zwei Jahren wird in der Regel als Ersatzzeit in der gesetzlichen 20 Wilfferodt, Walter, (Fn. 3) S. 123. 21 Nähere Ausführungen zur Entwicklung der SS-Verfügungstruppe enthält das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 14. Februar 1957, Az: 8 RV 623/55. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 10 Rentenversicherung berücksichtigt.22 Für die über die Ableistung der gesetzlichen Wehrpflicht hinausgehende Zeit des militärischen Dienstes in der SS-Verfügungstruppe bestand Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung. Bei Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis hätte eine Nachversicherung erfolgen müssen, zu der es aus Kriegsgründen jedoch nicht mehr gekommen ist. Deshalb sieht der mit dem Dritten Gesetz zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften vom 31. August 1965 eingeführte § 23a NSVerbG vor, dass die zwei Jahre übersteigende Dienstzeit in der SS-Verfügungstruppe vor dem 1. Januar 1940 in der Rentenversicherung als nachversichert gilt. Nachversichert wurden nur Personen, die in der Waffen-SS wie berufsmäßige Angehörige der Wehrmacht eingesetzt waren und militärischen Dienst geleistet haben. Dagegen wurden Angehörige der allgemeinen SS und der SS-Totenkopfverbände für Dienstzeiten in den Hauptämtern und anderen Verwaltungsstellen der SS sowie Konzentrationslagern nicht nachversichert.23 Ende 2011 wurden noch 1.020 Renten gezahlt, denen unter anderem Zeiten der fiktiven Nachversicherung nach dem NSVerbG zugrunde lagen. Der Rentenversicherung waren hierfür insgesamt 1,4 Mio. Euro zu erstatten. Davon entfielen 842.000 Euro für 245 Rentenzahlungen auf die fiktive Nachversicherung nach § 20 NSVerbG für hauptamtlich Beschäftigte der NSDAP, denen die Rentenversicherungsbeiträge aufgrund der Gewährleistung einer Versorgung erstattet wurden, und 564.000 Euro für 775 Rentenzahlungen auf die fiktive Nachversicherung nach § 23a NSVerbG für Angehörige der SS-Verfügungstruppe vor 1940. 6. Versorgungsrechtliche Regelungen für ehemalige Beamte in der DDR Mit der fiktiven Nachversicherung ehemaliger Beamter in der gesetzlichen Rentenversicherung durchaus vergleichbare Vorschriften galten vor der staatlichen Einheit Deutschlands auch in der DDR. Danach galten die Dienstzeiten ehemaliger Beamter, Wehr- oder Kriegsdienstleistenden und Berufssoldaten als versicherungspflichtige Tätigkeit und wurden so in die Sozialversicherung einbezogen, ohne dass für die Angehörigen verbrecherischer nationalsozialistischer Organisationen Sonderregelungen zu beachten waren. Grundlage für die Einbeziehung war zunächst die Anordnung der Deutschen Wirtschaftskommission - als zentrale Verwaltungsinstanz in der Sowjetischen Besatzungszone - über die Zahlung von Renten an ehemalige Beamte und deren Hinterbliebene aus Mitteln der Sozialversicherung vom 15. September 1948 und die dazu erlassenen Durchführungsbestimmungen sowie die Verordnung über die Anpassung der Versorgungsbestimmungen für die Kriegsinvaliden, ehemaligen Beamten, ehemaligen Offiziere und ihre Hinterbliebenen an die Vorschriften der Sozialversicherung vom 16. März 1950. Danach waren die Renten an ehemalige Beamte der früheren Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden , der ihnen angegliederten Anstalten und sonstigen Einrichtungen, der Reichsbahn, der Reichspostverwaltung und anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften sowie an deren Witwen und Waisen aus Mitteln der Sozialversicherung und nach den Grundsätzen der Verordnung über 22 § 250 Abs. 1 Nr. 1 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI). 23 Vgl. auch Schriftliche Antwort des BMA ( Fn. 17). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 11 die Sozialpflichtversicherung vom 28. Januar 1947 zu zahlen. Seit Inkrafttreten der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung vom 15. März 1968 war ausdrücklich geregelt, dass Vorbereitungs- und Dienstzeiten ehemaliger Beamter als versicherungspflichtige Tätigkeiten im Sinne der Rentenverordnung galten.26 7. Abschließende Betrachtung Besondere Regelungen für hauptamtlich Beschäftigte der nach dem Zweiten Weltkrieg als verbrecherische Organisationen eingestuften NSDAP und ihrer Untergliederungen, der Waffen-SS, der Gestapo und des Sicherheitsdienstes sind im Rentenrecht abgesehen von der geschilderten fiktiven Nachversicherung nach § 72 G 131 und §§ 20, 23a NSVerbG nicht vorgesehen. Die überwiegende Anzahl der früheren hauptamtlichen Mitarbeiter der NSDAP und ihrer Untergliederungen hat eine Rentenzahlung aufgrund der aus dem Beschäftigungsverhältnis gezahlten Beitragsleistung erhalten. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil entfällt auf die fiktive Nachversicherung nach §§ 20, 23a NSVerbG. Die fiktive Nachversicherung erfolgte in der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Ansehung der Verstrickung in das nationalsozialistische Terrorregime als Entschädigung für eine aufgrund der Kriegsfolgen entgangene Versorgung nach beamtenrechtlichen Regelungen. Das NSVerbG ist ohne Aussprache von den Fraktionen der damals im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien einstimmig verabschiedet worden. Dies trifft auch für die versorgungsrechtliche Gleichstellung der Waffen-SS mit der früheren Wehrmacht durch das Dritte Gesetz zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften vom 31. August 1965 zu.27 Ob es unmittelbar in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kontroverse über die Frage der Gewährung von Rentenleistungen aus hauptberuflicher Tätigkeit in verbrecherischen Organisationen gegeben hat, liegen keine Informationen vor. Eine Aberkennung durch Beitragszahlung erworbener Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung dürfte jedoch nicht zur Diskussion gestanden haben. Vielmehr ging es der Gesetzgebung zunächst um die Regelung der Rechtsverhältnisse der früheren Beamten im Sinne des Artikel 131 GG, die ebenfalls von allen politischen Parteien mitgetragen wurde.28 Die Vorbereitungen der Einführung der fiktiven Nachversicherung für hauptamtlich Beschäftigte der NSDAP, deren Rentenversicherungsbeiträge aufgrund der Gewährleistung einer Versorgung erstattet wurden, haben sich dann später über mehrere Jahre hingezogen.29 Im Gegensatz zum Disziplinarrecht des Berufsbeamtentums ist das Sozialversicherungsrecht bei strafrechtlichen Handlungen grundsätzlich frei von Sanktionen. Hintergrund ist das der Sozial- 26 § 4 Abs. 2 Buchst. 1 der Renten-VO vom 15. März 1968, § 2 Abs. 2 Buchst. n der Renten-VO vom 4. April 1974 und § 2 Abs. 2 Buchst. m der Renten-VO vom 23. November 1979. 27 Plenarprotokolle des Deutschen Bundestages, 4/76 15.05.1963 S. 3727A, 4/158 22.01.1965 S. 7814D, 4/195 01.07.1965 S. 9944A. 28 Langhorst, Wolfgang, (Fn. 12) S. 149. 29 Vgl. Der Spiegel, Nr. 10/1961, S. 27, abrufbar im Internet unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d- 43159912.html, zuletzt abgerufen am 5. Dezember 2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-162/12 Seite 12 versicherung zugrunde liegende Prinzip der Wertneutralität, nach dem aus einer erfolgten Beitragszahlung entsprechende Leistungen zu gewähren sind.30 Ein im Jahre 1987 dem Deutschen Bundestag vorgelegter Gesetzentwurf über einen Ausschluss der Rentengewährung für Personen, die sich einem Strafverfahren wegen Landesverrats oder einer vergleichbaren Straftat durch einen Aufenthalt außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland entziehen, wurde daher nach Ablehnung der Sachverständigen im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung im Hinblick auf die Wertneutralität der Sozialversicherung nicht weiterverfolgt.31 30 Merten, Detlef: Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, Duncker & Humblot, Berlin, 1994, S. 50 ff. 31 Bundetags-Drucksache 11/952.