Deutscher Bundestag Menschen ohne Papiere Ihr Recht auf Gesundheit und ihr Zugang zu medizinischer Versorgung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2011 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-153/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 2 Menschen ohne Papiere Ihr Recht auf Gesundheit und ihr Zugang zu medizinischer Versorgung Aktenzeichen: WD 6 – 3000-153/11 Abschluss der Arbeit: 9. September 2011 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Illegale Migranten oder Menschen ohne Papiere – eine Begriffsdefinition 4 3. Bestimmungen für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 4 4. Medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) 6 5. Kritik an der behördlichen Praxis in Deutschland 8 5.1. Flüchtlingsrat Berlin e.V. 8 5.2. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtpflege e.V. 9 5.3. Weitere Kritik aus der Literatur 9 5.4. Kritik an der medizinischen Versorgung von Menschen ohne Papiere 10 6. Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) 10 6.1. Übermittlungspflicht gemäß § 87 AufenthG 10 6.2. Einschränkung der Übermittlungspflicht 10 6.3. Verfassungsmäßigkeit des § 87 AufenthG 11 6.4. Vorschläge zur Änderung der Übermittlungspflicht 12 7. Lösungsansätze 13 8. Recht auf Gesundheit im Europäischen Recht 14 9. Literaturverzeichnis 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 4 1. Einleitung Die vorliegende Ausarbeitung beschäftigt sich mit dem Zugang zu medizinischer Versorgung von Menschen ohne Papiere in Deutschland. Dargestellt werden die rechtlichen Grundlagen, die behördliche Praxis und die nicht-staatlichen Hilfsstrukturen (Netzwerke). Zum Schluss werden knapp grundlegende Rahmenbedingungen im europäischen Recht erwähnt. An der Ausarbeitung waren die Fachbereiche WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend), WD 6 (Arbeit und Soziales) und WD 3 (Verfassung und Verwaltung) beteiligt. 2. Illegale Migranten oder Menschen ohne Papiere – eine Begriffsdefinition Bei Menschen ohne Papiere handelt es sich um Ausländerinnen und Ausländer, die ohne Aufenthaltstitel oder Duldung nach dem deutschen Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Deutschland leben und von keiner Behörde erfasst sind.1 Wie viele Menschen ohne Papiere in Deutschland leben, lässt sich naturgemäß nicht genau ermitteln. vermutet werden 100.000 bis eine Million Menschen, die sich aufenthaltsrechtlich illegal in Deutschland aufhalten sollen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte betont, dass diese Zahlen veraltet und deshalb mit besonderer Vorsicht zu betrachten seien, da seit der EU-Osterweiterung der Aufenthalt zahlreicher mittel-und osteuropäischer Staatsangehöriger in Deutschland „legalisiert“ worden sei.2 3. Bestimmungen für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) Das Konfliktfeld der gesundheitlichen Versorgung von Menschen ohne Papiere bietet im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung nur eine hypothetische Schnittstelle.3 Die einzige Möglichkeit, nach der Menschen, die sich aufenthaltsrechtlich illegal in Deutschland befinden, einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen haben, besteht für unselbständig arbeitende Menschen, die nicht nur geringfügig beschäftigt sind.4 Unmittelbare Folge der Realisierung des Anspruchs ist jedoch die Aufdeckung des illegalen Aufenthaltsstatus, so dass es an der praktischen Relevanz für diese Fallgruppe fehlt. 1 DEUTSCHES INSTITUT FÜR MENSCHENRECHTE (Hrsg.) (2007). Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutschland – Ihr Recht auf Gesundheit. Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, Berlin, S. 5. Abrufbar im Internet unter: http://www.institut-fuermenschenrech - te.de/uploads/tx_commerce/studie_frauen_maenner_und_kinder_ohne_papiere_ihr_recht_auf_gesundheit.pdf (letzter Abruf am 5. September 2011). 2 Vgl. auch: http://www.dimr.eu/questions.php?questionid=170 (letzter Abruf am 5. September 2011). 3 Die Frage, ob der grundrechtliche und menschenrechtliche Anspruch durch die einfachgesetzliche Ausgestaltung in § 1 Abs. 1 Nr. 5 Asylbewerberleistungsgesetz (einfachgesetzlich) hinreichend ausgestaltet oder durch die Übermittlungspflicht in § 87 Abs. 2 AufenthG faktisch ausgehöhlt wird, bleibt hierbei unbeachtet. In Teilen der Literatur wird vertreten, dass die Regelung in § 87 Abs. 2 AufenthG verfassungswidrig sei, da die Betroffenen in eine Zwangslage gebracht werden, die sie daran hindert, ihren Anspruch gegenüber der Krankenkasse oder dem Sozialamt geltend zu machen, da sie sich ansonsten selbst bezichtigen müssten. Durch das Sozialstaatsprinzip sei auch eine Vertrauensbasis verfassungsrechtlich abgesichert, die durch die Übermittlungspflicht der öffentlichen Stellen zerstört werde, vgl. Weichert, in: Huber, AufenthG Kommentar, § 87 Rn. 27. 4 Darunter fallen auch deren Ehegatten und Kinder, die nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V mitversichert sind. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 5 Von dem Moment der Beschäftigungsaufnahme an besteht eine Versicherungspflicht durch den Arbeitgeber, §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 186 Abs. 1 SGB V. Dieser Pflicht wird der Arbeitgeber in der Regel nicht nachkommen, da die Beschäftigung von illegalen Einwanderern, bzw. Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis eine Ordnungswidrigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 c SchwArbG darstellt5. Bei den in diesem Umfeld abgeschlossenen Beschäftigungsverhältnissen handelt es sich zudem in den allermeisten Fällen um „Schwarzarbeit“, so dass der Arbeitsvertrag nach § 1 SchwArbG i.V.m. § 134 BGB nichtig ist. Zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht nichtsdestotrotz ein so genanntes faktisches Arbeitsverhältnis, aus dem auch ein Lohnanspruch besteht. Parallel dazu besteht ein rechtlicher Anspruch gegenüber der gesetzliche Krankenversicherung, da eine gesetzliche Versicherungspflicht durch den Arbeitsgeber besteht, die nicht dadurch ausgehebelt wird, dass das Beschäftigungsverhältnis nicht gemeldet wurde oder wegen Schwarzarbeit insgesamt nichtig ist6. Die Versicherungspflicht tritt kraft Gesetzes (und nicht erst mit der Meldung des Beschäftigungsverhältnisses oder deren Feststellung) ein.7 Es kommt auch nicht darauf an, ob der Versicherungspflichtige Kenntnis von der Regelung hat. Dies gilt auch für Ehegatten und Kinder von rechtswidrig beschäftigten Personen ohne Aufenthaltsrecht, die über § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V mitversichert sind.8 Nach § 186 SGB V beginnt die Mitgliedschaft versicherungspflichtiger Personen mit dem Tag des Eintritts in das Beschäftigungsverhältnis. Der unselbständig arbeitende Migrant ohne Papiere wird in Unwissenheit oder aus Angst vor Aufdeckung der Illegalität seines Aufenthalts sein Wahlrecht hinsichtlich einer Krankenversicherung nach § 173 Abs. 2 SGB V nicht geltend machen . Nach § 175 Abs. 3 SGB V wird bei Nichtausübung der Wahl der Arbeitgeber (als die zur Meldung verpflichtete Stelle) oder der gemeinsame Spitzenverband eine Krankenkasse aussuchen . Aus den oben genannten Gründen wird der Arbeitgeber auch in diesem Zusammenhang nicht tätig werden. Ohne eine Mitteilung über das abgeschlossene Beschäftigungsverhältnis wird auf diesem Weg zumindest keine Mitgliedschaft bei einer bestimmten Krankenkasse abgeschlossen . Der Anspruch bleibt daher in den allermeisten Fällen rein hypothetischer Natur. Menschen, die sich illegal in der Bundesrepublik aufhalten, könnten mit dem Nachweis des konkreten Beschäftigungsverhältnisses , der in vielen Fällen schon schwer zu erbringen sein wird, ihren Arbeitgeber „verraten“ und dessen Ordnungswidrigkeit anzeigen. Mit der Meldung des Arbeitsverhältnisses bei der Krankenkasse deckten sie zudem ihren eigenen illegalen Aufenthaltsstatus auf, da die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet sind, die Kenntnis über die fehlende Aufenthaltserlaubnis als öffentliche Stelle an die Ausländerbehörde weiterzuleiten, § 87 Abs. 2 AufenthaltsG. 5 Eine weitergehende Strafbarkeit nach §10 SchwarzArbG ergibt sich bei der Beschäftigung von Ausländern ohne Genehmigung zu ungünstigen Arbeitsbedingungen. Für den Arbeitnehmer ist die Strafbarkeit in § 9 Schwarz- ArbG geregelt, da häufig auch der Betrugstatbestand zum Nachteil der Versichertengemeinschaft oder des Staates verwirklicht ist, sieht §9 eine formale Subsidiarität zu § 263 StGB vor, vgl. Heintschel-Heinegg, in: Beck´scher Online-Kommentar StGB, Arbeitsstafrecht Rn. 104. 6 FODOR, Ralf (2001). Rechtsgutachten, S. 141, in: Alt/Fodor, Rechtlos? Menschen ohne Papiere. 7 PETERS, in: Kasseler Kommentar SGB V, § 185 Rn. 4. 8 Vgl. Fn 6, S. 170. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 6 Der materielle Anspruch gegen die Krankenkasse wäre bei einer Inanspruchnahme jedenfalls weitergehend als jener aus § 5 Abs. 1 Nr. 5 Asylbewerberleistungsgesetz, der nur eine eingeschränkte medizinische Versorgung vorsieht. Aufgrund der mit der Realisierung unmittelbar verbundenen Aufdeckung des illegalen Aufenthaltsstatus spielt die Kostenregelung jedoch in der Praxis keine Rolle. 4. Medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Menschen ohne Papiere haben nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG Anspruch auf medizinische Versorgung nach dem AsylbLG.9 Die Kosten für die Behandlung übernehmen die in den Ländern zuständigen Behörden, in der Regel die Sozialämter. Allerdings nehmen Menschen ohne Papiere diesen rechtlichen Anspruch in der Regel nicht wahr. Grund dafür ist die in § 87 Abs. 2 Aufenth G vorgeschriebene Übermittlungspflicht personengebundener Daten an die Ausländerbehörde und die damit verbundene Angst, dass ihr Status aufgedeckt wird.10 Siehe dazu ausführlich Punkt 5. Das AsylbLG11 gewährt gemäß § 4 Abs. 1 eine ärztliche und zahnärztliche Behandlung bei akuter Krankheit und akuten Schmerzzuständen. Unter „akut“ sind unvermittelt auftretende, schnell und heftig verlaufende, regelwidrige Körper- und Geisteszustände zu verstehen, die aus medizinischen Gründen einer ärztlichen Behandlung bedürfen.12 Der Behandlungsanspruch besteht dann uneingeschränkt.13 Zu diesen Zahlungen gehören auch Zuzahlungen zu Arznei- und Verbandmitteln . Zahnersatz erfolgt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG nur im Falle der „Unaufschiebbarkeit “. Unaufschiebbarkeit bedeutet „ohne schuldhaftes Zögern“. Als Beispiel hierfür wird in der Literatur die Beeinträchtigung des Verdauungssystems durch das Fehlen von Zähnen genannt .14 Ob ein Zahnersatz unaufschiebbar ist, muss die zuständige Behörde anhand medizinischer Gründe entscheiden, d.h. sie darf keine eigene medizinische Beurteilung anstellen, sondern muss ihre Entscheidung auf etwaige Stellungnahmen oder Begutachtungen des behandelnden Zahnarztes stützen.15 Werdende Mütter und Wöchnerinnen erhalten ärztliche und pflegerische Hilfe, ihnen steht auch die Hilfe durch eine Hebamme zu (§ 4 Abs. 2 AsylbLG). Die zuständige Behörde stellt die ärztli- 9 Bundesministerium des Innern, Bericht zum Prüfauftrag „Illegalität“ aus der Koalitionsvereinbarung vom 11. November 2005, Kapitel VIII 1.2, Februar 2007, S. 22ff. 10 Vgl. Fn. 1, S. 14. 11 BGBl. I S. 2022. 12 JANDA, Constanze; WILKSCH, Florian (2010). Das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem „Regelsatz-Urteil“ des BVerfG. In: Die Sozialgerichtsbarkeit. Zeitschrift für das aktuelle Sozialrecht (SGb), Berlin, S. 566. 13 Bundesamt der Kommunalen Spitzenverbände. Abrufbar im Internet unter: http://www.fluechtlingsinfoberlin .de/fr/pdf/16%2811%291350.pdf (zuletzt abgerufen am 13. Januar 2011); Vgl. auch CLASSEN, Georg (2000), Menschenwürde auf Rabatt, Frankfurt a. M., S. 137. 14 GRUBE/WAHRENDORF, SGB XII Sozialhilfe, AsylbLG, § 4 Rn. 26. 15 LINHART/ADOLPH, SGB II, SGB XII, AsylbLG, § 4 Rn. 21. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 7 che und zahnärztliche Versorgung einschließlich der empfohlenen Schutzimpfungen sicher (§ 4 Abs. 3 AsylbLG). Der Gesetzgeber hat die Leistungen der medizinischen Versorgung eingeschränkt, weil davon ausgegangen wird, dass sich die Leistungsberechtigten wie zum Beispiel Asylsuchende nur vorübergehend in der Bundesrepublik aufhalten. Allen Personengruppen, die nach § 1 Abs. 1 Nr. 1- 7 AsylbLG leistungsberechtigt sind, ist gemeinsam, dass sie keinen verfestigten Aufenthaltsstatus haben. Zweck der Vorschrift ist eine deutliche Schlechterstellung in der medizinischen Versorgung im Verhältnis zu denjenigen Personengruppen, die eine medizinische Versorgung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII) erhalten.16 Der Gesetzgeber gestattet nur eine ärztliche Versorgung, die erforderlich ist, um die Folgen einer akuten Krankheit zu lindern oder zu beseitigen. Damit, so die Darstellung im Kommentar von Grube/Wahrendorf zum SGB XII, werden die betroffenen Personengruppen von den ärztlichen oder zahnärztlichen Leistungen ausgeschlossen, die eine optimale Versorgung ermöglichen oder der Prophylaxe zuzurechnen sind.17. Hier setzt auch die Kritik vieler Nichtregierungs-Organisationen an, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind. Sie bemängeln vor allem die behördliche Praxis in den Ländern, die häufig dazu führe, dass Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG erst sehr spät Zugang zu medizinischer Versorgung erhielten (Vgl. Punkt 5). Gemäß § 6 Abs. 1 AsylbLG gibt es Sonderleistungen im Einzelfall, wenn diese zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind. Die Norm eröffnet der Behörde ein Entschließungsermessen und soll der Einzelfallgerechtigkeit dienen. Als zur Sicherung unerlässlich werden Hilfsmittel i. S. d. § 33 SGB V angesehen.18 Gemäß § 6 Abs. 2 erhalten Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) besitzen und besondere Bedürfnisse haben, die erforderliche medizinische und sonstige Hilfe. Hierunter fallen zum Beispiel unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. Folteropfer die nicht über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 11 AufenthG verfügen, erhalten die notwendige Hilfe über § 4 und § 6 Abs. 1 AsylbLG.19 Ausländer, die unter das AsylbLG fallen, sind nicht gesetzlich krankenversichert.20 16 Vgl. Fn 14, Rn. 1. 17 Vgl. Fn. 14, Rn. 13. 18 MÜNDER, Johannes (2008). Lehr- und Praxiskommentar SGB XII, § 4 AsylbLG Rn. 4. 19 Vgl. Fn. 14, Rn. 18 ff. 20 Vgl. Fn. 14, Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 8 5. Kritik an der behördlichen Praxis in Deutschland Im Folgenden werden einzelne Kritikpunkte aufgelistet, die Nichtregierungsorganisationen formuliert haben. Auch juristische Aspekte werden unter Punkt 5.3. aufgeführt. Allerdings wird nur kurz (Punkt 5.4.) auf die Situation von Menschen ohne Aufenthaltsstatus eingegangen. 5.1. Flüchtlingsrat Berlin e.V. 21 Im Rahmen seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 4. Mai 2009 vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag22 hat der Flüchtlingsrat Berlin e.V. folgende Punkte kritisiert: – Krankenscheine würden in der Praxis vom Sozialamtssachbearbeiter nicht quartalsweise vorab, sondern meist erst dann ausgestellt, wenn ein Flüchtling aufgrund einer akuten Erkrankung einen konkreten Behandlungsbedarf geltend mache. Er könne daher nicht direkt zum Arzt gehen, sondern müsse erst einen Sozialamtstermin abwarten. – Als Nachweis für den Behandlungsbedarf würden Sacharbeiter häufig zunächst eine schriftliche Terminvereinbarung mit dem Arzt verlangen. – Facharztbehandlungen würden mancherorts erst nach Begutachtung durch den Amtsarzt genehmigt, was zu wochen- und monatelangen Verzögerungen führen könne. – Die nach § 4 Abs. 3 AsylbLG vorgesehenen ärztlichen und zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen unterlieben in der Praxis regelmäßig. – Aus dem täglichen Barbetrag von 1,34 € seien auch die Fahrtkosten für die zusätzlichen Arzt- und Behördentermine zu bestreiten.23 – Die Behandlung von in § 6 AsylbLG aufgelisteten Erkrankungen würde häufig abgelehnt oder verschleppt. – In Thüringen komme der Rettungswagen nur dann in ein Flüchtlingsheim, wenn zuvor die medizinische Notwendigkeit durch den diensthabenden Wachtmeister bestätigt sei. Aus Sicht des Flüchtlingsrates habe diese Behandlungsverzögerung zur Folge, dass Notarzteinsätze , Rettungsfahrten und stationäre Notrufaufnahmen entsprechend anstiegen. 21 http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/FRBln_AsylbLG_Bundestag_040509.pdf 22 Vgl. auch BT-Drs. 16/10837 vom 11. November 2008. Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. 23 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylblG erhalten Leistungsberechtigte auch ein Taschengeld zur Deckung des täglichen persönlichen Bedarfs, wenn sie nicht außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 9 5.2. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtpflege e.V.25 Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. war zu dem Gesetzentwurf angehört worden. Sie kritisierte im Bereich der Gesundheitsversorgung vor allem den Verstoß gegen Europarecht. § 4 AsylbLG würde durch die Einschränkung auf „akute Erkrankungen und Schmerzzustände“ sowie Schwangerschaftsvorsorge und Geburtenhilfe gegen Art. 18 und Art. 20 der Richtlinie 2003/9/EG27 des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten verstoßen. Darüber hinaus kritisiert die Bundesarbeitsgemeinschaft, dass in der Praxis nicht Ärzte, sondern Mitarbeiter der Sozialämter, die keine medizinische Ausbildung hätten, über die Erforderlichkeit der Behandlung entscheiden würden.28 5.3. Weitere Kritik aus der Literatur In der Literatur wird vor allem die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und europarechtlichen Vorgaben diskutiert. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG sei zwar durch die Gewährung einer Notversorgung berücksichtigt. Allerdings gebiete der grundrechtliche Schutz des Lebens, dass jedem Patienten - unabhängig von seinem Status – eine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zuteil wird.29 Die Vereinbarkeit mit europarechtlichen Vorgaben, insbesondere der Richtline 2003/09/EG, sei nicht gewahrt. Art. 15 der Aufnahmerichtlinie sehe die notwendige medizinische Versorgung vor. Die Ausgrenzung von chronischen Erkrankungen aus § 4 Abs. 1 AsylbLG sei eine der Richtlinie zuwiderlaufende Einschränkung. Außerdem seien in § 6 AsylbLG die Vorgaben des Art. 18 Abs. 2 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie nur ungenügend umgesetzt worden. Darüber hinaus schließe man sich der Kritik der Europäischen Kommission an, die bereits in ihrem Anwendungsbericht ein fehlendes Verfahren zur Identifizierung besonders schutzwürdiger Personen im AsylbLG kritisiert habe.30 25 http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/BAGFW_AsylbLG_Bundestag_040509.pdf (zuletzt abgerufen am 13. Januar 2011). 27 Abl. Nr. L 31 S. 18. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung auf der Internetseite der EU: http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/free_movement_of_persons_asylum_immigrat ion/l33150_de.htm (letzter Abruf am 5. September 2011). 28 Vgl. u.a. CLASSEN, Georg (2008). Sozialleistungen für MigrantInnen und Flüchtlinge. Handbuch für die Praxis, Karlsruhe, S. 117, Fn. 254. 29 Vgl. Fn 12, S. 570. 30 SCHREIBER, Frank (2010). Gesundheitsleistungen im europäischen Flüchtlingssozialrecht. Die mangelhafte Umsetzung der Aufnahme-Richtlinie 2003/9/EG in den §§ 4,6, AsylbLG. In: ZESAR, S. 109 ff.; JAN- DA/WILKSCH (2010), S. 572 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 10 5.4. Kritik an der medizinischen Versorgung von Menschen ohne Papiere Ärzte berichten, dass aufgrund der Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen gemäß § 87 Aufenth G viele Menschen in der Illegalität häufig zu spät zum Arzt gingen. Dadurch sei es dann sehr oft zu spät für präventive und andere therapeutische Maßnahmen. Ein schwerer und langer Krankheitsverlauf könne die Folge sein, zudem könne sich eine Chronifizierung der Beschwerden einstellen.31 6. Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) 6.1. Übermittlungspflicht gemäß § 87 AufenthG § 87 AufenthG32 regelt die Übermittlung von Daten durch öffentliche Stellen an die Ausländerbehörde oder an andere Behörden, die das Aufenthaltsgesetz ausführen. Öffentliche Stellen haben die Pflicht, ihnen bekannt gewordene Umstände auf Ersuchen mitzuteilen (§ 87 Abs. 1 Aufenth G). Eine Unterrichtungspflicht gegenüber der Ausländerbehörde besteht auch dann, wenn eine Behörde im Zusammenhang mit der Erfüllung ihrer Aufgaben Kenntnisse z.B. über den illegalen Aufenthalt eines Ausländers erlangt (87 Abs. 2 AufenthG).33 Erlangt eine Behörde ihre Kenntnisse lediglich bei Gelegenheit der Aufgabenwahrnehmung, so besteht keine Unterrichtungspflicht .34 Öffentliche Stellen des Bundes und der Länder im Sinne des AufenthG sind gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)35 die Behörden, die Organe der Rechtspflege und andere öffentlich-rechtlich organisierte Einrichtungen des Bundes, der bundesunmittelbaren Körperschaften , Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie deren Vereinigungen ungeachtet ihrer Rechtsform. Öffentliche Stellen der Länder sind die Behörden, die Organe der Rechtspflege und andere öffentlich-rechtlich organisierte Einrichtungen eines Landes, einer Gemeinde, eines Gemeindeverbandes und sonstiger der Aufsicht des Landes unterstehender juristischer Personen des öffentlichen Rechts sowie deren Vereinigungen ungeachtet ihrer Rechtsform. 6.2. Einschränkung der Übermittlungspflicht Die Übermittlungspflicht personenbezogener Daten gilt nicht für Berufsgruppen, die gemäß § 203 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) einer Schweigepflicht unterliegen. Darunter fallen zum Beispiel Ärzte, Zahnärzte oder Angehörige anderer Heilberufe, Berufspsychologen, Ehe-, Familien-, Erziehungs - oder Jugendberater, Mitglieder oder Beauftragte einer anerkannten Beratungsstelle, staat- 31 Vgl. Fn. 1, S. 16. 32 Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Juni 2011 (BGBl. I S. 1266) geändert worden ist. 33 Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 184. Ergänzungslieferung 2011, AufenthG § 87, Rn. 1. 34 Hailbronner, Kay, Ausländerrecht Kommentar, 65. Aktualisierung August 2009, § 87 Rn. 15. 35 Bundesdatenschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 2003 (BGBl. I S. 66), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 14. August 2009 (BGBl. I S. 2814) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 11 lich anerkannte Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen und Angehörige eines Unternehmens der privaten Kranken-, Unfall- oder Lebensversicherung (vgl. die vollständige Aufzählung nach § 203 Abs. 1 Nr. 1,2, 4 bis 6 StGB). Gemäß § 203 Abs. 3 StGB stehen den in Abs. 1 Nr. 1 StGB genannten Personen ihre berufsmäßig tätigen Gehilfen und die Personen gleich, die bei ihnen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind. Auch dieser Personenkreis unterliegt damit der Schweigepflicht. In der seit dem 26. Oktober 2009 gültigen „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz “ 36 wird klargestellt, dass zu den berufsmäßig tätigen Gehilfen der in § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB genannten Berufsgruppen auch das mit der Abrechnung befasste Verwaltungspersonal öffentlicher Krankenhäuser gehört. Damit unterliegt auch dieser Personenkreis der Schweigepflicht . Bis zu diesem Zeitpunkt war umstritten, wie weit der Kreis der Schweigepflichtigen zu ziehen war und ob die Abrechnungsstellen der Krankenhausverwaltungen als berufsmäßig tätige Gehilfen des medizinischen Personals einbeziehen waren oder nicht. Damit dürfen entsprechende Daten, die die Abrechnungsstellen zum Zweck der Abrechnung an das Sozialamt weiterleiten, gemäß § 88 Abs. 2 AufenthG nicht an die Ausländerbehörden weitergeleitet werden. Das Katholische Forum „Leben in der Illegalität“ wertet diese Klarstellung als große Erleichterung , weil Menschen ohne Papiere, die als Notfälle in ein Krankenhaus eingeliefert werden, keine Angst mehr vor der Aufdeckung ihres Status haben müssen und sich zudem die Chancen der öffentlichen Krankenhäuser, die Kosten von den Sozialämtern nach dem AsylbLG zumindest teilweise erstattet zu bekommen, erhöhen.37 6.3. Verfassungsmäßigkeit des § 87 AufenthG Außerhalb einer Notfallbehandlung muss ein Patient, der eine Finanzierung der Behandlung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wünscht, zunächst beim Sozialamt einen Krankenschein beantragen. In diesem Zusammenhang wird das Sozialamt die Papiere des Patienten verlangen und so den Aufenthaltsstatus des Patienten in Erfahrung bringen. Besitzt der Patient keinen erforderlichen Aufenthaltstitel und ist die Abschiebung auch nicht ausgesetzt, so ist das Sozialamt gemäß § 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verpflichtet, die zuständige Ausländerbehörde zu informieren. Nach der Erfahrung von Fachleuten stellt die Meldepflicht im AufenthG das zentrale Hindernis beim Zugang zu medizinischer Behandlung dar. Zwar gebe es nichtstaatliche Strukturen der medizinischen Hilfe, die auch Menschen ohne Papiere nutzen können, allerdings seien diese Anlaufstellen auf wenige deutsche Städte begrenzt und nur ein Bruchteil der betroffenen Personengruppe könne über diese Hilfsangebote erreicht werden. Zudem reichten die finanziellen Mittel solcher Hilfsangebote für eine hinreichende medizinische Versorgung nicht aus.38 Menschen oh- 36 GMBl. 2009 S. 878; abrufbar unter: http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/pdf/BMI-MI3-20091026- SF-A001.pdf (letzter Abruf am 6. September 2011). 37 Vgl. auch Katholisches Forum „Leben in der Illegalität“. Erläuterung zu ausgewählten Vorschriften aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 18.9.2009. Abrufbar unter: http://www.forumillegalitaet .de/mediapool/99/993476/data/Kath_Forum_Erlaeuterung_AVV_Aufenthaltsgesetz_1_.pdf (letzter Abruf am 2. September 2011). 38 Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität „Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutschland – Ihr Recht auf Gesundheit“. Abrufbar unter: http://www.dimr.eu/questions.php?questionid=168 (letzter Abruf am 2. September 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 12 ne Aufenthaltsrechte versuchten daher wegen der bestehenden Übermittlungspflichten einen Arztbesuch zu vermeiden.39 Die Verfassungsmäßigkeit des § 87 AufenthG wird von einigen Juristen in der wissenschaftlichen Literatur in Frage gestellt.40 Soweit ersichtlich, hat sich die Rechtsprechung bisher nicht mit dieser Frage beschäftigt. Die Kritik in der Literatur zielt auf die mögliche Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Die Regelungen aus § 87 AufenthG seien so unbestimmt, dass die Betroffenen nicht mehr wissen könnten, welche Daten die Ausländerbehörden zu ihrer Person beschaffen. Zudem würden Daten von Stellen erhoben, deren Aufgabe und Zielsetzung mit der der Ausländerbehörde tendenziell unvereinbar seien. Es bestehe auch die Gefahr einer unzulässigen Sammlung von Daten auf Vorrat ohne klare gesetzliche Grundlage.41 6.4. Vorschläge zur Änderung der Übermittlungspflicht Die Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen gemäß Art. 87 AufenthG wird von den meisten Stimmen in der Literatur als ein effektives Hindernis zur Wahrnehmung des Rechts auf Gesundheit gesehen. Es sei diesem Menschenrecht auch nicht angemessen, dass lediglich in Verwaltungsvorschriften Bedingungen für seine Wahrnehmung festgelegt seien.42 Die SPD-Fraktion hat am 24. November 2009 einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der vorsieht, dass die Übermittlungspflicht nicht mehr für alle Behörden gelten soll.43 Nur noch Behörden, deren Aufgabe die Gewährleistung der Gefahrenabwehr und die Strafrechtspflege sind, würden danach der Übermittlungspflicht unterliegen. 39 Siehe CYRUS, Norbert, Irreguläre Migration – Zum Stand der Diskussion menschenrechtlicher Ansätze in der Bundesrepublik Deutschland, ZAR 2010, 317 (318). 40 HUBER, Aufenthaltsgesetz, 1. Auflage 2010, § 87 AufenthG, Rn 3; Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 87 Rn. 5; Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 184. Ergänzungslieferung 2011, AufenthG § 87, Rn. 3, Petri, in GK-Aufenthaltsgesetz, März 2008, § 87 Rn. 24; a.A. Hailbronner, Kai, Ausländerrecht Kommentar, 65. Aktualisierung August 2009, § 87 Rn. 1; Bundesministerium des Innern, Illegal aufhältige Migranten in Deutschland, Februar 2007, S. 38 ff., abrufbar unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/MigrationIntegration/AsylZuwanderung/Pruefbe richt_Illegalitaet.html (letzter Abruf am 6. September 2011). 41 RENNER, Günter, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 87 AufenthG, Rn. 11. 42 FARAHAT, Anuscheh; GROSS, Thomas, Aktuelle Entwicklungen im humanitären Aufenthaltsrecht (Teil 2): Flüchtlingsrechtliche Schutzlücken und prekärer Aufenthalt, ZAR 2010, 341 (347) mit weiteren Nachweisen in Fn. 63; CYRUS, Norbert, Irreguläre Migration – Zum Stand der Diskussion menschenrechtlicher Ansätze in der Bundesrepublik Deutschland, ZAR 2010, 317 (319). 43 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes vom 24.11.2010 (BT-Drs. 17/56). Der Gesetzentwurf wurde nach der 1. Beratung am 26.11.2010 an die Ausschüsse verwiesen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 13 7. Lösungsansätze Durch nichtstaatliche Strukturen versuchen Ärzte und andere Berufsgruppen, die Defizite in der medizinischen Versorgung von Illegalen aufzufangen. Es gibt Beratungsstellen in verschiedenen Städten Deutschlands wie die MalteserMigrantenMedizin, die Büros der medizinischen Flüchtlingshilfe oder so genannten Medinetze, die Betroffene anonym an Ärzte ihres Netzwerks vermitteln .44 In Deutschland gibt es knapp 20 Netzwerke, die sich um die gesundheitliche Beratung und Vermittlung von Flüchtlingen ohne Papiere in eine Behandlung kümmern.45 Beim 113. Deutschen Ärztetag im Mai 2010 in Dresden haben die Delegierten die Einführung eines „anonymen Krankenscheins“ gefordert, der die medizinische Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus erleichtern soll.46 Auf diesem Krankenschein ist nicht zu erkennen , wer sich ärztlich behandeln lässt. Einen solchen anonymen Krankenschein fordern unter anderem auch die medizinische Beratungs- und Vermittlungsstelle für Flüchtlinge und Migrant Innen in Hamburg47 und das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Berlin (Medibüro).48 Der Stadtrat von München hatte im Jahr 2003 eine Studie zur medizinischen Versorgung von Menschen ohne Papiere in Auftrag gegeben, aus der mehrere Handlungsempfehlungen für die Stadtverwaltung abgeleitet wurden. Umgesetzt wurden unter anderem ein „Fonds zur medizinischen Notfallversorgung für Menschen ohne ausreichenden Versicherungsschutz“ und die Einrichtung von „Anlaufstellen für die Gesundheitsversorgung und Beratung von Menschen ohne Krankenversicherung mit und ohne Aufenthaltsstatus“. Schwangere Frauen erhalten drei Monate vor und nach der Entbindung einen Aufenthaltstitel.49 44 Vgl. Fn. 1, S. 17. 45 Information der Ärztekammer Nordrhein in Düsseldorf. Abrufbar unter: http://www.aekno.de/page.asp?pageID=8239#_04 (letzter Abruf am 7. September 2011). 46 Vgl. http://www.aekno.de/page.asp?pageId=8333&noredir=True (letzter Abruf am 7. September 2011). 47 Vgl. http://www.gesundheitsversorgung-fuer-alle.de/konzept%20anonymer%20krankenschein.pdf (letzter Abruf am 7. September 2011). 48 Vgl. auch Tageszeitung die taz vom 1. September 2011, S. 26: „Körting bremst anonyme Hilfe.“ 49 Vgl. IPPNW, Zugang zur Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland, Fachtagung am 19. November 2008, S. 10. Abrufbar unter: http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Newsletter_Anhaenge/144/Fachtag_MedVersorgungM enschenOhnePapiere_19Nov08.pdf. Vgl. auch die Information der Stadt München auf ihrer Homepage: http://www.muenchen.de/Rathaus/rgu/vorsorge_schutz/migration_und_gesundheit/160490/index.html# (letzter Abruf am 7. September 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 14 8. Recht auf Gesundheit im Europäischen Recht Die EU-Richtlinie 2003/9/EG vom 27. Januar 2003 über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten gilt grundsätzlich für Asylbewerber und alle Personen, die um internationalen Schutz bitten. Die Mitgliedstaaten müssen gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie dafür Sorge tragen, dass Asylbewerber die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten umfasst. Die medizinische und psychologische Betreuung sind während der gesamten Dauer des Verfahrens garantiert, um den Antragstellern und ihren Familien angemessene Lebensbedingungen zu ermöglichen. Opfer von Folter oder Gewalt haben Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen und posttraumatische Betreuung.50 Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union besagt, dass jede Person das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten hat. Bei der Festlegung und Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.51 Gemäß Art. 11 der Europäischen Sozialcharta verpflichten sich die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Schutz der Gesundheit zu gewährleisten. 9. Literaturverzeichnis CYRUS, Norbert. Irreguläre Migration – Zum Stand der Diskussion menschenrechtlicher Ansätze in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 30 (2010), 9, S. 317-321. ERBS, Georg; KOHLHAAS, Max, (2011). Strafrechtliche Nebengesetze, 184. Ergänzungslieferung, München. FARAHAT, Anuscheh; GROSS, Thomas. Aktuelle Entwicklungen im humanitären Aufenthaltsrecht (Teil 2): Flüchtlingsrechtliche Schutzlücken und prekärer Aufenthalt. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 30 (2010), 10, S. 341-348. FODOR, Ralf (2001). Rechtsgutachten zum Problemkomplex des Aufenthalts von ausländischen Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung in Deutschland. In: ALT, Jörg; FO- DOR, Ralf (Hrsg.), Rechtlos? Menschen ohne Papiere: Anregungen für eine Positionsbestimmung. Karlsruhe: von Loeper. HAILBRONNER, Kay (2009). Ausländerrecht Kommentar, 65. Aktualisierung. HEINTSCHEL-HEINEGG, Bernd (2011). Beck´scher Online Kommentar zum Strafgesetzbuch (StGB), München: Beck. HUBER, Bertold (2010): Aufenthaltsgesetz Kommentar, 1.Auflage München. 50 Vgl. Fn 26. 51 Abl. C 364 S. 01 vom 18. Dezember 2000. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-153/11 Seite 15 JANDA, Constanze; /WILKSCH, Florian. Das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem „Regelsatz- Urteil“ des BVerfG. In: Die Sozialgerichtsbarkeit. Zeitschrift für das aktuelle Sozialrecht (SGb), 57, (2010), 10, S. 565-574. LEITERER, Stephan (Hrsg.), Kasseler Kommentar zum SGB V, Stand: 1. April 2011 RENNER, Günter, (2011). Ausländerrecht Kommentar, 9. Auflage, München: Beck. ROLFS, Christian/GIESEN, Richard/KREIKEBOHM, Ralf/UDSCHING, Peter (Hrsg.), Beck´scher Online-Kommentar zum SGB, Stand 1.Juni 2011. SCHREIBER, Frank (2010). Gesundheitsleistungen im europäischen Flüchtlingssozialrecht: die mangelhafte Umsetzung der Aufnahme-Richtlinie 2003/9/EG in den §§ 4,6, AsylbLG. In: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR), 9 (2010), 3, S. 107-112.