© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 147/18 Steuervergünstigungen für tarifgebundene Unternehmen Verfassungsrechtliche Aspekte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 2 Steuervergünstigungen für tarifgebundene Unternehmen Verfassungsrechtliche Aspekte Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 147/18 Abschluss der Arbeit: 5. März 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 1.1. Bisherige gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie 4 1.2. Aktuelle Vorschläge zur Stärkung der Tarifbindung 5 2. Vorschlag des Bundesministers für Arbeit und Soziales 6 3. Steuervergünstigungen für tariflich gebundene Unternehmen aus verfassungsrechtlicher Sicht 7 3.1. Grundrecht der Koalitionsfreiheit 7 3.1.1. Tarifautonomie 8 3.1.2. Negative Koalitionsfreiheit 9 3.1.3. Zwischenergebnis 9 3.2. Berufsfreiheit 9 3.3. Allgemeiner Gleichheitssatz 10 3.3.1. Ungleichbehandlung 11 3.3.2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 11 3.3.3. Zwischenergebnis 12 4. Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 4 1. Einleitung In Deutschland ist bereits seit den 1990er-Jahren ein allgemeiner Rückgang der Tarifbindung zu beobachten, wobei das Ausmaß nach Branche und Betriebsgröße stark variiert.1 Die Gründe dafür sind vielfältig. Zu nennen sind etwa die Möglichkeit der Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung für die Arbeitgeber, aber auch ein sinkender Prozentsatz von Arbeitnehmern, die Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Besonders im Niedriglohnsektor und in den neuen Bundesländern setzen sich Tarifverträge als Regelungsinstrument nur schwer durch.2 Dabei gilt die Tarifautonomie und das System der Sozialpartnerschaft in Deutschland „seit Jahrzehnten als Garant für sozialen Ausgleich und Frieden.“3 Das Institut des Tarifvertrages trägt maßgeblich dazu bei, dass Mindestarbeitsbedingungen für Arbeitnehmer geschaffen werden (Schutzfunktion) und demzufolge ein Wettstreit um die Arbeitskosten nur im übertariflichen Bereich ermöglicht wird (Kartellfunktion).4 Nicht zuletzt kommt dem Tarifvertrag auch eine Friedensfunktion zu, da er grundsätzlich die Durchführung von Arbeitskämpfen für den Zeitraum seiner Gültigkeit verbietet. Anreizfunktionen zur Stärkung der Tarifbindung kann unbeschadet der Maßnahmen seitens der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auch der Gesetzgeber schaffen.5 1.1. Bisherige gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie Die kontinuierliche Abnahme der Tarifbindung in den letzten Jahrzehnten veranlasste den Gesetzgeber bereits in der 18. Wahlperiode zu Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie. Mit dem 2014 in Kraft getretenen Tarifautonomiestärkungsgesetz führte der Gesetzgeber unter anderem den allgemeinen Mindestlohn ein und reagierte damit auf den Umstand, dass die Ordnungsfunktion , die Tarifverträgen ebenfalls zukommt, durch eine zunehmende fragmentierte Arbeitswelt erheblich erschwert wird. Das Tarifeinheitsgesetz aus dem Jahr 2015 soll die Entstehung von Tarifkollisionen in einem Betrieb unterbinden und auf diese Weise die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie stützen. 1 Kohaut, Tarifbindung - der Abwärtstrend hält an, in: IAB Forum, Mai 2018, abrufbar im Internetauftritt des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit: https://www.iab-forum.de/tarifbindung-der-abwaertstrend-haelt-an/?pdf=7879 (zuletzt abgerufen am 28. Februar 2019). 2 Waltermann, Stärkung der Tarifautonomie - Welche Wege könnte man gehen? NZA 2014, S. 874. 3 Vgl. Deinert, Gesetzliche Anreize für die Verbandsmitgliedschaft zur Stärkung der Tarifbindung, SR 5/2017, S. 24. 4 Franzen in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (ErfK), 19. Auflage 2019, § 1 TVG Rn. 2. 5 Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, 2015, S. 110. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 5 Der Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode bekennt sich zwar zu einer Stärkung der Tarifbindung , enthält aber keine Ausführungen zu konkreten gesetzgeberischen Maßnahmen hierzu.6 1.2. Aktuelle Vorschläge zur Stärkung der Tarifbindung Der 70. Deutsche Juristentag (DJT) 2014 hat die Stärkung der Tarifautonomie als eines der zentralen Themen auf seine Agenda gesetzt und damit die Bedeutung der Tarifbindung in Deutschland hervorgehoben.7 Prof. Martin Franzen von der Ludwig-Maximilians-Universität München hat 2018 für das unter dem Dach der Hans-Böckler-Stiftung firmierende Hugo Sinzheimer Institut (HSI) ein Gutachten verfasst, in welchem er sich mit der Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt beschäftigt hat.8 Im Wesentlichen geht es ihm darum, die Gewerkschaftsmitglieder finanziell zu entlasten, um auf diese Weise die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft attraktiver zu machen . Starke Gewerkschaften seien die Voraussetzung dafür, dass es in Zukunft auch Arbeitgeberverbände gebe, denn ohne (starke) Gewerkschaften gebe es auch für die Arbeitgeber kein Bedürfnis sich zu organisieren.9 Franzen befürwortet deshalb eine einkommensteuerrechtliche Privilegierung des tarifgebundenen Arbeitsentgelts, die in maßvoller Höhe auch mit der Verfassung in Einklang zu bringen sei.10 Allerdings gibt er zu bedenken, dass die Tarifbindung der Beschäftigten maßgeblich von der Entscheidung des Arbeitgebers abhängig sei.11 Tarifgebundene Arbeitgeber könnten insoweit aber damit werben, dass die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer, die in der Gewerkschaft organisiert sind, über ein höheres Nettoeinkommen verfügten.12 Eine 2017 veröffentlichte Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln) bestreitet den Zusammenhang zwischen Tarifbindung und Tarifautonomie grundsätzlich. Theoretisch 6 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 51 Z. 2324 f., abrufbar im Internetauftritt der Bundesregierung: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018- 03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 (zuletzt abgerufen: 4. Februar 2019). 7 Vgl. die Thesen der Gutachter und Referenten des 70. DJT 2014, S. 17 ff., abrufbar im Internetauftritt des DJT: https://www.djt.de/fileadmin/downloads/70/djt_70_Thesen_140804.pdf (zuletzt abgerufen am 22. Februar 2019). 8 Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, HSI-Schriftenreihe, Band 27: https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/veroeffentlichungen/hsi-schriftenreihe.html (zuletzt abgerufen am 28. Februar 2019). 9 Franzen (Fn. 8), S. 20. 10 Franzen (Fn. 8), S. 61. 11 Franzen (Fn. 8), S. 33. 12 Franzen (Fn. 8), S. 78. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 6 lasse sich weder ein optimales Modell der Lohnfindung noch ein optimaler Tarifbindungsgrad ableiten. Aus ökonomischer Sicht sollten beide Koalitionsfreiheiten geschützt werden. Eine Stärkung der Tarifbindung könne dabei durchaus wünschenswert sein. Dies zu erreichen, sei aber in erster Linie eine Aufgabe der Tarifparteien selbst. Der Staat könne lediglich den ordnungspolitischen Rahmen dafür setzen.13 2. Vorschlag des Bundesministers für Arbeit und Soziales Der Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil hat in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung am 13. Dezember 2018 über Anreize für eine höhere Tarifbindung in Deutschland gesprochen und den Vorschlag unterbreitet, tarifgebundenen Unternehmen einen Steuerrabatt zu gewähren. Zur Begründung führt der Minister das Argument an, dass die Tarifbindung eine Art öffentliches Gut sei, die vom Gesetzgeber in Form von Steuervergünstigungen belohnt werden könne.14 Zudem könnten Aufträge der öffentlichen Hand nur noch an Unternehmen gehen, die sich an die Tarifverträge ihrer jeweiligen Branche halten. Schriftliche Dokumente gibt es zu dem Vorschlag Heils zum jetzigen Zeitpunkt soweit ersichtlich noch nicht. Anders als Franzen nimmt Heil mit seinem Vorschlag die Arbeitgeber in den Fokus. Die Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz - TVG) setzt voraus, dass die Arbeitnehmer in der zuständigen Gewerkschaft organisiert sind und der Arbeitgeber entweder Mitglied im Arbeitgeberverband oder selbst Partei des Tarifvertrags ist. Die Frage, ob die Arbeitnehmer in einem Betrieb gebunden sind, stellt sich allerdings nur, wenn auch ihr Arbeitgeber gebunden ist.15 Die Tarifbindung hängt somit maßgeblich von der Entscheidung des Arbeitgebers, sich an ein tarifliches Regelwerk binden lassen zu wollen, ab. Von der Vergünstigung betroffen wären zum einen Unternehmen als Arbeitgeber, die entweder in einem Arbeitgeberverband organisiert sind und einem Verbandstarifvertrag für ihre Branche unterliegen oder Unternehmen, die selbst als Tarifvertragspartei mit der Gewerkschaft einen Haus- beziehungsweise Firmentarifvertrag ausgehandelt haben. 13 Lesch/Vogel/Busshoff/Giza, Stärkung der Tarifbindung - Ordnungspolitische Überlegungen, empirische Erkenntnisse und offene Fragen, IW-Analysen Nr.120, 2017, S. 67, abrufbar im Internetauftritt des IW Köln: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/IW-Analysen/PDF/2017/IW-Analyse_2017_20_Tarifbindung .pdf (zuletzt abgerufen am 28. Februar 2019). 14 Wir sollten tarifgebundene Firmen belohnen, in: Stuttgarter Zeitung vom 14. Dezember 2018, S. 4, abrufbar im Pressearchiv des Deutschen Bundestages: http://prarchiv.bundestag.btg/PressDok/docview.html;sessionid =9CA52FCCE6C5CF704365CF38?&mode=pressarchive&doclist=DBT%3APressArchiveResultServlet%3Aresult _doclist&n=2&pdf=1&selected=false;void(0) (zuletzt abgerufen am 21. Februar 2019); das Interview ist auch abrufbar im Internetauftritt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS): https://www.bmas.de/DE/Presse/Interviews/2018/2018-12-14-stuttgarter-zeitung.html (zuletzt abgerufen am 21. Februar 2019). 15 Dorssemont/Walser, Die Tarifbindung der Arbeitgeber – Ausgewählte juristische Faktoren mit fördernder oder schwächender Wirkung auf die Tarifbindung, SR 2/2015, S. 41. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 7 Der Vorschlag ist jedoch auch auf juristische Zweifel gestoßen. Der Arbeitsrechtler Gregor Thüsing betonte beispielsweise einem Bericht des Handelsblatts zufolge, dass auch die Freiheit, nicht einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband beizutreten, verfassungsrechtlich geschützt sei. Inadäquate Anreize zum Beitritt dürfe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Tarifvertrag schaffen und eben auch der Staat nicht.16 Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeber Baden-Württemberg, weist wie die weiter oben erwähnte Studie des IW Köln darauf hin, dass die Hauptverantwortung für die Attraktivität der Tarifbindung bei den Tarifparteien liege.17 Steuervergünstigungen für tarifgebundene Unternehmen seien auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive unhaltbar. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Ingo Kramer äußerte ebenfalls Bedenken hinsichtlich des Vorschlags, denn die Tarifbindung sei ein „schützenswertes Prinzip“, welches aber auf Freiwilligkeit basiere und nicht erzwungen werden könne.18 3. Steuervergünstigungen für tariflich gebundene Unternehmen aus verfassungsrechtlicher Sicht Zu dem Vorschlag des Bundesarbeitsministers ergeben sich, wie dargestellt, verfassungsrechtliche Fragen. Im Folgenden werden einige Aspekte dargestellt. 3.1. Grundrecht der Koalitionsfreiheit Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) besagt nach seinem Wortlaut, dass das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, für jedermann und für alle Berufe gewährleistet ist. Dieses Grundrecht schützt die freiheitliche Bildung von Koalitionen. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer haben das Recht, sich in Berufsverbänden zu organisieren, weshalb auch 16 Steuerrabatte für Tarifbindung: Forderung von Arbeitsminister Heil stößt auf deutliche Kritik, in: Handelsblatt vom 14. Dezember 2018, S. 12, abrufbar im Internet: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/massive -benachteiligung-steuerrabatte-fuer-tarifbindung-forderung-von-arbeitsminister-heil-stoesst-auf-deutlichekritik /23756306.html?ticket=ST-1019053-DGXGVFVrYl7TSp0drabK-ap6 (zuletzt abgerufen am 30. Januar 2019). 17 Arbeitgeber: Vorschlag verfassungsrechtlich unhaltbar, in: Stuttgarter Zeitung vom 13. Dezember 2018, S. 4: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kritik-am-heil-vorstoss-arbeitgeber-vorschlag-verfassungsrechtlichunhaltbar .275b2ea1-0c05-4eb6-ba77-5e711d53430f.html (zuletzt abgerufen am 22. Februar 2019). 18 Arbeitgeber: Vorschlag verfassungsrechtlich unhaltbar, in: Stuttgarter Zeitung vom 13. Dezember 2018 (Fn.17), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 8 beide Tarifvertragsparteien - Arbeitgeberverbände auf der einen und Gewerkschaften auf der anderen Seite - den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG genießen. Art. 9 Abs. 3 GG schützt darüber hinaus die gesicherte Funktionsentfaltung der Koalitionen19 und garantiert damit Tarifautonomie. 3.1.1. Tarifautonomie Unter Tarifautonomie versteht man das Recht der Tarifvertragsparteien, die Arbeitsbedingungen im Rahmen von Tarifverträgen unabhängig von staatlicher Kontrolle oder von Interventionen seitens des Staates aushandeln zu können. Sie räumt den Tarifvertragsparteien einen umfassenden Gestaltungsspielraum bei der Aushandlung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ein und enthält zugleich die Verpflichtung für den Staat, sich prinzipiell neutral zu verhalten.20 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärt die grundsätzliche Neutralitätspflicht des Staates damit, dass die Beteiligten beim Abschluss von Tarifverträgen in eigener Verantwortung und frei von staatlicher Einflussnahme agieren können sollen.21 Die staatliche Neutralitätspflicht ist aber nicht als absolutes Verbot zu verstehen, welches dem Staat per se verbietet, eigene Regeln für die Tarifvertragsparteien aufzustellen. Die Neutralitätspflicht ist nicht mit staatlicher Passivität gleichzusetzen, sondern beinhaltet nur die Pflicht des Staates zur Zurückhaltung gegenüber einem funktionierenden Koalitionsverfahren. Wenn die Funktionsfähigkeit des Koalitionsverfahrens jedoch bedroht ist, ist der Staat berechtigt, zu intervenieren und aktiv Maßnahmen gegen diese Bedrohung einzuleiten.22 Nimmt man an, dass die Funktionsfähigkeit des Koalitionsverfahrens durch die schwindende Tarifbindung insgesamt bedroht ist, dann ist der Staat zu einem Eingriff berechtigt. In diesem Fall dürfte die Gewährung von Steuervergünstigungen für tariflich gebundenen Unternehmern nicht gegen die grundsätzliche Neutralitätspflicht des Staates verstoßen. Gestützt wird eine solche Argumentation durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, das das Tarifeinheitsgesetz, mit welchem der Gesetzgeber ebenfalls seine staatliche Neutralitätspflicht durchbrochen hat, für weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat. Das Gericht führt in seinem Urteil vom 11. Juli 2017 aus, dass gesetzliche Regelungen, die darauf abzielen, die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie sicherzustellen, zwar den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG tangieren, jedoch einen legitimen Zweck verfolgen würden. Der Gesetzgeber dürfe allerdings aufgrund seiner Neutralitätspflicht nicht das Kräfteverhältnis der Koalitionen 19 Maunz-Dürig/Scholz, 84. EL August 2018, GG Art. 9 Rn. 159; BVerfG, Urteil vom 4. Juli 1995 - 1 BvF 2/86. 20 Maunz-Dürig/Scholz, 84. EL August 2018, GG, Art. 9 Rn. 165. 21 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 - 1 BvR 532/77 u.a. 22 Maunz-Dürig/Scholz, 84. EL August 2018, GG Art. 9 Rn. 284. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 9 gezielt beeinflussen, indem er schwächeren Verbänden mehr Durchsetzungsfähigkeit verleiht oder versucht, starke Verbände auszubremsen.23 3.1.2. Negative Koalitionsfreiheit Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG erfasst ebenfalls die negative Koalitionsfreiheit, nach welcher sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber das Recht haben, aus einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband auszutreten oder einer solchen Organisation gänzlich fernzubleiben .24 Die negative Koalitionsfreiheit kann demzufolge als Fernbleiberecht verstanden werden : Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen frei darüber entscheiden können, ob sie in der Gewerkschaft oder einem Verband beitreten möchten oder nicht. Sofern sie dies ablehnen, darf von staatlicher Seite aus kein Zwang oder unzumutbarer Druck in Form von gesetzlichen Regelungen zum Beitritt ausgehen.25 Eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit ist allerdings nicht bereits in jeder Ungleichbehandlung von organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern oder Arbeitgebern zu sehen. Ein Grundrechtsverstoß kann vielmehr erst dann bejaht werden, wenn Nichtorganisierte einem erheblichen Zwang oder Druck ausgesetzt werden, der sie dazu animieren soll, einer Koalition beizutreten.26 Ein von einer Regelung oder Maßnahme ausgehender bloßer Anreiz zum Beitritt erfüllt diese Voraussetzung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht.27 3.1.3. Zwischenergebnis Steuervergünstigungen für tariflich gebundene Unternehmen dürften mithin keine Verletzung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellen. 3.2. Berufsfreiheit Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Zulässigkeit von Steuervergünstigungen ist auch das Grundrecht auf Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG in den Blick zu nehmen. Arbeitgeber 23 BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. 24 ErfK/Linsenmaier, 19. Auflage 2019, GG Art. 9 Rn. 32. 25 Franzen (Fn. 8), S. 50. 26 BVerfG, Beschluss vom 20. Juli 1971 - 1 BvR 13/69. 27 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00 Rn. 66 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 10 ohne Tarifbindung, die demzufolge in steuerlicher Hinsicht keine Begünstigung erfahren würden , könnten in ihrer Berufsfreiheit verletzt sein. Art. 12 GG schützt als einheitliches Grundrecht sowohl die Berufswahl als auch die Berufsausübung . Die Versagung von Steuerrabatten für nicht tarifgebundene Unternehmen könnte allenfalls die Berufsausübungsfreiheit berühren. Bei der Frage, wann steuerliche Regelungen sich an Art. 12 GG messen lassen müssen, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung hervorgehoben, dass die Vorschriften in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs stehen und zudem eine objektiv berufsregelnde Tendenz erkennen lassen müssen.28 Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass es nicht um die Erhebung einer Steuer, sondern gerade um die steuerliche Privilegierung bestimmter Arbeitgeber geht, an die sich die Vergünstigung richten soll. Die übrigen Unternehmer würden weder ganz noch teilweise daran gehindert, ihre unternehmerische Tätigkeit weiterhin auszuüben. Ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit ist vor diesem Hintergrund eher fernliegend. Zudem reichen im Falle des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit bereits vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls zur Rechtfertigung aus (sogenannte Drei-Stufen-Lehre des BVerfG)29. Mithin dürfte Art. 12 Abs. 1 GG einem Steuerrabatt für tariflich gebundene Arbeitgeber nicht entgegenstehen . 3.3. Allgemeiner Gleichheitssatz Des Weiteren steht in Frage, ob Steuervergünstigungen für tariflich gebundene Unternehmen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang zu bringen wären. Art. 3 Abs. 1 GG formuliert: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Angesprochen ist damit dem Wortlaut nach lediglich die Rechtsanwendungsgleichheit. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gleichheitssatz aber seit jeher auch auf den Gesetzgeber bezogen und Art. 3 Abs. 1 GG eine Garantie auch der Rechtsetzungsgleichheit entnommen. Es leitet aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG das Verbot ab, „wesentlich Gleiches […] ungleich oder wesentlich Ungleiches […] gleich zu behandeln“, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund dafür gegeben ist.30 Daraus folgt, dass Ungleichbehandlungen von im Wesentlichen gleichen Personengruppen nur zulässig sind, wenn es für die Ungleichbehandlung einen sachlichen Grund gibt. 28 BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 1961 - 1 BvR 833/59. 29 Siehe etwa BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2008 - 1 BvR 1295/07. 30 BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1951 - 2 BvG 1/51B, VerfG E 1, 14 (52). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 11 3.3.1. Ungleichbehandlung Sollten tarifgebundene Arbeitgeber gegenüber nicht tarifgebundenen Arbeitgebern trotz gleicher finanzieller Leistungsfähigkeit eine Steuerprivilegierung erhalten, dann hätte dies zur Folge, dass letztere in steuerlicher Hinsicht eine ungleiche Behandlung erführen. Die Entscheidung, die Höhe zu zahlender Steuern an die finanzielle Leistungsfähigkeit des Einzelnen zu knüpfen, ist hierbei als Ausfluss des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen.31 Personen mit gleicher finanzieller Leistungsfähigkeit haben deshalb auch grundsätzlich gleich hohe Steuern zu entrichten , damit auf diese Weise Lastengleichheit erzeugt werden kann. 3.3.2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegt aber dann nicht vor, wenn die Ungleichbehandlung durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden kann. Neben der finanziellen Leistungsfähigkeit als Differenzierungskriterium lässt das Bundesverfassungsgericht auch andere Zwecke zu, welche geeignet sein können, eine steuerliche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen: Als potentieller Rechtfertigungsgrund kann hierbei die Förderung eines bestimmten Verhaltens angesehen werden, welches der Gesetzgeber aus sozialen oder gesellschaftspolitischen Erwägungen für wünschenswert hält. Dabei betont das Bundesverfassungsgericht den weiten Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers, der zwar durch den Gleichheitssatz beschränkt werden könne, allerdings nur insoweit, als die Differenzierung keine sachlichen Gesichtspunkte erkennen lasse und demzufolge willkürlich erscheine.32 Aufgrund des weiten Gestaltungsspielraums habe der Steuergesetzgeber die Möglichkeit, außerfiskalische Lenkungs- und Subventionszwecke aus Gründen des Gemeinwohls zu verfolgen.33 Eine Abweichung vom grundsätzlich zu beachtenden Leistungsfähigkeitsprinzip wird somit bei der Verfolgung zulässiger Lenkungszwecke möglich.34 Tarifverträge sorgen für verlässliche Mindestarbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer und dienen deren sozialem Schutz. Es dürfte daher angenommen werden können, dass Schutz und Stärkung der Tarifbindung einen überragenden Gemeinwohlbelang darstellen,35 der geeignet sein könnte, als sachlicher Grund eine steuerliche Ungleichbehandlung zwischen tarifgebundenen 31 Beck‘scher Online-Kommentar zum Grundgesetz/Kischel, 39. Ed. 15.11.2018, GG Art. 3 Rn. 147. 32 BVerfG, Urteil vom 20. April 2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00. 33 BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1995 – 2 BvL 37/91; BeckOK Grundgesetz/Kischel, 39. Ed. 15.11.2018, GG Art. 3 Rn. 158. 34 BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2014 – 1 BvR 1656/09. 35 Vgl. z.B. Franzen (Fn. 8), S. 48. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 147/18 Seite 12 und nicht tarifgebundenen Arbeitgebern zu rechtfertigen. Denn die Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber soll dazu dienen, die Tarifbindung der Arbeitgeber zu fördern. 3.3.3. Zwischenergebnis Durch Steuervergünstigungen für tariflich gebundene Arbeitnehmer dürfte der allgemeine Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG mithin nicht verletzt werden, soweit sie in ihrem Umfang im Verhältnis zum angestrebten Zweck angemessen und verhältnismäßig sind. Der Gesetzgeber würde damit lediglich von seinem umfassenden Gestaltungsspielraum, der ihm in steuerrechtlichen Angelegenheiten zugebilligt wird, Gebrauch machen, der auch die Verfolgung außerfiskalischer Lenkungsziele zulässt. 4. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der vom Bundesminister für Arbeit und Soziales unterbreitete Vorschlag, tarifgebundene Arbeitgeber zur Förderung der Tarifbindung in Deutschland steuerlich zu privilegieren, grundsätzlich mit der Verfassung zu vereinbaren wäre. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die zu den verfassungsrechtlichen Aspekten vorgenommenen Überlegungen nur allgemeiner Natur sein können, da zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Konkretisierung dieses Vorschlags vorliegt. ***