© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 138/19 Verfassungsrechtliche Aspekte eines Verbots der Arbeitnehmerüberlassung in den Pflegebereich Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Andere gesetzgeberische Maßnahmen 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 4 1. Fragestellung Die Bundesagentur für Arbeit (BA) stellt in einem Bericht vom Mai 2019 fest, dass die Zahl der Leiharbeitnehmer in der Alten- und Krankenpflege in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat: Während 2014 in der Krankenpflege 12.000 Leiharbeitnehmer tätig gewesen seien, seien es 2018 bereits 22.000 gewesen. Auch in der Altenpflege sei die Zahl der Leiharbeitnehmer von 8.000 auf 12.000 merklich gestiegen. Immer mehr Pflegekräfte scheinen sich dem Bericht zufolge für eine Beschäftigung über ein Leiharbeitsunternehmen zu entscheiden, weil diese mit überdurchschnittlichen Löhnen, Mitbestimmungsrechten bei Dienstplänen und bezahlten Überstunden werben.1 Weil immer mehr Pflegekräfte sich zulasten des verbleibenden Stammpersonals für einen Wechsel in die Zeitarbeit entschieden, hat die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci Ende Oktober 2019 angekündigt, eine Bundesratsinitiative für ein Verbot der Leiharbeit im Bereich der Pflege starten zu wollen.2 Dieser Arbeit liegt die abstrakte Frage zugrunde, ob ein solches Verbot mit dem Grundgesetz vereinbar wäre.3 Eine entsprechende Gesetzesinitiative liegt - soweit ersichtlich - noch nicht vor. Auch detailliertere Angaben zur vorgesehenen Ausgestaltung eines solchen sektoralen Verbots der Arbeitnehmerüberlassung in die Pflege fehlen derzeit ebenso wie eine gesetzgeberische Begründung . Nicht bekannt sind schließlich belastbare Daten und Erkenntnisse zur Situation der Beschäftigten im Pflegebereich und zu den tatsächlichen Auswirkungen des beobachteten Anstiegs der Arbeitnehmerüberlassung in diesem Teilarbeitsmarkt. Eine abschließende verfassungsrechtliche Bewertung des angekündigten Leiharbeitsverbots ist auf dieser Grundlage nicht möglich . Ein branchenbezogenes gesetzliches Verbot der Arbeitnehmerüberlassung gibt es derzeit ausschließlich für das Baugewerbe nach § 1b Satz 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG)4. Es kommt insoweit als Modelltatbestand und Begründungsmaßstab in Betracht. Aus der damit verbundenen verfassungsrechtlichen Diskussion können grundlegende Anhaltspunkte abgeleitet werden. 1 BA Statistik: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt: Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, Mai 2019, Nürnberg: BA, S. 9; abrufbar im Internetauftritt der BA Statistik: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berufe/generische-Publikationen/Altenpflege .pdf (letzter Abruf: 13. Februar 2020). 2 Vgl. Berlin will Zeitarbeit in der Pflege verbieten, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 2019, S. 15. 3 Zur Vereinbarkeit eines Leiharbeitsverbots in der Pflege mit Unionsrecht vgl. Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste: Zur Vereinbarkeit eines Verbots des Einsatzes von Leiharbeitern im Pflege - und Krankenhausbereich mit dem Unionsrecht, Ausarbeitung PE 6-3000-110/19 vom 18. Dezember 2019, Berlin: Deutscher Bundestag. 4 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in der Fassung vom 3. Februar 1995 (BGBl. 1995 I S. 258), das zuletzt durch Artikel 48 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl. I 2019 S. 1307) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 5 2. Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in das Baugewerbe § 1b Satz 1 AÜG legt den Grundsatz fest, dass die Arbeitnehmerüberlassung in Betriebe des Baugewerbes für Arbeiten, die üblicherweise von Arbeitern verrichtet werden, unzulässig ist. Davon ausgenommen sind gemäß § 1b Satz 2 Buchstaben a) und b) AÜG Arbeitnehmerüberlassungen zwischen Betrieben, die ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag bestimmt, oder wenn der verleihende Betrieb seit über drei Jahren von denselben Rahmen- und Sozialkassentarifverträgen oder von deren Allgemeinverbindlichkeit erfasst ist. Eine weitere Ausnahme statuiert § 1b Satz 3 AÜG unter bestimmten Voraussetzungen für Betriebe des Baugewerbes mit Geschäftssitz in einem anderen Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraumes. 2.1. Entstehungsgeschichte Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein generelles Verbot der Arbeitnehmerüberlassung mit Urteil vom 4. April 19675 für unvereinbar mit dem Grundrecht der freien Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) erklärt hatte, war Leiharbeit in allen Wirtschaftszweigen , auch im Baugewerbe, zulässig und wurde durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom 7. August 1972 geregelt. Im weiteren Verlauf stellte die Bundesregierung fest, dass sich im Bereich der Bauwirtschaft „unter den besonderen Bedingungen der Tätigkeit häufig wechselnder Arbeitnehmer auf wechselnden Baustellen unter dem Deckmantel der zugelassenen Arbeitnehmerüberlassung der illegale Arbeitskräfteverleih ausgedehnt hat.“ 6 Darin erkannte der Gesetzgeber eine Gefährdung der Ordnung des Arbeitsmarktes in der Bauwirtschaft . Artikel 1 § 1 des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 22. Dezember 1981 normierte daher in §12a des damaligen Arbeitsförderungsgesetzes mit Wirkung vom 1. Januar 1982 ein generelles Verbot der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die relativ hohe Zahl der legal und illegal tätigen Leiharbeitnehmer führt vornehmlich im Baugewerbe zu besonders nachteiligen Auswirkungen. Auf Leiharbeitnehmer finden die Tarifverträge des Wirtschaftszweiges, in dem sie eingesetzt werden, keine Anwendung. Daher bleibt ein bedeutender Teil der im Baugewerbe tatsächlich tätigen Arbeitnehmer vom sozialen Schutz der auf ihre Tätigkeit zugeschnittenen tariflichen Regelungen ausgeschlossen. Diese Arbeitnehmer erhalten insbesondere keine Leistungen von den Sozialkassen der Bauwirtschaft , der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse und der Zusatzversorgungskasse (Einrichtung und Tätigkeit der Kassen beruhen auf Tarifverträgen, die für allgemeinverbindlich erklärt worden sind). Unternehmen, die Leiharbeitnehmer verleihen, haben einen erheblichen Wettbewerbsvorsprung gegenüber Bauunternehmen, die nur Stammarbeitnehmer beschäftigen, weil Verleiher 5 BVerfG, Urteil vom 4. April 1967 – 1 BvR 84/65 – BVerfGE 21, 261, 267 f. 6 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 28. September 1981, Bundestagsdrucksache 9/846, S. 33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 6 für ihre im Baugewerbe tätigen Arbeitnehmer insbesondere auch keine Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes entrichten […]. Auch die Verleiher, die in die Bauwirtschaft verleihen , haben Wettbewerbsvorteile gegenüber Bauunternehmen, die ähnliche Leistungen im Rahmen von Werkverträgen erbringen.“7 Das branchenbezogene Verbot der Arbeitnehmerüberlassung verfolgte damit drei Ziele: Sie sollte der Zunahme illegaler Beschäftigung von betriebsfremden Arbeitern auf Baustellen entgegenwirken , die Sozialkassen des Baugewerbes stärken und Wettbewerbsvorteile für Bauunternehmen ausschließen, die verstärkt mit Leiharbeitnehmern wirtschafteten. Zusammen mit den im gleichzeitig in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung vom 15. Dezember 1981 vorgesehenen Maßnahmen gegen illegale Leiharbeit und Schwarzarbeit, die jedoch allein zur Wiederherstellung der Teilarbeitsmarktordnung nicht ausreichten, sollte die Regelung zur Umwandlung illegaler in legale Arbeitsverhältnisse führen.8 Später wurde das Verbot durch dem heutigen § 1b Satz 2 AÜG entsprechende Ausnahmen ergänzt . Die Regelung des § 12a AFG wurde durch Artikel 63 des Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung vom 24. März 1997 mit Wirkung vom 1. Januar 1998 als § 1b in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz überführt. Durch das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 22. Dezember 2003 wurde die weitere Ausnahme des § 1b Satz 3 AÜG angefügt, die der Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Rechnung trug, dass § 1b AÜG gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße.9 2.2. Verfassungsrechtliche Diskussion 2.2.1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 12a AFG Das Bundesverfassungsgericht, das sich bereits unmittelbar nach Einführung des § 12a AFG im Rahmen mehrerer Verfassungsbeschwerden mit dessen Verfassungsmäßigkeit zu befassen hatte, stellte mit Beschluss vom 6. Oktober 1987 die Vereinbarkeit des (damals noch ausnahmslos geltenden ) sektoralen Leiharbeitsverbots mit dem Grundgesetz fest.10 Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist dabei allein Art. 12 Abs. 1 GG, der die Berufsfreiheit garantiert und in die das sektorale Arbeitnehmerüberlassungsverbot eingreife. Der 7 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 28. September 1981, Bundestagsdrucksache 9/846, S. 35. 8 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 28. September 1981, Bundestagsdrucksache 9/846, S. 33, 36. 9 EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2001 - Rs. C 493/99. 10 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1BvR 1623/82. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 7 Schutz des Eigentums aus Art. 14 GG sei demgegenüber nicht betroffen,11 auch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 GG liegt danach nicht vor.12 Das Arbeitnehmerüberlassungsverbot berührt nach Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht die Berufswahlfreiheit der Verleiher im Baugewerbe, da die verbotene Verleihtätigkeit keinen eigenständigen Beruf darstelle, sondern eine Berufsausübungsregelung sei. Jedoch werde die Berufstätigkeit solcher Verleiher, die vorrangig in das Baugewerbe verliehen hatten, spürbar eingeschränkt, sodass das Verbot wegen seiner Auswirkungen einem Eingriff in die Freiheit der Berufswahl nahekomme. Deshalb könne es nicht mit jeder vernünftigen Erwägung des Gemeinwohls gerechtfertigt werden, sondern nur durch besonders schwerwiegende Allgemeininteressen .13 Das Bundesverfassungsgericht hat aber in diesem Zusammenhang den weiten Beurteilungsund Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung und dessen Einschätzungs- und Prognoseprärogative hervorgehoben: „Es ist vornehmlich Sache des Gesetzgebers, auf der Grundlage seiner wirtschafts-, arbeitsmarkt - und sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Gebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will. Auch bei der Prognose und Einschätzung gewisser der Allgemeinheit drohender Gefahren, zu deren Verhütung der Gesetzgeber glaubt tätig werden zu müssen, billigt ihm die Verfassung einen Beurteilungsspielraum zu […].“14 Die Wiederherstellung der gestörten Ordnung auf dem Teilarbeitsmarkt des Baugewerbes mit dem Ziel der Sicherung eines geordneten Arbeitsmarktes und einer stabilen arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Situation abhängig Beschäftigter und die Sicherung der finanziellen Stabilität der Träger der Sozialversicherung, denen durch verschiedene Formen illegaler Leiharbeit Beitragsverluste in erheblicher Höhe entstünden, seien gleichermaßen bedeutende Gemeinwohlbelange . Die insoweit in der zitierten Gesetzesbegründung (siehe oben 2.1, S. 5) dargelegte Annahme des Gesetzgebers lasse sich nicht als unvertretbar oder nachweislich unrichtig entkräften .15 11 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1BvR 1623/82, Rn. 105 ff., zitiert nach juris. 12 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1BvR 1623/82, Rn. 109 ff., zitiert nach juris. 13 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1BvR 1623/82, Rn. 73 f., zitiert nach juris. 14 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1BvR 1623/82, Rn. 75, zitiert nach juris . 15 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1BvR 1623/82, Rn. 77 ff., zitiert nach juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 8 2.2.2. Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen Trotz der verfassungsgerichtlichen Bestätigung des sektoralen Arbeitnehmerüberlassungsverbots stand die Regelung des § 1b AÜG in der Folge immer wieder in der Kritik. So hielt Hanau es in seinem Gutachten für den 63. Deutschen Juristentag 2000 für eine „Absurdität“, dass die Regelung , um illegale Leiharbeit zu unterbinden, legale Arbeitnehmerüberlassung verbiete, und empfahl daher im Zusammenhang mit Vorschlägen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts deren Abschaffung .16 Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen der Arbeitnehmerüberlassung erheblich verändert, sodass im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vielfach angenommen wird, dass das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in das Baugewerbe verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, weil sich die Gefahrenprognose des Gesetzgebers unter den heutigen Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten lasse. So seien bereits durch die Einführung des Sozialversicherungsausweises zum 13. Oktober 198917 sowie die Verbesserung der Möglichkeiten zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten erheblich verbessert worden, Wettbewerbsverzerrungen und Beeinträchtigungen der Sozialkassen des Baugewerbes seien inzwischen durch § 8 Abs. 3 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG)18 ausgeschlossen. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auch auf die Begrenzung einer Ausnahme der Leiharbeitnehmer von tariflichen Sozialleistungen des Baugewerbes durch das Gleichstellungsgebot nach § 8 AÜG und das Zugangsrecht nach § 13b AÜG.19 16 Hanau, Peter: Welche arbeits- und ergänzenden sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit?, Gutachten C für den 63. Deutschen Juristentag, S. 72 f.; vgl. auch Buchner, Herbert: Welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, NZA 2000, S. 905, 912. 17 Gesetz zur Einführung eines Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze vom 6. Oktober 1989, BGBl. I 1989 S. 1822. 18 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) vom 20. April 2009, (BGBl. I 2009 S. 799), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. November 2019 (BGBl. I 2019 S. 1756) geändert worden ist. 19 Vgl. z.B. Boemke. Burkhard, Die EG-Leiharbeitsrichtlinie und ihre Einflüsse auf das deutsche Recht, in: RIW 2009, S. 178, 182; Ulrici, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Handkommentar, 1. Auflage 2017, § 1b AÜG, Rn. 3 f.; Hamann, in Schüren/Hamann Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 5. Auflage 2018, § 1b AÜG, Rn. 18; Kock, in Beck‘scher Online-Kommentar Arbeitsrecht (BeckOK ArbR), 53. Edition, Stand: 1. September 2019, jeweils mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 9 3. Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in den Pflegesektor 3.1. Grundrechtseingriff Ein branchenbezogenes Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in den Pflegebereich wäre nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Eingriff in den Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG. Obwohl es sich dabei nur um eine Berufsausübungsregelung handelte, könnte ein solches sektorales Leiharbeitsverbot wegen der Intensität des Grundrechtseingriffs nur durch besonders schwerwiegende Allgemeininteressen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die Ordnung in dem betroffenen Teilarbeitsmarkt erheblich gestört und eine Wiederherstellung der Ordnung im Interesse der arbeits- und sozialrechtlichen Situation der Arbeitnehmer in diesem Teilarbeitsmarkt oder zur Abwendung eines Pflegenotstands bzw. einer ernsthaften Einschränkung des Pflegestandards erforderlich wäre. Ob infolge der Zunahme der Arbeitnehmerüberlassung eine solche Situation im Teilarbeitsmarkt der Pflege aktuell gegeben ist oder befürchtet werden muss, lässt sich ohne konkrete weitere Erkenntnisse nicht beurteilen. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Diskussion zum Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in das Baugewerbe sind die Voraussetzungen aber sehr kritisch zu prüfen. 3.2. Andere gesetzgeberische Maßnahmen In jüngster Zeit sind bereits gesetzgeberische Maßnahmen in Kraft getreten, die eine Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen und eine Abnahme der Zeitarbeit im Bereich der Pflege zum Ziel haben. Zwar betont das Bundesverfassungsgericht den weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber muss auch nicht abwarten, bis befürchtete Störungen tatsächlich eintreten, sondern darf bereits bei hinreichendem Verdacht einschreiten. Schließlich ist es ihm nicht grundsätzlich verwehrt, dasselbe Ziel gleichzeitig mit mehreren unterschiedlichen Maßnahmen anzustreben. Die verfassungsrechtliche Diskussion zu § 1b AÜG zeigt jedoch, dass insbesondere aufgrund der Eingriffsintensität, die mit einem sektoralen Leiharbeitsverbot verbunden wäre, auch berücksichtigt werden muss, ob durch andere, weniger einschneidende gesetzgeberische Maßnahmen eine Verbesserung der eingetretenen oder eine Verhütung der befürchteten Störungssituation erreicht wird oder erreicht werden kann. Vorliegend wurde durch das sogenannte MDK-Reformgesetz20 mit Wirkung vom 1. Januar 2020 § 6a des Krankenhausentgeltgesetzes (KHEntgG)21 durch eine Bestimmung ergänzt, wonach bei Beschäftigung von Pflegepersonal ohne direktes Arbeitsverhältnis mit dem Krankenhaus, insbesondere von Leiharbeitnehmern im Sinne des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, der Teil der Vergütungen, der über das tarifvertraglich vereinbarte Arbeitsentgelt für das Pflegepersonal mit direktem Arbeitsverhältnis mit dem Krankenhaus hinausgeht, nicht im Pflegebudget zu berücksichtigen ist (§ 6a Abs. 2 Satz 9 KHEntgG). Diese Regelung hat nach der Gesetzesbegründung zum Ziel, einer möglichen Fehlentwicklungen im Hinblick auf die Höhe des Arbeitsentgelts für die 20 Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz) vom 14. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2789). 21 Gesetz über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz - KHEntgG) vom 23. April 2002 (BGBl. I 2002 S. 1412, 1422), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 14. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2789) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 138/19 Seite 10 Beschäftigung von Pflegepersonal ohne direktes Arbeitsverhältnis, insbesondere für Leiharbeitnehmer , entgegenzuwirken.22 Dass die durch Zeitarbeit entstehenden zusätzlichen Kosten damit in Zukunft nicht mehr über die Krankenkassen refinanziert werden können, soll auch einen Anreiz für mehr Festanstellungen im Bereich der Pflege bieten.23 Mit Wirkung vom 29. November 2019 ist außerdem das Pflegelöhneverbesserungsgesetz24 in Kraft getreten, das durch Modifizierung des Verfahrens zum Erlass von Rechtsverordnungen nach § 7a AEntG und durch Vereinfachung der Berufung und Beschlussfassung der nun als ständiges Gremium zu berufenden Kommission (§§ 12, 12a AEntG), eine Verbesserung der Entgeltsituation im Bereich der Pflege zum Ziel hat.25 Am 28. Januar 2020 hat die nach § 12 AEntG eingesetzte Pflegekommission eine durch Rechtsverordnung noch umzusetzende Empfehlung beschlossen, wonach der seit 2010 bestehende Branchenmindestlohn ab Juli 2020 deutlich angehoben und nach Qualifikation gestaffelt werden soll. Außerdem sollen die Beschäftigten in der Pflege zusätzlichen Erholungsurlaub erhalten.26 Ob die mit den hier skizzierten Maßnahmen verbundenen Erwartungen in der Praxis bestätigt werden und zu der angestrebten Abnahme der Arbeitnehmerüberlassung in den Teilarbeitsmarkt der Pflege führen oder ob die Anreizwirkung dazu letztlich nicht ausreicht, dürfte im Rahmen der gesetzgeberischen Gefahrenprognose als Voraussetzung für den Erlass eines sektoralen Leiharbeitsverbots in der Pflege zu berücksichtigen sein. *** 22 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 19/13397, 19/13547 - Entwurf eines Gesetzes für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz), Bundestagsdrucksache 19/14871 vom 6. November 2019, S. 130. 23 Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Meldungen: Gesetzentwurf - Anreize für weniger Leiharbeit in der Pflege vom 23. September 2019, abrufbar im Internetauftritt des BMG: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2019/pflege-leiharbeiter .html?fbclid=IwAR00XQ-tAPzN4Bqth1K3qb_JJMb8MpSTUCvXgxLFYxpA4xcWM7VAfdKP_Js (letzter Abruf: 17. Februar 2020). 24 Gesetz für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz) vom 22. November 2019 (BGBl. I 2019 S. 1756). 25 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz ) vom 23. September 2019, Bundestagsdrucksache 19/13395, S. 2. 26 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Höhere Mindestlöhne für Beschäftigte in der Altenpflege, Pressemitteilung vom 29. Januar 2020, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/hoeherer-mindestlohn-in-altenpflege.html (letzter Abruf: 17. Februar 2020).