© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 136/16 Das Ghettorentengesetz und die Anerkennungsrichtlinie Entstehung und Abgrenzung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Ghettorentengesetz 1.1. Frühere Praxis der Einstufung von Ghettobeschäftigung als Zwangsarbeit Anträge ehemaliger Ghettoinsassen, die Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen, sind bis in die 1990er-Jahre von den Rentenversicherungsträgern gewöhnlich abgelehnt worden, weil nicht von einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgegangen wurde. Die Beschäftigung in einem Ghetto wurde vielmehr regelmäßig als Zwangsarbeit charakterisiert, die nicht der Rentenversicherungspflicht gemäß §§ 1226, 1227 der Reichsversicherungsordnung (RVO a.F.) unterlag und für die mangels gesetzlicher Grundlage keine Beitragszeiten anerkannt werden konnten. Auch das Bundessozialgericht (BSG) entschied 1979: „Zwangsarbeiten ohne Entgelt, zu denen ein in einem Ghetto festgehaltener rassisch Verfolgter herangezogen worden ist, stellen keine Beschäftigung […] dar. Ein Beschäftigungsverhältnis entsteht regelmäßig auf freiwilliger Basis; außerdem wird dem Beschäftigten eine Entlohnung gewährt. Das ist bei Zwangsarbeitern nicht der Fall.“1 Auch eine Anerkennung als Beitrags- oder Beschäftigungszeit nach dem Fremdrentengesetz (FRG) kam wegen der fehlenden Versicherungspflicht nicht in Betracht. Aufgrund der Zugehörigkeit zu dem vom Bundesentschädigungsgesetz erfassten Personenkreis lag lediglich ein Tatbestand für die Anerkennung als Ersatzzeit vor, der sich aber nur auswirken konnte, wenn durch eine sonstige Beitragszahlung zur deutschen Rentenversicherung ein Versicherungsverhältnis bestand . 1.2. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Mit zwei Urteilen vom 18. Juni 1997 (5 RJ 66/95 und 5 RJ 68/95) entschied das BSG entgegen seiner bisherigen Spruchpraxis, dass eine in einem Betrieb im Ghetto Lodz aufgenommene Tätigkeit trotz der Beschränkung der Freizügigkeit die Voraussetzungen einer Beschäftigung als Arbeitnehmer erfüllen könne und in diesem Fall als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen sei. Die durch diese Rechtsprechung begünstigten ehemaligen Ghettobewohner hielten sich jedoch gewöhnlich im Ausland auf und eine auf der Beschäftigung im Ghetto beruhende Rente konnte vielfach aus auslandsrechtlichen Gründen nicht ausgezahlt werden, insbesondere fehlten meist ausreichende in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegte Beitragszeiten . Obwohl es sich dabei um Einzelfallentscheidungen handelte, denen besondere Umstände im Ghetto Lodz zugrunde lagen, wurden die vom BSG entwickelten Grundsätze in der Folge auch auf entsprechende Arbeitseinsätze in anderen Ghettos angewandt. Die Berücksichtigung von Beitragszeiten für eine Beschäftigung in einem Ghetto war allerdings nur möglich, soweit es sich um reichsgesetzliche Beitragszeiten handelte oder eine Anerkennung nach dem Fremdrentengesetz (FRG) in Betracht kam. Da die meisten Ghettos außerhalb des Deutschen Reichs einschließlich der annektierten Gebiete lagen, waren die besonderen Voraussetzungen für eine Anrechnung 1 BSG, Urteil vom 4. Oktober 1979 - 1 RA 95/78, 1. Leitsatz und 1. Orientierungssatz. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 136/16 Seite 5 nach dem FRG zu prüfen, wozu unter anderem nach §§ 1, 17a FRG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zählte. Für etwa 95 Prozent der Ghettoinsassen konnten daher auch nach der Rechtsprechung des BSG keine Zeiten nach dem FRG angerechnet werden.2 1.3. Gesetzliche Neuregelung - Ghettorentengesetz Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG – sog. Ghettorentengesetz) vom 20. Juni 2002 (BGBl. I S. 2074) regelte daher der Gesetzgeber die Anerkennung der von den Opfern nationalsozialistischer Zwangsherrschaft in den Ghettos erbrachten Arbeitsleistung durch eine von der Solidargemeinschaft der Rentenversicherung zu erbringende Rentenleistung. Dabei wurden die von der Rechtsprechung des BSG festgelegten Voraussetzungen übernommen. Das Gesetz sollte allen in den Ghettos Beschäftigten eine rückwirkende Rentenzahlung ab Juli 1997 ermöglichen. Jedoch wurde auch unter der Geltung des Ghettorentengesetzes weiterhin die überwiegende Mehrzahl entsprechender Anträge von den Rentenversicherungsträgern abgelehnt3, was eine Vielzahl sozialgerichtlicher Verfahren mit zunächst uneinheitlicher höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Folge hatte.4 1.4. Weiterentwicklung der Rechtsprechung Im Juni 2009 passte das BSG seine Rechtsprechung in mehreren Parallelentscheidungen an die im Laufe der Zeit hervorgetretenen historischen Realitäten an und zog als Entgelt im Sinne des ZRBG nunmehr jegliche Entlohnung heran und nahm von den Kriterien der RVO a.F. für die Annahme einer Versicherungspflicht Abstand. Zwangsarbeit wurde in der Folge nur noch im Falle obrigkeitlichen (hoheitlichen) Zwangs angewendet. „Typisch ist z. B „obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben .“5 2 Vgl. z.B. Lehnstaedt, Stephan: Geschichte und Gesetzesauslegung – Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Osnabrück 2011: Fibre, S. 13. 3 Renesse, Jan-Robert von: Wiedergutmachung fünf vor zwölf, in: Zarusky, Jürgen von (Hrsg.): Ghettorenten. Entschädigungspolitik , Rechtsprechung und historische Forschung, München 2010: Oldenbourg, S. 15. 4 BSG Urteil vom 17. Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 R; BSG Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R; vgl. dazu Platt, Kristin: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit – Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, München 2012: Fink, S. 74 ff. 5 BSG Urteile vom 2. und 3. Juni 2009 - Az.: B 13 R 81/08 Rn. 32, B 13 R 85/08 R Rn. 26, B 13 R 139/08 R Rn. 31, B 5 R 26/08 R Rn. 25. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 136/16 Seite 6 Eine Überprüfung anhand der neuen Rechtsprechung ist zunächst in Fällen noch nicht rechtskräftiger Ablehnungsbescheide vorzunehmen, in denen dann eine bis zum Juli 1997 rückwirkende Rentengewährung möglich ist. Aber auch in den Fällen, in denen Bestandskraft eingetreten ist, weil gegen die ablehnenden Bescheide oder untergerichtliche Urteile keine Rechtsmittel eingelegt wurden, müssen nunmehr die Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto nach der neuen BSG-Rechtsprechung berücksichtigt werden. Die bestandskräftigen Ablehnungsbescheide sind nach § 44 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zurückzunehmen . 2. Anerkennungsrichtlinie 2.1. Gesetzgeberische Gründe Vor dem Hintergrund der damals sehr hohen Ablehnungsquote bei Anträgen nach dem ZRBG erließ die Bundesregierung am 1. Oktober 2007 die Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für freiwillige Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie )6. Sie sieht pauschale Einmalzahlungen in Höhe von 2.000 EUR für frühere Beschäftigte in einem Ghetto vor. Die Einmalzahlung tritt neben die Leistungen aus dem Stiftungsgesetz "Erinnerung , Verantwortung und Zukunft" über die Entschädigung von Zwangsarbeit und richtet sich an jene Verfolgte, deren Tätigkeit in einem Ghetto nicht alle Merkmale eines rentenrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses erfüllt. Für den Erhalt der Anerkennungsleistung verlangt die Richtlinie im Vergleich zum ZRBG wesentlich leichtere Voraussetzungen. 2.2. Neufassung der Anerkennungsrichtlinie Die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG durch die Urteile vom 2. und 3. Juni 2009 führte zu einer Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen des ZRBG auf das Niveau der Richtlinie und einer Überprüfung der zuvor abgelehnten Anträge durch die Deutsche Rentenversicherung . Dies wirkte sich auf die weitere Durchführung der Richtlinie vom 1. Oktober 2007 aus, da die Anerkennungsleistung zurückzuzahlen war, wenn für identische Zeiträume und Beschäftigungen eine Rente aufgrund des ZRBG bewilligt wurde. Die Rückzahlung hatte auch dann zu erfolgen, wenn die bewilligte Rente weit unter der Anerkennungsleistung von 2.000 Euro blieb. 6 Bekanntmachung im BAnz 2007, S. 7693. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 136/16 Seite 7 Zur Vermeidung solcher Härten wurde die Anerkennungsrichtlinie am 20. Juli 20117 rückwirkend vom 6. Oktober 2007 neu gefasst, sodass eine rentenrechtliche Berücksichtigung der Beschäftigung im Ghetto der Zahlung der Anerkennungsleistung seither nicht mehr entgegensteht. Mit einer weiteren Neufassung der Richtlinie am 20. Dezember 20118 wurde auch die ursprünglich festgelegte Frist für die Antragstellung aufgehoben. Damit können Anträge auf Gewährung der Anerkennungsleistung auch über den 31. Dezember 2011 hinaus weiterhin gestellt werden. Bis zum Jahre 2014 waren beim für die Auszahlung der Anerkennungsleistung zuständigen Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) mehr als 75.000 Anträge eingegangen . In etwa drei Viertel der Anträge waren die Voraussetzungen für die Zahlung der Anerkennungsleistung erfüllt, so dass entsprechende Bewilligungsbescheide erteilt werden konnten.9 3. Abgrenzung und Fazit Sowohl die Verabschiedung des ZRBG als auch der Erlass der Anerkennungsrichtlinie stehen im Zusammenhang mit der rentenrechtlichen Aufarbeitung in den unter der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft eingerichteten Ghettos. Die Anwendung des ZRBG wurde begleitet durch eine stetige Rechtsprechungsanpassung zu Gunsten der Betroffenen, die den Erkenntnissen über die historischen Realitäten folgte. Während das ZRGB an bereits erworbene gesetzliche Rentenansprüche anknüpft und die leistungserhöhende Anrechnung einer Beschäftigung im Ghetto ermöglicht, soll die Anerkennungsrichtlinie den Betroffenen, die von den Regelungen des ZRGB nicht profitieren konnten, als humanitäre Geste zur rentenrechtlichen Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto eine Einmalzahlung unter erleichterten Voraussetzungen gewähren. Als Folge der Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen des ZRBG an das Niveau der Voraussetzungen in der Anerkennungsrichtlinie durch die Rechtsprechung und zur Vermeidung daraus folgender Härten bestimmt die rückwirkend geänderte Anerkennungsrichtlinie nunmehr, dass eine erfolgte rentenrechtliche Berücksichtigung der Arbeit im Ghetto einer zusätzlichen Zahlung der Anerkennungsleistung nicht mehr entgegensteht. Mithin sind bei Vorliegen der individuellen Voraussetzungen beide Rechtsgrundlagen nebeneinander anwendbar. *** 7 Bekanntmachung der Neufassung der Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war und bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist, vom 20. Juli 2011, BAnz 2011, S. 2624. 8 Bekanntmachung der Neufassung der Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie) vom 20. Dezember 2011, BAnz 2011, S. 4608. 9 Geschäftsbericht des BADV 2014, S. 62. Abrufbar im Internet unter: http://www.badv.bund.de/Shared- Docs/Downloads/DE/Bundesamt/Publikationen/geschaeftsbericht2014.html?nn=25256 (zuletzt abgerufen am 20. Dezember 2016).