© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 131/16 Die Verwendung des relativen und absoluten Armutsbegriffs Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 2 Die Verwendung des relativen und absoluten Armutsbegriffs Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 131/16 Abschluss der Arbeit: 5. Dezember 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. In welchen internationalen Vergleichen wird mit relativen und absoluten Armutsbegriffen gearbeitet? 4 3. Wie ließe sich die Armut über einen absoluten Begriff wie etwa das Existenzminimum definieren? 6 4. Welche wissenschaftlichen Studien fordern einen Wechsel von relativer zu absoluter Armutsdefinition und was sind die aufgeführten Argumente? 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 4 1. Einleitung Im Rahmen der Armutsforschung und Sozialpolitik wird unter anderem zwischen dem relativen und dem absoluten Armutsbegriff unterschieden. Als relative Armut bezeichnet man eine Unterversorgung an materiellen und immateriellen Gütern im Vergleich zur jeweiligen Gesellschaft. Unter absoluter Armut leidet, wer nicht einmal seine absoluten Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung sowie eine medizinische Grundversorgung) befriedigen kann.1 2. In welchen internationalen Vergleichen wird mit relativen und absoluten Armutsbegriffen gearbeitet? Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verwendet den relativen Armutsbegriff. Sie geht davon aus, dass „die Definition dessen, was als ‚annehmbarer Lebensstandard‘ zu betrachten ist, zwischen den Ländern und im Zeitverlauf variiert, so dass deshalb auch keine gemeinsam vereinbarte Messgröße der ‚absoluten‘ Armut in den OECD-Ländern existiert. Ein Ausgangspunkt für die Messung der Armut ist daher die Betrachtung der ‚relativen ‘ Armut, eine Messgröße, deren Höhe jedes Jahr im Verhältnis zum typischen Einkommen des jeweiligen Landes ermittelt wird. Die Armutsquote ist definiert als die Zahl der Personen, deren Einkommen unter die Armutsgrenze fällt, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Die Armutsschwelle ist hier bei der Hälfte des Medianeinkommens der Haushalte angesetzt.“2 Der Median ist der Einkommenswert derjenigen Person, die die Bevölkerung in genau zwei Hälften teilt. Das heißt, die eine Hälfte hat mehr, die andere weniger Einkommen zur Verfügung. Die in den Ländern der Europäischen Union verwendete vergleichbare Datenquelle über Einkommen , Armut und Lebensbedingungen in Europa ist „EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions)“. Die Erhebung EU-SILC wird seit 2005 in allen EU-Mitgliedstaaten sowie in Norwegen und Island durchgeführt. Für die Statistik gelten in allen Mitgliedstaaten einheitliche Definitionen sowie methodische Mindeststandards. Im Rahmen von EU-SILC wird die Armutsgefährdungsquote ermittelt. Sie ist eine relative Größe, die angibt, wie hoch der Anteil der armutsgefährdeten Personen an der Gesamtbevölkerung ist.3 „Um das mittlere Einkommen zu ermitteln , wird der Median (Zentralwert) verwendet. Dabei werden die Personen ihrem Äquiva- 1 Böckler Impuls, 2/2016, S.6, Was Armut bedeutet, abrufbar unter: http://www.boeckler.de/Impuls_2016_02_gesamt .pdf, [letzter Abruf: 29. November 2016]. 2 OECDiLibrary, Die OECD in Zahlen und Fakten 2011-2012: Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft, abrufbar unter: http://www.oecd-ilibrary.org/sites/9789264125476-de/03/05/02/index.html%3Bjsessionid %3D61bqkh3qss4am.delta%3FcontentType%3D%26itemId%3D/content/chapter/9789264125469-32- de%26containerItemId%3D/ [letzter Abruf: 29. November 2016]. 3 Weitere Informationen bietet das Statistische Bundesamt unter dem Link https://www.destatis.de/DE/Zahlen- Fakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/LebensbedingungenArmutsgefaehrdung/Methoden /Armutsgefaehrdungsquote.html [letzter Abruf: 29. November 2016]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 5 lenzeinkommen nach aufsteigend sortiert. (…). 60 % dieses Medianwertes stellen den Schwellenwert für Armutsgefährdung dar.“4 LEBEN IN EUROPA ist die Bezeichnung der deutschen Befragung im Rahmen der europaweit durchgeführten Gemeinschaftsstatistik EU-SILC. Die Bundesregierung verwendet in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht5 Ergebnisse aus EU- SILC, aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und aus dem Mikrozensus. Neben diesen drei amtlichen Statistiken, die vom Statistischen Bundesamt erhoben werden, wird auch das Soziooekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) herangezogen. Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung. Es werden zurzeit jedes Jahr in Deutschland etwa 30.000 Menschen in fast 11.000 Haushalten befragt. Die Daten geben Auskunft zu Fragen über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit. Das DIW folgt bei seinen Berechnungen meist den Konventionen der EU und des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Alle genannten Datenquellen ermitteln ein relatives Einkommensarmutsrisiko . Die Weltbank verwendet seit 1990 den absoluten Armutsbegriff. Von 1990 bis 2000 lag die absolute Armutsgrenze bei 1,0 PPP-US-Dollar (Purchasing Power Parity, Kaufkraftparität, berücksichtigt die jeweilige Kaufkraft) pro Tag, bis 2005 bei 1,08 PPP-US-Dollar pro Tag und ab dem Jahr 2008 bei 1,25 PPP-US-Dollar pro Tag. Seit 2015 liegt der Wert für Daten ab 2012 nun bei 1,90 PPP-US-Dollar.6 Auch die Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 (Generalversammlungsresolution 55/2) geht von einem absoluten Armutsbegriff aus. Die Erklärung beschreibt die Aufgabenstellungen für die internationale Politik im 21. Jahrhundert und definiert vier programmatische , sich wechselseitig beeinflussende Handlungsfelder: Frieden, Sicherheit und Abrüstung , Entwicklung und Armutsbekämpfung, Schutz der gemeinsamen Umwelt und Menschenrechte , Demokratie und gute Regierungsführung. Absatz 19 der Erklärung legt fest: „Wir treffen ferner den Beschluss, bis zum Jahr 2015 den Anteil der Weltbevölkerung, dessen Einkommen weniger als 1 Dollar pro Tag beträgt, und den Anteil der Menschen, die Hunger leiden, zu halbieren, 4 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 391 vom 3. November 2016, abrufbar unter: https://www.destatis .de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/11/PD16_391_634.html, [letzter Abruf: 1. Dezember 2016]. 5 Bundesregierung, 4. Armuts- und Reichtumsbericht, S.29, abrufbar unter: http://www.armuts-und-reichtumsbericht .de/SharedDocs/Downloads/Berichte/vierter-armuts-und-reichtumsbericht.pdf?__blob=publication- File&v=3, [letzter Abruf: 29. November 2016]. 6 World Bank Group, Poverty and shared prosperity 2016: Taking on inequality, S.24, abrufbar unter: https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/25078/9781464809583.pdf, [letzter Abruf: 29. November 2016; World Bank Statistik: Anteil der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze nach Weltregionen im Jahr 2013, abrufbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37764/umfrage/anteil-der-bevoelkerung-unter -der-absoluten-armutsgrenze-von-1981-bis-2005/, [letzter Abruf: 29. November 2016]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 6 sowie bis zu demselben Jahr den Anteil der Menschen, die hygienisches Trinkwasser nicht erreichen oder es sich nicht leisten können, zu halbieren; (…)“.7 An der Armutsdefinition der Weltbank wird trotz der wichtigen Rolle in der Entwicklungspolitik vielseitig Kritik geübt. LEPENIES hat im Rahmen einer Publikation der KfW Entwicklungsbank die Aussagekraft der Ein-Dollar-pro-Tag-Armutsgrenze analysiert. In den Berechnungen der Weltbank sei die Tiefe der Armut nicht erkennbar und die Aussagekraft sei grundsätzlich zu bezweifeln . Man könne daher nicht sagen, ob die Berechnungen der tatsächlichen Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen entsprechen, geschweige denn, wie sich die Zahlen im Laufe der Zeit entwickelt haben.8 RIPPIN kritisiert an diesem Ein-Dollar-Ansatz, dass eine solche Vereinfachung voraussetze, dass jeder Mensch seine Grundbedürfnisse mit denselben Ressourcen befriedigen kann. Diese Betrachtungsweise würde öffentliche Güter wie Bildung und gesundheitliche Versorgung ebenso unberücksichtigt lassen wie die Tatsache, dass Menschen heterogen sind und sich damit ihre Fähigkeit , Finanzen zu verwerten, zwangsläufig unterscheidet.9 3. Wie ließe sich die Armut über einen absoluten Begriff wie etwa das Existenzminimum definieren ? Eine Person gilt nach der EU-Definition für EU-SILC. als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 % des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt (Schwellenwert der Armutsgefährdung ). „Nach den Ergebnissen von LEBEN IN EUROPA 2012 lag der Median des Nettoäquivalenzeinkommens in Deutschland im Jahr 2011 bei 1633 Euro je Monat. Daraus ergab sich der Schwellenwert für Armutsgefährdung in Höhe von 980 Euro je Monat für eine alleinstehende Person. In der Regel treten jährliche Lohn- und Gehaltszuwächse auf. Sie lassen das Einkommensniveau der Gesamtbevölkerung von Jahr zu Jahr weiter ansteigen, sodass auch der Schwellenwert für Armutsgefährdung , der einen vom Einkommensniveau abhängigen Prozentanteil darstellt (60% des Median ), von Jahr zu Jahr weiter ansteigt. (…) 7 Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen verabschiedet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Abschluss des vom 6. – 8. September 2000 abgehaltenen Millenniumsgipfels in New York, Absatz 19, http://www.un-kampagne.de/fileadmin/downloads/erklaerung/millenniumerklaerung.pdf, [letzter Abruf: 1. Dezember 2016]. 8 DR. LEPENIES, Philipp, in: Kfw, Fokus Entwicklungspolitik, Die globale Armut – Eine Analyse zur Aussagekraft der Ein-Dollar-pro-Tag-Armutsgrenze, abrufbar unter: https://www.kfw-entwicklungsbank.de/Download-Center /PDF-Dokumente-Development-Research/2010_01_27_FE-Lepenies-Die-globale-Armut_D.pdf, [letzter Abruf: 29. November 2016]. 9 DR. RIPPIN, Nicole Isabell, in ihrer Doktorarbeit: Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit, mit innovativer Armutsmessung die Ärmsten erreichen, Körber-Stiftung, abrufbar unter: https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin /user_upload/wissenschaft/studienpreis/preistraeger/2014/erste-preise/rippin/Essay_N-I-Rippin.pdf [letzter Abruf: 29. November 2016]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 7 Median des Nettoäquivalenzeinkommens und Schwellenwert für Armutsgefährdung in Deutschland (in EUR je Monat) Median des Nettoäquivalenzeinkommens 1 und Schwellenwert für Armutsgefährdung in Deutschland Schwellenwert für Armutsgefährdung2 alleinstehende Person Zwei Erwachsene mit zwei Kindern3 unter 14 Jahren 2007 1526 916 1923 2008 1549 929 1952 2009 1566 940 1974 2010 1587 952 2000 2011 1633 980 2058 Ergebnisse der Erhebung LEBEN IN EUROPA/EU-SILC. 1 Äquivalenzgewichtung nach der modifizierten OECD-Skala. 2 60 % des Median des Nettoäquivalenzeinkommens der Bevölkerung. 3 Kinder unter 18 Jahren sowie Kinder zwischen 18 und 24 Jahren, sofern sie nicht erwerbstätig sind und mit mindestens einem Elternteil zusammenleben.10 Nach Angaben mehrerer Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland im Berichtsjahr 2012 bei 980 Euro im Monat , 11 im Berichtsjahr 2013 bei 979 Euro im Monat.12 Für das Jahr 2014 betrug er 987 Euro im Monat und für das Jahr 2015 lag er bei 1.033 Euro im Monat.13 Der Schwellenwert für Armutsgefährdung gibt keine Information über den Grad individueller Bedürftigkeit , also des soziokulturellen Existenzminimums. 10 Deckl, Silvia (2013), Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, Dezember 2013, https://www.destatis .de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/WirtschaftsrZeitbudget/ArmutSozialeAusgrenzung _122013.pdf?__blob=publicationFile, S. 896. 11 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr.374 vom 28. Oktober 2014, https://www.destatis.de/DE/PresseService /Presse/Pressemitteilungen/2014/10/PD14_374_634.html. 12 Statistisches Bundesamt. Pressemitteilung 407 vom 5. November 2015, https://www.destatis.de/DE/PresseService /Presse/Pressemitteilungen/2015/11/PD15_407_634.html. 13 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 391 vom 3. November 2016, https://www.destatis.de/DE/PresseService /Presse/Pressemitteilungen/2016/11/PD16_391_634.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 8 Es handelt sich bei beiden Konzepten um zwei völlig unterschiedliche Ansätze: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und die Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialhilfe (SGB XII) sind steuerfinanzierte soziale Mindestsicherungssysteme des Staates, die das menschenwürdigen Existenzminimums bedürftiger Menschen sichern sollen. Zur Bestimmung des Existenzminimums im Rahmen der Sozialgesetzbücher wird unter Einbeziehung des Statistischen Bundesamtes ein Statistikmodell verwendet, das vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht beanstandet wurde.14 Nach diesem Verfahren wird der Regelsatz über die tatsächlichen statistisch ermittelten Durchschnittsausgaben von Haushalten der untersten Einkommensgruppe bemessen. Die Datengrundlage ist die EVS des Statistischen Bundesamtes, die in fünfjährigem Turnus erhoben wird. Anhand der EVS wird ermittelt , wofür einkommensschwache Haushalte wie viel Geld ausgeben. Danach werden Beträge für den täglichen Mindestbedarf in Deutschland bestimmt. Das jeweilige Bedarfsniveau für die unterschiedlichen Haushaltstypen ergibt sich dann aus den Regelbedarfen plus Wohn- und Heizkosten .15 Bei der relativen Armutsmessung nach EU-SILC beruht die Armutsgrenze auf einem vom Einkommensniveau der Gesamtbevölkerung abhängigen Prozentanteil (60 Prozent) und ist nicht begrenzt auf untere Einkommensgruppen. „Die Grundgesamtheit von LEBEN IN EUROPA sind Personen in privaten Haushalten in Deutschland am Hauptwohnsitz. Ausgenommen sind Personen in Anstaltshaushalten und Personen ohne festen Wohnsitz. Die Stichprobe für die Erhebung muss als Zufallsauswahl gezogen werden. Auswahlgrundlage für LEBEN IN EUROPA bildet die Dauerstichprobe befragungsbereiter Haushalte (HAUSHALTE HEUTE). (…) Für LEBEN IN EU- ROPA werden jedes Jahr in Deutschland rund 14 000 Haushalte befragt. Die Haushalte werden in vier aufeinander folgenden Jahren befragt, was eine Auswertung der Ergebnisse im Längsschnitt erlaubt.“16 Im Rahmen dieser Zufallsauswahl können daher auch Spitzenverdiener enthalten sein, die das Einkommensniveau heben. Die Armutsgrenze, die mit den Mindestsicherungssystemen gesetzt ist, soll das gesetzliche Existenzminimum in jedem Einzelfall gewährleisten und orientiert sich an den Haushalten der untersten Einkommensgruppe. Bei der Berechnung werden nur Ausgaben als regelbedarfsrelevant berücksichtigt, soweit sie zur Sicherung des Existenzminimums notwendig sind und eine einfache Lebensweise ermöglichen, wie sie einkommensschwache Haushalte aufweisen. 14 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Entscheidung zum menschenwürdigen Existenzminimum vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rn. 135. 15 Bundesministerium für Finanzen, 10. Existenzminimumbericht, Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2016, S. 3, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium .de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2015/01/2015-01-28-PM05-anlage .pdf?__blob=publicationFile&v=2 [letzter Abruf: 29. November 2016]. 16 Statistisches Bundesamt, Leben in Europa (EU-SILC), https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat /EinkommenKonsumLebensbedingungen/Methoden/EU_Silc.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 9 Wie bereits oben genannt lag bei der relativen Armutsmessung im Jahr 2015 der Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 1.033 Euro im Monat. Im Vergleich hierzu betrug der Regelbedarf für die Regelbedarfsstufe 1 im Jahr 2015 399 Euro. Für eine Single-Bedarfsgemeinschaft weist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit beispielsweise für Deutschland für den Monat Juni 2015 eine Nettoleistung in Höhe von 618, 10 Euro aus.17 Die Bedürftigkeitsschwelle der Mindestsicherungssysteme liegt bedingt durch die völlig unterschiedlichen Ansätze immer unterhalb der relativen Armutsgrenze. 4. Welche wissenschaftlichen Studien fordern einen Wechsel von relativer zu absoluter Armutsdefinition und was sind die aufgeführten Argumente? Den Wissenschaftlichen Diensten sind keine wissenschaftlichen Studien bekannt, die einen Wechsel von der relativen zur absoluten Armutsdefinition fordern. Vielmehr wird eine Weiterentwicklung des relativen Armutsbegriffs diskutiert. Im aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Verbandes wird gefordert, den relativen Armutsbegriff um die Kaufkraft zu bereinigen. Dabei wird allerdings gleichzeitig eingeräumt, dass es dazu im Moment noch an geeigneten empirischen Grundlagen fehlt. Der Bericht wirbt für ein umfassenderes Konzept, wie den Lebenslagenansatz, der nicht nur die finanziellen Ressourcen einer Familie betrachtet, sondern auch weitere Dimensionen der Armut, wie zum Beispiel das Wohnen , die Arbeit, die Gesundheit, die Ernährung, die soziale Integration sowie die soziokulturelle Teilhabe in den Blick nimmt. Als weiteres Manko wird angegeben, dass bei der Berechnung des Medians nur Menschen mit eigenem Haushalt erfasst werden. Personen in Gemeinschaftsunterkünften , wie Altersheime, Studentenwohnheime, Asylbewerberunterkünfte, Pflegeheime, Behinderten - und Obdachlosenunterkünfte werden bei den Berechnungen vernachlässigt.18 Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP), die zentrale Organisation der VN-Entwicklungsfonds und –programme, hat im Herbst 2010 den mehrdimensionalen Armutsindex (Multidimensional Poverty Index, MPI), vorgestellt. 17 Nettoleistung: Darunter werden alle laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zusammengefasst, die einer Bedarfsgemeinschaft zum regelmäßigen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen. In der Regel sind das die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelleistung Arbeitslosengeld II (Alg II) und ggf. Regelleistung Sozialgeld), die Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt (für Alg II-/ und Sozialgeldempfänger) sowie die Leistungen für Unterkunft und Heizung (ohne einmalige Kosten). Quelle: http://statistik.arbeitsagentur.de/nn_31986/SiteGlobals /Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Form.html?view=processForm&resourceId=210368&input_=&page- Locale=de&topicId=17708&year_month=201506&year_month.GROUP=1&search=Suche [letzter Abruf : 1. Dezember 2016]. 18 Deutscher paritätischer Wohlfahrtsverband, Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016, S.1, abrufbar unter: http://www.der-paritaetische.de/armutsbericht/download-armutsbericht/, [letzter Abruf : 29. November 2016]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 131/16 Seite 10 Der neue Ansatz ist auf Deprivationen fokussiert und setzt sich aus den drei Dimensionen Bildung , Gesundheit und Lebensstandard zusammen, die wiederum aus mehreren Indikatoren bestehen .19 RIPPIN kritisiert an diesem Ansatz, dass diese additiven Maße eine fatale Schwäche haben würden . Sie seien nicht in der Lage, den Grundgedanken von Verteilungsgerechtigkeit und Effizienz Rechnung zu tragen. Um diesen Mangel zu beheben wurde der Korrelationssensitive Armutsindex (CSPI) entwickelt, der eine Stufung des Armutsbegriffs vornimmt und dadurch den Erhalt von sehr viel detaillierteren Informationen ermöglicht.20 Der Index der menschlichen Entwicklung (Human development index - HDI), der ebenfalls von den Vereinten Nationen verwendet wird, stellt allgemein den Entwicklungsstand eines ganzen Landes dar. Dabei werden Lebenserwartung, Bildung und Lebensstandard verrechnet.21 In der Wissenschaft ist eher eine Tendenz zur Abkehr von der absoluten Armutsdefinition zu verzeichnen. Vielmehr sollen weitere Daten und Einflussquellen berücksichtigt werden, um genauere Erkenntnisse und Ergebnisse über Armut zu erlangen. *** 19 DR. LEPENIES, Philipp, in: Kfw, Fokus Entwicklungspolitik, Die Messung der mehrdimensionalen Armut –Was kann der neue Index? (2010), abrufbar unter: https://www.kfw-entwicklungsbank.de/Download-Center/PDF- Dokumente-Development-Research/2010_11_FE_Lepenies-Messung-mehrdimensionale-Armut_D.pdf, letzter Abruf: 29. November 2016]. 20 DR. RIPPIN, Nicole Isabell, in ihrer Doktorarbeit: Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit, mit innovativer Armutsmessung die Ärmsten erreichen, Körber-Stiftung, abrufbar unter: https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user _upload/wissenschaft/studienpreis/preistraeger/2014/erste-preise/rippin/Essay_N-I-Rippin.pdf [letzter Abruf : 29. November 2016]. 21 Lexikon des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, abrufbar unter: https://www.bmz.de/de/service/glossar/I/index_hdi.html [letzter Abruf: 29. November 2016].