© 2015 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 127/15 Das Sachleistungsprinzip im Asylbewerberleistungsgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 2 Das Sachleistungsprinzip im Asylbewerberleistungsgesetz Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 127/15 Abschluss der Arbeit: 4. September 2015 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Urteile des Bundesverfassungsgerichts 4 3. Grundleistungen nach § 3 AsylbLG 6 4. Das Sachleistungsprinzip im wissenschaftlichen Diskurs 8 4.1. Das Abschreckungsmotiv in der Gesetzesbegründung 8 4.2. Die Leistungsform Sachleistung 10 4.3. Das Kriterium der Aufenthaltsdauer 10 5. Fazit 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 4 1. Einleitung Der vorliegende Sachstand beschäftigt sich mit der Frage, ob die ausschließliche und dauerhafte Gewährung von Sachleistungen zur Sicherung des Existenzminimums für Flüchtlinge aus den Staaten des Westbalkans zulässig wäre. Aufgrund der Kürze der Zeit und der Komplexität der Fragestellung wird ein Überblick über die Rechtsprechung und die in der wissenschaftlichen Literatur und in juristischen Kommentaren vertretenen Auffassungen gegeben, um die wesentlichen zu beachtenden Aspekte dieser Thematik darzustellen. 2. Urteile des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem Urteil vom 18. Juli 2012 die Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für evident unzureichend und mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt.1 Der Gesetzgeber hatte in § 3 AsylbLG vorrangig Sachleistungen vorgesehen, die nach Abs. 2 aber durch Geldleistungen ersetzt werden konnten. Für diese Geldleistungen waren Beträge ausgewiesen, die seit Inkrafttreten des AsylbLG im Jahr 1993 unverändert geblieben waren. Der Gesetzgeber hat § 3 AsylbLG mit Wirkung vom 1. März 2015 geändert. Wie bereits im Urteil des BVerfG zu den SGB II-Regelsätzen am 9. Februar 2010 festgestellt, ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern.2 Zwar hat das BVerfG dem Gesetzgeber freigestellt, ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert und ihm einen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums eingeräumt.3 In dem Urteil zum AsylbLG vom 18. Juli 2012 finden sich jedoch auch konkrete Anforderungen an die Bemessung der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, die für die in der Einleitung erläuterte Fragestellung von Bedeutung sind. Grundsätzlich steht es nach einem Urteil des BVerfG vom 11. Juli 2006 zur Anrechnung von Schmerzensgeld auf Asylbewerberleistungen im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Asylbewerber ein eigenes Konzept zur Sicherung ihres Lebensbedarfs zu entwickeln und dabei auch Regelungen über die Gewährung von Leistungen abweichend vom Recht der Sozialhilfe zu 1 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, juris. 2 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 Bvl 3/09, 1 BvL 4/09, juris Rn 133. 3 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 67. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 5 treffen. Insbesondere ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Art und Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der voraussichtlichen Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland abhängig zu machen.4 Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen ist aber nach dem jüngsten Urteil des BVerfG zum AsylbLG unterschiedlich: Er ist enger, wenn es um die Sicherung des physischen Existenzminimums geht und weiter, wenn es um Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, also des sozio-kulturellen Existenzminimums, geht. Der Gesetzgeber muss in beiden Fällen seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichten. Maßgeblich sind hierfür die Gegebenheiten in Deutschland, dem Land, in dem dieses Existenzminimum gewährleistet sein muss.5 Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssen in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht, also nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, bemessen werden.6 Dabei schreibt das Grundgesetz keine spezifischen Pflichten im Gesetzgebungsverfahren vor, sondern es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Im Ergebnis darf aber die Anforderung des Grundgesetzes nicht verfehlt werden, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz zu sorgen.7 Der Gesetzgeber darf die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein.8 Dies entspricht dem Urteil des BVerfG zu den Regelleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - SGB II, wonach es dem Gesetzgeber obliegt, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er dieser Pflicht nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.9 Will der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur insofern möglich, als der Bedarf dieser Personengruppe von dem anderer 4 BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2006 – 1 BvR 293/05, juris Rn 44. 5 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 67. 6 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 69. 7 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 70. 8 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 71. 9 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 Bvl 3/09, 1 BvL 4/09, juris 144. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 6 Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig und transparent anhand des tatsächlichen Bedarfs belegt werden kann.10 Der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit befristetem Aufenthaltsrecht kann nur dann abweichend vom Regelbedarf gesetzlich bestimmt werden, wenn nachvollziehbar festgestellt werden kann, dass infolge eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht bestehen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen , ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert werden, die gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfallen.11 Will der Gesetzgeber die existenznotwendigen Leistungen für eine Personengruppe gesondert bestimmen , muss er sicherstellen, dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten. Dies lässt sich zu Beginn eines Aufenthalts nur anhand einer Prognose beurteilen.12 Eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigt es allerdings nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum einschließlich der sozialen Teilhabe in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in Deutschland nur vorübergehend aufhalten. Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in Deutschland realisiert werden.13 Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vorneherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das sozio-ökonomische Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist somit migrationspolitisch nicht zu relativieren.14 3. Grundleistungen nach § 3 AsylbLG In Folge des Urteils des BVerfG vom 18. Juli 2012 wurde § 3 AsylbLG durch das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014 und das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern vom 23. Dezember 2014 grundlegend geändert.15 10 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 73. 11 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 74. 12 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 75. 13 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 94. 14 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 95. 15 Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Auflage 2015, § 3 AsylbLG Rn 11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 7 Seit dem 1. März 2015 gilt § 3 Abs. 1 AsylbLG neu: „Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird bei einer Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen im Sinne von § 44 des Asylverfahrensgesetzes durch Sachleistungen gedeckt. Kann Kleidung nicht geleistet werden, so kann sie in Form von Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen gewährt werden. Gebrauchsgüter des Haushalts können leihweise zur Verfügung gestellt werden. Zusätzlich erhalten Leistungsberechtigte monatlich einen Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (Bargeldbedarf) (…)“ § 3 Abs. 2 AsylbLG neu lautet: „Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asylverfahrensgesetzes sind vorbehaltlich des Satzes 4 vorrangig Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs nach Abs. 1 Satz 1 zu gewähren. (…)“ Gemäß § 3 Abs. 4 AsylbLG neu wird der Bargeldbedarf jeweils zum 1. Januar eines Jahres entsprechend der Vorschriften im SGB XII fortgeschrieben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gibt spätestens zum 1. November eines Kalenderjahres die Höhe der Bedarfe, die für das folgende Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesgesetzblatt bekannt.16 Das Sachleistungsprinzip nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG erstreckt sich auf alle Leistungsberechtigten , die nach § 44 AsylVfG in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht sind, also nicht nur auf Asylbewerber.17 Der notwendige Bedarf an den in § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG genannten Bedarfspositionen ist von der zuständigen Behörde durch Sachleistungen zu decken. Ein Ermessen besteht im Rahmen des § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht. Vom Sachleistungsprinzip darf im Regelungsbereich dieser Vorschrift selbst dann nicht abgewichen werden, wenn mögliche und geeignete Ersatzformen zur Bedarfsdeckung (wie Geldleistungen) kostengünstiger wären.18 Sachleistungen stellen die unmittelbarste und direkteste Form der Bedarfsdeckung dar. Eine Wahlmöglichkeit haben die Leistungsberechtigten dabei nicht. Sachleistungen sind beispielsweise Gemeinschaftsverpflegung, Lebensmittelpakete, Putzmittel, Bekleidung oder Schlafplätze in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Die Bedarfspositionen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG bilden das im Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 beschriebene physische Existenzminimum normativ ab.19 16 Bis zu der gesetzlichen Neuregelung galt eine Übergangsregelung mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011, die das BVerfG in seinem Urteil verbindlich festgelegt hatte. 17 Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, § 3 AsylbLG Rn 15; vgl. Fn 15. 18 Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, § 3 AsylbLG Rn 16; vgl. Fn 15. 19 Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, § 3 AsylbLG Rn 17-18; vgl. Fn 15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 8 Nach Auffassung von Hohm begegnet die Beschränkung des Sachleistungsprinzips auf die Unterbringung von Leistungsberechtigten in Aufnahmeeinrichtungen i.S.v. § 44 AsylVfG und die Bestimmung des grundsätzlichen Vorrangs der Gewährung von Geldleistungen bei Unterbringung von Leistungsberechtigten außerhalb solcher Einrichtungen keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.20 Das Sachleistungsprinzip diene, so eine weitere Kommentierung, vielmehr auch dem Schutz der neu ankommenden Leistungsberechtigten, da diese in der Anfangszeit ohne Kenntnis des in Deutschland existierenden Preisgefüges leicht finanziell übervorteilt werden könnten, wenn auch die Grundleistungen von Anfang an als Geldleistungen ausgezahlt würden.21 Demgegenüber sind in der weiteren Literatur auch grundlegend kritische Positionen zum Sachleistungsprinzip zu finden. Das Sachleistungsprinzip, das die wichtigste strukturelle Besonderheit des Asylbewerberleistungsgesetzes darstelle, sei auch im Lichte des SGB II-Regelsatzurteils des BVerfG verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Es sei fraglich, inwieweit sich Sachleistungen für die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums überhaupt eigneten.22 4. Das Sachleistungsprinzip im wissenschaftlichen Diskurs Im Folgenden werden verschiedene Auffassungen zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Sachleistungsprinzips im AsylbLG vorgestellt, die auch im Hinblick auf die in der Einleitung genannte Fragestellung von Bedeutung sind. Es handelt sich um einen exemplarischen Auszug der in der Literatur vertretenen kritischen Stimmen. 4.1. Das Abschreckungsmotiv in der Gesetzesbegründung Die Begründung in den Gesetzesmaterialien für die Einführung des Sachleistungsprinzips wird angesichts des Urteils des BVerfG vom 18. Juli 2012 in Teilen der wissenschaftlichen Literatur als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft.23 Im Gesetzentwurf zur Neuregelung von Leistungen an Asylbewerber vom 2. März 1993 heißt es zur Erläuterung der Bedarfsdeckung vorrangig durch Sachleistungen: 20 Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, § 3 AsylbLG Rn 14; vgl. Fn 15. 21 So etwa Birk in LPK-SGB XII, 10. Auflage 2015, § 3 AsylbLG Rn 4. 22 Vgl. Rothkegel, Ralf, Das Sachleistungsprinzip des Asylbewerberleistungsgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht , in: ZAR 2011, 90 (92). 23 Vgl. z.B. Born, Manuela (2014). Europa- und verfassungsrechtliche Anforderungen an die Leistungen für Asylbewerber , Hamburg: Verlag Dr. Kovac, S. 381 mit weiteren Anmerkungen. Das Buch ist im Bestand der Bibliothek des Deutschen Bundestages (Signatur: P 5144524). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 9 „Auf diese Weise soll soweit wie möglich verhindert werden, daß Asylbewerber unter den Druck insbesondere von Schlepperorganisationen geraten, einen Teil der Leistung dorthin abzugeben, anstatt damit ihren Lebensunterhalt sicherzustellen.“24 Mit der Leistungsform der Sachleistung soll zudem vermieden werden, dass Ausländer aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland einreisen.25 Dies widerspreche der Feststellung des BVerfG, nach der die Gewährleistung und Bemessung des menschenwürdigen Existenzminimums keinen migrationspolitischen Erwägungen unterliegen darf. Zwar sehe die migrationspolitische Forschung Sozialleistungen als einen von mehreren Pull-Faktoren an, die die Wanderung in ein bestimmtes Zielland begründen könnte. Die Kosten der Reise, Alter, Beruf, Familienstand und soziale Netzwerke spielten aber ebenso eine Rolle.26 Das politische Ziel, durch Sachleistungen das Schlepperunwesen zu bekämpfen, stehe außerhalb der üblichen fürsorgerechtlichen Zielsetzungen.27 Zudem sei der kriminelle Schlepper nicht Adressat des AsylbLG. Zwischen ihm und dem Leistungsberechtigten werde somit eine unzulässige Koppelung vorgenommen.28 Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) folgte dieser Auffassung in einem Beschluss im Jahr 1998 nicht. Auch wenn es eine Intention des Gesetzgebers gewesen sei, Kosten zu sparen und Ausländer von der Einreise nach Deutschland abzuhalten, rechtfertige dies keinen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach § 3 AsylbLG. Es sei nicht ersichtlich, weshalb gesetzgeberische Ziele, Kosten zu sparen und Asylmissbrauch begünstigende wirtschaftliche Anreize zu mindern, verfassungsrechtlich bedenklich sein sollten. Entscheidend sei, dass die erforderlichen Hilfeleistungen für ein menschenwürdiges Leben ausreichend bemessen seien.29 Vor dem Hintergrund des BVerfG-Urteils zum AsylbLG und dessen „Bedarfsorientiertheit“ habe das Motiv der Abschreckung jedoch nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht keinen Platz.30 24 BT-Drs. 12/4451 vom 2. März 1993, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen für Asylbewerber, S. 8. 25 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, § 3 AsylbLG Rn 8. 26 Born, Manuela (2014), 388ff mit weiteren Nachweisen; vgl. Fn 23. Vgl. auch European Asylum Support Office (2014). Asylanträge aus den westlichen Balkanstaaten. Vergleichende Analyse der Tendenzen, Push- und Pull-Faktoren sowie der Reaktionen, Luxemburg, S. 49ff. Das Buch ist im Bestand der Bibliothek des Deutschen Bundestages (Signatur: 797223). 27 Born, Manuela (2014), S. 390 mit weiteren Anmerkungen; vgl. Fn 24. 28 Janda, Constanze; Wilksch, Florian, Das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem „Regelsatz-Urteil“ des BVerfG, SGb 2010, 565-574 (572). 29 BVerwG, Beschluss vom 29. September 1998 – 5B 82-97 (Lüneburg), NVwZ 1999, 669. 30 Rothkegel, Ralf, Das Gericht wird`s richten – das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen , in: ZAR 2012, 357 (360). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 10 Das BVerfG lasse ausschließlich bedarfsspezifische Kriterien als Bezugspunkte der Leistungsbemessung gelten.31 4.2. Die Leistungsform Sachleistung In der Literatur findet sich die Auffassung, sowohl das SGB II-Regelsatzurteil als auch das AsylbLG-Urteil des BVerfG ließen es zu, das Sachleistungsprinzip als Leistungsform an sich als verfassungsrechtlich bedenklich einzustufen.32 Sachleistungen könnten sich nicht auf eine methodisch-empirisch fundierte Bedarfsbemessung stützen, wie sie in beiden Urteilen verlangt worden sei und die Form der Sachleistung erlaube keinen „internen Ausgleich“, wie er nach Maßgabe des SGB II-Regelsatzurteils zwischen den einzelnen ermittelten Ausgabepositionen möglich sein müsse.33 Zudem berücksichtige das Sachleistungsprinzip keine individuellen Bedürfnisse, was der bedarfsbezogenen Sicht sowohl des AsylbLG- als auch des SGB II-Regelsatzurteils widerspreche. Durch Sachleistungen könne eine Unterversorgung der Leistungsberechtigten nicht ausgeschlossen werden, da eine methodisch fundierte und nachprüfbare Bedarfsmessung im Sinne der beiden Urteile fehle, wenn nicht sogar unmöglich sei.34 Die Auffassung, dass Sachleistungen den persönlichen Umständen einer Person nicht gerecht würden, findet sich in der Literatur mehrfach.35 Art. 3 GG verbietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu regeln, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund dafür gegeben ist.36 Die Vorgabe, dass ein interner Ausgleich zwischen Leistungen möglich sein müsse, finde sich nicht im AsylbLG-Urteil, da diese Vorgabe von Sachleistungen nicht erfüllt werden könne. 37 4.3. Das Kriterium der Aufenthaltsdauer Das BVerfG hat festgestellt, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen könne, er dürfe aber bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem 31 Rothkegel, Ralf, ZAR 2012, 357 (360); vgl. Fn 30. 32 z.B Rothkegel, Ralf, ZAR 2012, 357 (365); vgl. Fn 30. 33 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, juris Rn 172. 34 Rothkegel, Ralf, . ZAR 2012, 357 (364); vgl. Fn 30. 35 z.B. Janda, Constanze, Quo vadis, AsylbLG? Möglichkeiten der Neugestaltung der existenzsichernden Leistungen für Personen mit vorübergehendem Aufenthalt nach dem Urteil des BVerfG, in: ZAR 2013, 175 (180). 36 BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1951 - 2 BvG 1/51 - BVerfGE 1, Rn 52. 37 Judith, Wiebke; Brehme, Ricardo, Plädoyer für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes: verfassungsrechtliche Gründe und Vorschläge zur Umsetzung, in: Kritische Justiz, 47 (2014), 3, S. 330-340 ( 333). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 11 Aufenthaltsstatus differenzieren. 38 Minderbedarfe infolge eines nur kurzfristigen Aufenthaltes müssten daher nachvollziehbar dargelegt werden, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass womöglich gerade der kurzfristige Aufenthalt Mehrbedarfe mit sich bringe.39 Wolle der Gesetzgeber die existenznotwendigen Leistungen für eine Personengruppe gesondert bestimmen, müsse er sicherstellen, dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten .40 Eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertige es nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken.41 Für die Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG hat das BVerfG festgestellt, dass das Regelungskonzept des Gesetzes davon ausging, dass der Aufenthalt der Leistungsberechtigten nur von kurzer Dauer und vorübergehend sei. Das werde jedoch der tatsächlichen Situation nicht gerecht. Der überwiegende Teil der Personen, die Leistungen nach dem AsylbLG erhalten, halte sich länger als sechs Jahre in Deutschland auf, erklärte das BVerfG unter Bezugnahme auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Jahr 2010. Damit sei die im AsylbLG angelegte Vermutung, die Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG hielten sich nur kurzzeitig in Deutschland auf, erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.42 Der Gesetzgeber stehe damit, so eine Auffassung im Schrifttum, vor der Aufgabe, Personen zu identifizieren, deren Aufenthalt tatsächlich vorübergehend ist. Fraglich sei, ob dies durch eine Generalisierung anhand aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen gelingen könne. Ein Referenzpunkt könnte für Asylbewerber die sechswöchige bis maximal dreimonatige Dauer der Verpflichtung zum Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung sein. 43 5. Fazit Das nach dem Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 geänderte AsylbLG sieht in § 3 Abs. 1 Satz 1 bei einem Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung gemäß § 44 AsylVfG vorrangig Sachleistungen zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums vor. Für den persönlichen Be- 38 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 73. 39 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 74. 40 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 75. 41 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 94. 42 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, juris Rn 93; vgl. auch BT-Drs. 17/642 vom 5. Februar 2010. 43 Janda, Constanze, ZAR 2013, 175 (178ff); vgl. Fn 35. Mit Wirkung vom 1. März 2015 erhalten Leistungsberechtigte gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG bereits nach 15 Monaten höhere Analogleistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII und nicht mehr wie bisher nach 48 Monaten Vorbezugszeit. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 127/15 Seite 12 darf wird ein Taschengeld (Bargeldbedarf) gezahlt. Erst bei Unterbringung in einer anderen Unterkunft außerhalb einer Erstaufnahmeeinrichtung sind gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylbLG Geldleistungen vorrangig. Das BVerfG hält die Gewährleistung des Existenzminimums durch Sachleistungen trotz zahlreicher Bedenken in der Literatur für zulässig. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass im Rahmen des maximal dreimonatigen Aufenthalts in einer Erstaufnahmeeinrichtung das physische Existenzminimum durch Sachleistungen gesichert werden kann. Der Bargeldbedarf dient demzufolge auch der Sicherung des sozio-kulturellen Existenzminimums, das auch bei einem nur kurzfristigen Aufenthalt und ab Beginn des Aufenthalts im Sinne der Einheitlichkeit ebenfalls gesichert sein muss. Der Gesetzgeber darf eine bestimmte Personengruppe abweichend vom Regelbedarf behandeln, wenn er tatsächliche Minderbedarfe aufgrund des vorübergehenden Aufenthalts differenziert, realitätsgerecht und nachvollziehbar darlegen kann. Dabei muss aber die betroffene Personengruppe hinreichend klar gesetzlich umschrieben sein. Der Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums einer bestimmten Personengruppe - hier von Zuwanderern aus den Staaten des Westbalkans - dauerhaft und ausschließlich durch Sachleistungen sind damit enge Grenzen gesetzt. Geklärt werden müsste insbesondere, wie durch Sachleistungen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleistet werden kann und wie diese Sachleistungen den tatsächlichen Bedarf des Leistungsempfängers decken können. Zudem ist der zeitliche Rahmen für die ausschließliche Gewährung von Sachleistungen fraglich. Derzeit erhalten Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG ab Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland einen Bargeldbetrag zur Deckung ihrer persönlichen Bedürfnisse. Es bedarf zudem einer substanziellen Begründung für die Beschränkung des Sachleistungsprinzips auf eine bestimmte Personengruppe , deren gemeinsames Merkmal die Herkunft ist.44 44 Ende der Bearbeitung.