© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 115/19 § 5 des Tarifvertragsgesetzes Verfassungsrechtliche Aspekte im Lichte der Rechtsprechung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Wegfall des 50-Prozent-Quorums 9 5.2. Besonderes öffentliches Interesse 9 5.2.1. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG 9 5.2.2. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG 10 5.2.3. Andere Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses 11 5.3. § 5 Abs. 1a TVG 11 5.4. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG 11 5.5. Verfahrensänderungen 12 5.5.1. Gemeinsamer Antrag 12 5.5.2. Bekanntmachung 13 6. Kritik an der Neufassung 13 6.1. Wegfall des 50-Prozent-Quorums 13 6.2. Regelbeispiele des besonderen öffentlichen Interesses 14 6.2.1. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG 14 6.2.2. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG 15 6.3. Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG 16 7. Diskussion wesentlicher Aspekte 16 7.1. Demokratie und Rechtsstaatsprinzip 16 7.2. Grundrecht der Koalitionsfreiheit 18 7.2.1. § 5 Abs. 1 TVG 18 7.2.2. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG 20 7.3. Grundrecht der Arbeitsvertragsfreiheit 21 8. Fazit 23 Literaturverzeichnis 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 4 1. Einleitung Tarifverträge bilden in der geltenden Wirtschaftsordnung eine zentrale Rechtsquelle des Arbeitsrechts . Ihre normative Wirkung beschränkt sich nach §§ 3 und 4 des Tarifvertragsgesetzes (TVG)1 auf den Kreis der tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien. Durch Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die normative Wirkung darüber hinaus auf nicht oder anders tarifgebundene Arbeitsverhältnisse erstrecken (§ 5 Abs. 4 Satz 1 TVG), um faire und angemessene Wettbewerbs- und Arbeitsbedingungen in der jeweiligen Branche zu gewährleisten. Voraussetzungen und Verfahren für die Allgemeinverbindlicherklärung regelt § 5 TVG. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem Normenkontrollverfahren mit Beschluss vom 24. Mai 19772 die Vereinbarkeit der damals geltenden Bestimmungen des § 5 Abs. 1 - 5 und 7 TVG alte Fassung ( a.F.) mit dem Grundgesetz bestätigt.3 Mit Beschluss vom 15. Juli 19804 hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen bestätigt. Durch Artikel 5 des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz)5 wurden die Bestimmungen des § 5 TVG mit Wirkung vom 16. August 2014 neugefasst und der Erlass von Allgemeinverbindlicherklärungen erleichtert. Hinsichtlich der Neuregelung werden allerdings im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mitunter verfassungsrechtliche Bedenken erhoben . 2. Frühere Regelung der Allgemeinverbindlicherklärung Nach den bis zum 15. August 2014 geltenden Bestimmungen des § 5 TVG a.F. konnte das BMAS einen Tarifvertrag auf Antrag einer der Tarifvertragsparteien im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklären, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens die Hälfte der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigten (sogenannte 50-Prozent-Quote) (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F.) und die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erschien (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG a.F.). 1 Tarifvertragsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I 1969, S. 1323), das zuletzt durch Artikel 4f des Gesetzes vom 18. Dezember 2018 (BGBl. I 2018, S. 2651) geändert worden ist. 2 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322, BGBl. I 1977, S. 1547; in Fortführung der BVerfG-Rechtsprechung vom 27. Februar 1973 - 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 ff. 3 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 52. (zit. nach juris). 4 BVerfG Beschluss vom 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74 und 1 BvR 439/79. Zit. nach juris). 5 Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 11. August 2014, BGBl. I 2014, S. 1348. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 5 Von diesen Voraussetzungen konnte lediglich abgesehen werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erforderlich erschien (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG a.F). 3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 5 TVG a.F. 3.1. Rechtsnatur und Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung In seiner Grundsatzentscheidung vom 24. Mai 1977 zur Vereinbarkeit des § 5 TVG in der bis zum 15. August 2014 geltenden Fassung mit dem Grundgesetz definiert das Bundesverfassungsgericht zunächst Rechtsnatur und Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung. Danach handelt es sich dabei weder um einen Verwaltungsakt noch um eine Rechtsverordnung, sondern um einen „Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet“6 und nicht an Art. 80 GG zu messen ist.7 Sie dehne - soweit ein öffentliches Interesse daran bestehe - die Verbindlichkeit der tarifvertraglichen Rechtsregeln auf Personen aus, die bisher vom Tarifvertrag nicht erfasst wurden, und sei deshalb - jedenfalls im Verhältnis zu den Außenseitern - ebenfalls Normsetzung.8 „Dadurch wird die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen gesichert. Die antragsabhängige Allgemeinverbindlicherklärung erweist sich in dieser Beziehung als ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen soll, indem sie den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhilft. Daneben dient sie dem Ziel, den Außenseitern angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern. Insoweit beruht die Allgemeinverbindlicherklärung auf der subsidiären Regelungszuständigkeit des Staates, die immer dann eintritt, wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht.“9 Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung weiter fest, dass das Verfahren zur Allgemeinverbindlicherklärung nicht vom Staat, sondern ausschließlich von den Tarifvertragsparteien eingeleitet werden könne.10 Der Staat aber prüfe eigenständig die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG a.F. und entscheide selbständig über Annahme oder Ablehnung des Antrags.11 6 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 55 (zit. nach juris). 7 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 76 (zit. nach juris). 8 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 59 (zit. nach juris). 9 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 61 (zit. nach juris). 10 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 64 (zit. nach juris). 11 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 67 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 6 Damit seien „[s]owohl die Mitwirkung der Koalitionen und des diese repräsentierenden Tarifausschusses als auch die Beteiligung des Staates […] notwendig, um die Außenseiter dem Tarifvertrag zu unterwerfen.“12 3.2. Demokratische Legitimation Nach Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts sind gegen den vom Gesetzgeber in der damaligen Fassung des § 5 TVG gefundenen Ausgleich zwischen den unverzichtbaren Geboten des Demokratieprinzips nach Art. 20 Abs. 2 GG und der Garantie des Betätigungsrechts der Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG „durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken nicht zu erheben. Die allgemeinverbindlichen Tarifnormen sind gegenüber den Außenseitern durch die staatliche Mitwirkung noch ausreichend demokratisch legitimiert. Der Staat hat sich seines in den Grenzen des Kernbereichs der Koalitionsfreiheit fortbestehenden Normsetzungsrechts nicht völlig entäußert .“13 „Der Staat hat bei der Allgemeinverbindlicherklärung zwar kein eigenständiges Initiativrecht und Entscheidungsrecht und kann keinen Einfluß auf den Inhalt der Normen nehmen. Auch hinsichtlich der Geltungsdauer der allgemeinverbindlichen Normen unterwirft er sich in § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG [a.F.] dem Willen der Tarifparteien. […] Unter dem Blickpunkt des Demokratieprinzips wird dieses Defizit staatlicher Entscheidungsfreiheit durch die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung und in dem ihr vorausgehenden Verfahren hinreichend ausgeglichen. § 5 Abs. 1 TVG macht die Ausdehnung der Tarifgebundenheit von strengen Bedingungen abhängig . Der Bundesminister hat eigenverantwortlich zu prüfen, ob sie erfüllt sind; er hat dabei insbesondere die Interessen der Außenseiter zu wahren. […] Im übrigen haben die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Außenseiter auch Gelegenheit, ihre Interessen im Verfahren schriftlich und mündlich zur Geltung zu bringen.“14 Ausgehend von der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie sei der Staat „verfassungsrechtlich jedenfalls nicht verpflichtet, die normative Bestimmung des Inhalts der Arbeitsverträge von Außenseitern in vollem Umfang als eigene Aufgabe an sich zu ziehen, sondern [dürfe] den Koalitionen auch insoweit noch maßgebenden Einfluss einräumen. Mit der von ihm gefundenen Regelung entspricht er in besonderem Maße der in Art 9 Abs. 3 GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Grundentscheidung; ein Verstoß gegen andere Prinzipien des Grundgesetzes ist nicht ersichtlich .“15 12 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 70 (zit. nach juris). 13 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 73 (zit. nach juris). 14 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 75 (zit. nach juris). 15 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 77 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 7 Kritik übt das Bundesverfassungsgericht allein an den Bestimmungen über die Bekanntmachung von Allgemeinverbindlicherklärungen, die trotz Unanwendbarkeit des Art. 82 GG nicht befriedigend seien, der verfassungsrechtlichen Nachprüfung unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips aber noch standhielten.16 Die Transparenz des Verfahrens hat der Gesetzgeber inzwischen durch Einfügung des § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG in die Bekanntmachungsbestimmungen verbessert (siehe oben Punkt 2.3, S. 13). 3.3. Grundrecht der Koalitionsfreiheit Einen Eingriff in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG verneint das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung. „Das individuelle Grundrecht des Einzelnen, zur Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden und an der verfassungsrechtlich geschützten Tätigkeit seiner Koalition teilzunehmen, wird nicht generell dadurch verletzt, daß für sein Arbeitsverhältnis solche Inhaltsregelungen gelten , die von ihm fremden Verbänden ausgehandelt worden sind.“17 Auch die Freiheit, sich einer anderen als der vertragschließenden oder keiner Koalition anzuschließen (negative Koalitionsfreiheit ), werde durch diese Regelungen nicht beeinträchtigt; Zwang oder Druck in Richtung auf eine Mitgliedschaft werde nicht ausgeübt.18 Das Bundesverfassungsgericht verneint schließlich auch einen Eingriff in das Grundrecht der kollektiven Koalitionsfreiheit: Der Staat sei nicht gehindert , „die von anderen konkurrierenden Koalitionen gesetzten Normen, die bereits ein gewisses Maß an Verbreitung erreicht haben, für allgemeinverbindlich zu erklären, weil ein öffentliches Interesse hieran besteht, auch wenn dadurch das Betätigungsfeld der anderen Verbände eingegrenzt wird. Ein rechtliches Hindernis zum Abschluß eines Tarifvertrags im gleichen fachlichen Geltungsbereich errichtet die Allgemeinverbindlicherklärung nicht; er wird durch sie auch nicht faktisch unmöglich gemacht.“19 In einem weiteren Beschluss vom 15. Juli 1980 zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, die vor allem die negative Koalitionsfreiheit thematisierte, hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprecheng bestätigt.20 16 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 78 ff. (zit. nach juris). 17 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 84 (zit. nach juris). 18 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 86 (zit. nach juris). 19 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 87 (zit. nach juris). 20 BverfG Beschluss vom 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74 und 1BvR 439/79 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 8 4. Entwicklung der Tarifbindung und politische Reaktion Der Grad der Tarifbindung in Deutschland ist nach den Feststellungen des Tarifarchivs des Wirtschafts - und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen.21 Gewerkschaften und Unternehmensverbände haben Mitglieder verloren. Bei den Arbeitgebern gibt es zudem immer mehr Unternehmen, die nur noch zur Mitgliedschaft im Verband bewegt werden können, wenn sie von der Tarifbindung ausgenommen sind. Von einem Flächentarifvertrag waren dem WSI Tarifarchiv zufolge 2018 danach deutschlandweit nur noch 46 Prozent der Arbeitnehmer erfasst.22 Aufgrund der geringer werdenden Tarifbindung erwiesen sich die gesetzlichen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen als immer höhere Hürde. Auch auf die praktischen Schwierigkeiten beim Nachweis der Erfüllung des 50-Prozent-Quorums wird in diesem Zusammenhang hingewiesen.23 Im Koalitionsvertrag für die 18. Wahlperiode wurde daher eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung vereinbart, die unter anderem einen Verzicht auf das Quorum vorsah.24 Die Absicht der Koalitionäre rief damals ein geteiltes Echo hervor. Während der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung begrüßte, weil dadurch das Tarifvertragssystem stabilisiert und die Tarifautonomie gestärkt werde,25 mahnte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) einen verantwortungsbewussten und vorsichtigen Umgang mit dem Instrument an und wies auf die Gefahr hin, dass die Allgemeinverbindlicherklärung faktisch voraussetzungslos werde. 21 WSI Tarifarchiv: Tarifbindung West und Ost in % der Beschäftigten 1998 - 2018, Schaubild, abrufbar im Internet-Auftritt der Hans-Böckler-Stiftung: https://www.boeckler.de/pdf/ta_tarifbindung_beschaeftigte_1998_2018.pdf (letzter Abruf: 5. Dezember 2019). 22 WSI Tarifarchiv: Tarifbindung der Beschäftigten (West und Ost) - Anteil der Beschäftigen in %, Schaubild, abrufbar im Internet-Auftritt der Hans-Böckler-Stiftung: https://www.boeckler.de/pdf/ta_tarifbindung_beschaeftigte_2018.pdf (letzter Abruf: 5. Dezember 2019). 23 Vgl. , Bepler, Klaus: Stärkung der Tarifautonomie - welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag. München 2014, S. 113. 24 Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 67, abrufbar im Internetauftritt des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag.de/resource/blob/194886/696f36f795961df200fb27fb6803d83e/koalitionsvertragdata .pdf (letzter Abruf: 5. Dezember 2019). 25 DGB: DGB-Bewertung zur Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und SPD, Pressemitteilung PM 203 vom 27. November 2013, abrufbar im Internetauftritt des DGB: https://www.dgb.de/presse/++co++75760156-56a9-11e3-a387-00188b4dc422 (letzter Abruf: 5. Dezember 2019). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 9 5. Neuregelung durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz Die im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung wurde durch Artikel 5 des am 16. August 2014 in Kraft getretenen Tarifautonomiestärkungsgesetzes umgesetzt, das insbesondere die materiellrechtlichen Anforderungen an eine Allgemeinverbindlicherklärung verringert hat. 5.1. Wegfall des 50-Prozent-Quorums Das bisher tragende Erfordernis der Erfüllung des 50-Prozent-Quorums ist in der novellierten Fassung weggefallen. Die Gesetzesbegründung weist auf die mit dem starren Quorum verbundenen Hemmnisse bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen hin und hebt außerdem hervor: „Gerade in Gebieten oder in Wirtschaftszweigen, in denen der Verbreitungsgrad der Tarifverträge gering und der Organisationsgrad der Tarifvertragsparteien schwach ist, kann aber ein besonderes Bedürfnis bestehen, eine bedrängte tarifliche Ordnung zu stützen und damit in diesen Bereichen angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.“26 5.2. Besonderes öffentliches Interesse Einzige materielle Voraussetzung einer Allgemeinverbindlicherklärung ist nun nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG das Bestehen eines bereits nach bisherigem Recht erforderlichen besonderen öffentlichen Interesses, das den Rahmen für die Ermessensentscheidung des BMAS steckt. Der unbestimmte Rechtsbegriff des öffentlichen Interesses wird in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG durch zwei Regelbeispiele konkretisiert. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt, wird das Bestehen eines öffentlichen Interesses gesetzlich vermutet. Danach ist die Allgemeinverbindlicherklärung in der Regel im öffentlichen Interesse geboten, „wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat“ (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG) oder „die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt“ (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG). 5.2.1. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG Die überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrags im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG kann sich nach der Gesetzesbegründung „in erster Linie aus der mitgliedschaftlichen Tarifbindung ergeben . Darüber hinaus sind für die Feststellung der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertra- 26 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 27, 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 10 ges nunmehr [anders als vorher bei der Ermittlung des 50-Prozent-Quorums] sämtliche Arbeitsverhältnisse heranzuziehen, die tarifgemäß ausgestaltet sind. Berücksichtigt werden können damit inhaltsgleiche Anschlusstarifverträge, vertragliche Inbezugnahmen sowie die anderweitige Orientierung des Arbeitsverhältnisses an den tariflichen Regelungen.“27 Danach ist die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich des Tarifvertrages unabhängig von der konkreten Rechtsgrundlage nach dessen Rechtsnormen zu bestimmen. Nicht hinreichend ist den Gesetzesmaterialien zufolge, dass sich der Tarifvertrag bloß relativ im Vergleich zu anderen Tarifverträgen durchgesetzt hat.28 Mit der Formulierung des Regelbeispiels in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG wurde nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) das 50-Prozent-Quorum aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a.F. übernommen. Im Kern gehe es um die Repräsentativität der für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifnormen.29 Mit dem Regelbeispiel der „überwiegenden Bedeutung“ hat sich der Gesetzgeber vom Wortlaut her wieder einer Rechtslage angenähert, wie sie 1918 galt, setzt aber einen größeren Bezugsrahmen.30 5.2.2. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG Von einer wirtschaftlichen Fehlentwicklung im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG kann nach der Gesetzesbegründung „insbesondere ausgegangen werden, wenn die Aushöhlung der tariflichen Ordnung den Arbeitsfrieden gefährdet. Auch kann von Bedeutung sein, ob in Regionen oder Wirtschaftszweigen Tarifstrukturen erodieren. In einem solchen Fall ist die durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes gewährleistete Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien im besonderen Maße beeinträchtigt.“31 Die Erhaltung einer funktionsfähigen Tarifordnung liege auch im öffentlichen Interesse. 27 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 48 f. 28 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) a) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 18/1558 - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) b) […], Bundestagsdrucksache 18/2010 (neu) vom 2. Juli 2014, S. 16. 29 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 119 f. (zit. nach juris). 30 Vgl. Franzen, Martin: Verfassungsrechtliche und konzeptionelle Fragen der AVE Reform durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz . In: Soziales Recht SR ; wissenschaftliche Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht 7 (2017), S. 14 - 23, 14 und 16; vgl. auch BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 116 (zit. nach juris). 31 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 11 5.2.3. Andere Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses Die in den Regelbeispielen genannten Fallgruppen, für die ein öffentliches Interesse widerlegbar vermutet wird, sind nicht abschließend. Die Berücksichtigung anderer Aspekte eines besonderen öffentlichen Interesses ist dadurch nicht ausgeschlossen.32 5.3. § 5 Abs. 1a TVG Neu eingefügt wurde § 5 Abs. 1a TVG, der die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages über die Errichtung oder Durchführung einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien regelt, die in besonderer Weise von ihrer Allgemeinverbindlichkeit abhängig sind.33 Ein solcher Tarifvertrag kann auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien hin für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn er bestimmte, in § 5 Abs. 1a Nr. 1 - 5 TVG abschließend aufgeführte Regelungsgegenstände enthält. Einzige materiell-rechtliche Voraussetzung für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1a TVG ist die Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung. Ein öffentliches Interesse ist nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG „bereits grundsätzlich dann gegeben, wenn durch die Allgemeinverbindlicherklärung die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien gesichert werden soll.“34 Nach § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG in Verbindung mit § 7 Abs. 2 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG)35 setzt die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach § 5 Abs. 1a TVG dessen Repräsentativität voraus. 5.4. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG Ebenfalls neu eingefügt wurde als Sondervorschrift für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen die Bestimmung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG, wonach ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag vom Arbeitgeber 32 Vgl. Jöris, Heribert: Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem neuen § 5 TVG. In: NZA (2014), S. 1313–1319, 1317. 33 Vgl. Bepler, Stärkung der Tarifautonomie - welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag [wie Fn. 23], S. 112; vgl. auch Preis, Ulrich/Povedano Peramato, Alberto: Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifautonomiestärkungsgesetz. Frankfurt am Main 2017, S. 57 f. und Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 49. 34 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 49. 35 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) vom 20. April 2009 (BGBl. I S. 799), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. November 2019 (BGBl. I S. 1756) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 12 auch dann einzuhalten ist, wenn er nach § 3 TVG mitgliedschaftlich an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag kommt damit gegenüber mitgliedschaftlich legitimierten Tarifverträgen verdrängende Wirkung zu.36 Nach der Gesetzesbegründung dient diese Verdrängungsregelung „dem Ziel, die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung durch Einbeziehung aller Arbeitgeber im Geltungsbereich zu sichern“37. Die Regelung entspricht im Wesentlichen dem § 8 Abs. 2 AEntG.38 5.5. Verfahrensänderungen 5.5.1. Gemeinsamer Antrag Gegenüber der früheren Regelung eingeschränkt wurde das Antragserfordernis für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages. Während es bisher ausreichte, wenn die Allgemeinverbindlichkeit von einer der Parteien des Tarifvertrags beantragt wurde, fordert die neugefasste Bestimmung des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG einen gemeinsamen Antrag sämtlicher Vertragsparteien. Damit wird laut Gesetzesbegründung „gewährleistet, dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrages erforderlich erscheint.“39 Dies gilt nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG auch für Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen. Unverändert blieben das Erfordernis des Einvernehmens mit dem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden und jetzt ausdrücklich so benannten „Tarifausschuss“ (§ 5 Abs. 1 Satz 1 und 1a Satz 1 TVG) sowie die Regelung der Arbeitsweise des Tarifausschusses40. 36 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 148 (zit. nach juris). 37 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 50. 38 Forst, Gerrit: Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz . In: Recht der Arbeit RdA ; Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts 68 (2015), S. 25 - 36, 33 mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum; BAG Beschluss vom 20. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 148. 39 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) vom 28. April 2014, Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 48. 40 Vgl. §§ 1-3 der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes (TVGDV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Januar 1989 (BGBl. I 1989, S. 76), die zuletzt durch Artikel 11 Absatz 39 des Gesetzes vom 18. Juli 2017 (BGBl. I 2017, S. 2745) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 13 5.5.2. Bekanntmachung Nach § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG müssen bei der Bekanntmachung der Allgemeinverbindlicherklärung auch die von der Allgemeinverbindlicherklärung erfassten Rechtsnormen des Tarifvertrages bekanntgemacht werden. Dies war vor Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes nicht der Fall. Damit hat der Gesetzgeber die vom Bundesverfassungsgericht bemängelte Transparenz des Verfahrens (siehe oben Punkt 3.2, S. 7) gegenüber der damals zugrundeliegenden Rechtslage verbessert , wenn auch von der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung weiteres Verbesserungspotenzial erkannt wird.41 6. Kritik an der Neufassung In der öffentlichen Anhörung vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) des Deutschen Bundestages dominierte das Mindestlohngesetz (Art. 1 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes ) die Diskussion, während die Änderungen des Tarifvertragsgesetzes (Artikel 5) kaum thematisiert wurden. 42 Bedenken wurden soweit ersichtlich lediglich von Thüsing im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG vorgetragen (siehe dazu unten Punkt 6.2.1, S. 14). Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird nicht selten Kritik an Systematik, Konzeption und Zweckmäßigkeit der Neufassung des § 5 TVG sowie deren praktischer Relevanz und Anwendbarkeit geübt. Im Einzelfall wird aber auch die Vereinbarkeit der Neuregelung mit dem Grundgesetz in Zweifel gezogen. So meinen Henssler/Höpfner, aufgrund der wesentlichen Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung könne das in der vorgestellten Rechtsprechung zur früheren Rechtslage vom Bundesverfassungsgericht gefundene Ergebnis „nicht unbefangen auf die Neufassung übertragen“ werden.43 6.1. Wegfall des 50-Prozent-Quorums Bepler äußerte im Hinblick auf die Konzeption des besonderen öffentlichen Interesses Zweifel, dass mit einer derart allgemein gehaltenen ausschließlichen Grundvoraussetzung die Bedingung für einen hoheitlichen Eingriff durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber hinreichend 41 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 109 (zit. nach juris); Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 38], S. 26. 42 Vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) a) Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) b) […], Bundestagsdrucksache 18/2010 (neu) vom 2. Juli 2014. 43 Henssler, Martin/Höpfner, Clemens: Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit - Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten. Gutachten im Auftrag des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Köln/Münster 2018, S. 76. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 14 konkret umschrieben wäre. Das bisher geforderte Quorum habe mit der sich daraus ergebenden Repräsentativität und der aus ihr folgenden Angemessenheitsvermutung eine inhaltliche Anforderung an die erstreckbaren Tarifverträge gestellt, auf die nun im Grundsatz verzichtet werden solle. Das neu einzuführende Erfordernis der gemeinsamen Antragstellung der Tarifvertragsparteien könne das Quorum nicht funktional ersetzen, da es sich nicht auf die Repräsentativität beziehe .44 Henssler/Höpfner betonen in diesem Zusammenhang das vom Bundesverfassungsgericht konstatierte „Defizit staatlicher Entscheidungsfreiheit“( siehe oben Punkt 3.2, S. 11), das allein dadurch ausgeglichen werde, dass die Allgemeinverbindlicherklärung nur unter strengen Voraussetzungen zulässig sei. Durch den Wegfall des 50-Prozent-Quorums und die „Wertoffenheit“ der Tatbestandskriterien für das öffentliche Interesse sowie die zusätzliche Einschränkung der Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung durch das Erfordernis des gemeinsamen Antrags der Tarifvertragsparteien sei ein Ausgleich dieses „Defizits staatlicher Entscheidungsfreiheit“ im Ergebnis nicht mehr möglich, sodass ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatprinzip nunmehr nicht mehr ausgeschlossen werden könne.45 6.2. Regelbeispiele des besonderen öffentlichen Interesses 6.2.1. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG Thüsing hat in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung zum Tarifautonomiestärkungsgesetz vor allem das Regelbeispiel das § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG in Frage gestellt, wonach ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlicherklärung gegeben ist, wenn ein Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hat. Diese Formulierung breche mit dem bisherigen Verständnis des öffentlichen Interesses im Rahmen der Allgemeinverbindlicherklärung , für das Rechtlehre und Rechtsprechung typische Konstellationen erarbeitet hätten.46 „Setzte bisher das öffentliche Interesse grosso modo eine wirtschaftliche Fehlentwicklung voraus , genügt nunmehr allein die tatsächliche Bedeutung eines Tarifvertrages.“47 Thüsing erkennt hierin einen Verfassungsverstoß. Auch Henssler kritisiert, der Grad der Tarifgebundenheit gebe keinen Hinweis auf ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlicherklärung. Das Gegenteil sei der Fall: Je höher der 44 Bepler, Stärkung der Tarifautonomie - welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag [wie Fn. 23], S. 112, 114. 45 Henssler/Höpfner, Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit - Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten [wie Fn. 43], S. 83 ff. 46 Thüsing, Gregor: Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 30. Juni 2014 in Berlin zum a) Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) - Drucksache 18/1558 b) […] Ausschussdrucksache 18(11)161 vom 25. Juni 2014, S. 52-61, 59 f. mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur. 47 Ebd., S. 61. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 15 Grad der Tarifgebundenheit, desto geringer sei das öffentliche Interesse an einem Schutz vor „Schmutzkonkurrenz und Lohndrückerei“.48 Mit dieser ausschließlichen Hervorhebung der wettbewerbslenkenden Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung wird jedoch die ihr ebenfalls zukommende soziale Schutzfunktion vernachlässigt, die das Ziel hat, auch für die Außenseiter „angemessene Arbeitsbedingungen“ zu sichern.49 6.2.2. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG Bepler wendet sich gegen die Alternative des § 5 Abs. Satz 1 Nr. 2 TVG, wonach ein besonderes öffentliches Interesse in der Regel vorliegt, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung erforderlich erscheint, um die Effektivität der tariflichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen zu sichern. Die wenig griffige Formulierung dieser Alternative beschreibe die Eingriffsvoraussetzungen nicht hinreichend konkret.50 Henssler hält die Formel deshalb als Auffangtatbestand für „praktisch nicht verwertbar“.51 Mitunter werden Zweifel geäußert, ob in Anbetracht der Regelungsmöglichkeiten nach den Bestimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des gleichzeitig neu eingeführten Mindestlohngesetzes überhaupt ein Erfordernis für eine derartige Regelung bestehe.52 Im Schrifttum wird daher zum Teil die Auffassung vertreten, dass es dafür in der Praxis wie zuvor für den Fall des „sozialen Notstands“ (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG a.F) kaum einen praktischen Anwendungsfall geben werde.53 Vor dem Hintergrund der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es verfassungswidrig sein könnte, „wenn der Geltungsbereich eines Tarifvertrages auf Außenseiter erstreckt würde, der von im konkreten Bereich völlig unbedeutenden Koalitionen abgeschlossen wurde“, 54 48 Henssler, Martin: Mindestlohn und Tarifrecht. In: Recht der Arbeit RdA ; Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts 68 (2015), S. 43 - 56, 51. 49 Lakies in Tarifvertragsgesetz mit Arbeitnehmer-Entsendegesetz. NomosKommentar, hrsg. v. Wolfgang Däubler und Martina Ahrendt. Baden-Baden 2016, § 5 TVG, Rn. 18 mit weiteren Nachweisen aus Schrifttum und Rechtsprechung ; BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 6 (zit. nach juris). 50 Bepler, Stärkung der Tarifautonomie - welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag [wie Fn. 23], S. 114. 51 Henssler, Mindestlohn und Tarifrecht [wie Fn. 48], S. 51. 52 Bepler, Stärkung der Tarifautonomie - welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag [wie Fn. 23], S. 114; so auch Henssler/Höpfner, Der Kern der negativen Koalitions - und Tarifvertragsfreiheit - Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten [wie Fn. 43], S. 81; Jöris, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem neuen § 5 TVG [wie Fn. 32], S. 1319. 53 Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 38], S. 30. 54 BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 18. Juli 2000 - 1 BvR 948/00, Rn. 7 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 16 dürfte eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend vorzunehmen sein, dass ein Tarifvertrag auch bei dieser Tatbestandsalternative eine gewisse Bedeutung in einer Branche aufweisen muss.55 6.3. Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG In Frage gestellt wird insbesondere auch die Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG. Die dort angeordnete Verdrängungswirkung zugunsten für allgemeinverbindlich erklärter Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen verstoße gegen Grundrechte nicht oder anderweitig gebundener Arbeitgeber. 7. Diskussion wesentlicher Aspekte Ein Teil der aufgeworfenen Fragen war bereits Gegenstand der früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur alten Rechtslage. Es stellt sich die Frage, ob die vom 2. Senat festgestellte Vereinbarkeit der Bestimmungen zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen mit dem Grundgesetz insoweit auch für die Neufassung des § 5 TVG Geltung beansprucht oder ob die vorgenommen Änderungen die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen zur Folge haben könnten Das Bundesarbeitsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2018 auf der Grundlage einer umfänglichen Prüfung keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neufassung des § 5 Abs. 1 TVG erhoben.56 Unter Berücksichtigung der Feststellungen des Bundesarbeitsgerichts soll im Folgenden auf die wesentlichen Aspekte der vorgetragenen Kritik eingegangen werden. 7.1. Demokratie und Rechtsstaatsprinzip § 5 Abs. 1 TVG setzt für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung einen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragspartner voraus. Dem BMAS kommt mithin für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung kein eigenes Initiativrecht zu und es ist auch inhaltlich an die Normen des 55 Vgl. Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 38], S. 29; ebenso Preis/Povedano Peramato, Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 33], S. 52. 56 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 106 ff. (zit. nach juris); vgl. dazu zustimmend Ulber, Daniel: Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen auf dem Prüfstand des BAG. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA ; Zweiwochenschrift für die betriebliche Praxis 35 (2018), S. 3-7; Greiner, Stefan/Zoglowek, Joanna: Die Allgemeinverbindlicherklärung von Sozialkassentarifverträgen im Baugewerbe nach neuem Recht Entscheidungsbesprechung zu BAG (10. Senat), Beschluss vom 21.3.2018 - 10 ABR 62/16. In: Betriebs-Berater BB; Zeitschrift für Recht, Steuern und Wirtschaft 73 (2018), S. 2996-3002; Berg, Peter: Tarifvertragsgesetz Basiskommentar zum TVG. Frankfurt am Main 2017. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 17 Tarifvertrags gebunden und trifft lediglich die Entscheidung darüber, ob diese auch auf Außenseiter erstreckt werden sollen. Wegen dieser zentralen Beteiligung der demokratisch nicht legitimierten Tarifvertragsparteien konstatierte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1977 ein Demokratiedefizit, das aber durch die strengen gesetzlichen Voraussetzungen für diesen Rechtsetzungsakt hinreichend ausgeglichen werde (siehe oben Punkt 3.2., S.6). Durch die Neufassung der Bestimmung ist insoweit gegenüber der bis zum 15. August 2014 geltenden Rechtslage keine Veränderung eingetreten. Die Entscheidung über den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung liegt trotz der Voraussetzung eines gemeinsamen Antrags der Tarifvertragsparteien und des erforderlichen Einvernehmens mit dem Tarifausschuss letztlich allein im normativen Ermessen des BMAS und erfordert - wie schon zuvor - eine eigenverantwortliche Prüfung, ob ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages besteht. Dieses Erfordernis hat das Bundesarbeitsgericht zur Sicherstellung der demokratischen Legitimation konkretisiert: Der Grundsatz der Volkssouveränität aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verlange eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den Organen und Amtswaltern, die die staatliche Gewalt ausüben, sodass eine Befassung auf Minister- oder Staatssekretärsebene erforderlich sei.57 Soweit unter Bezugnahme auf den Wegfall des 50-Prozent-Quorums als zwingende materiellrechtliche Voraussetzung angenommen wird, dass das vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Demokratiedefizit nun nicht mehr hinreichend ausgeglichen werde, steht dahinter die Sorge, dass unter der Geltung des neugefassten § 5 Abs. 1 TVG unter Umständen Minderheitstarifverträge aufgrund gemeinsamen Antrags der Tarifvertragspartner vom BMAS für allgemeinverbindlich erklärt werden müssten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 1 TVG a.F. weder ausdrücklich noch mittelbar an das Bestehen des 50-Prozent-Quorum geknüpft.58 Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auch nicht ableiten, „dass es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verwehrt wäre, die Voraussetzungen für den Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung zu verändern oder zu erleichtern.“59 So hat es die Bestimmung des § 7 Abs. 3a AEntG, die die Erstreckung von Mindestlohntarifverträgen durch Rechtsverordnung ermöglicht, für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten, obwohl ein entsprechendes Quorum dort ebenfalls fehlt.60 57 BAG Beschluss vom 21. September 2016 - 10 ABR 33/15, Leitsatz 1 und Rn. 146 ff. (zit. nach juris); BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn.110 (zit. nach juris). 58 Vgl. Preis/Povedano Peramato, Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 33], S. 26 ff. 59 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 111 mit weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum (zit. nach juris); vgl. auch Ulber, Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen auf dem Prüfstand des BAG [wie Fn. 56], S. 4. 60 BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 18. Juli 2000 - 1 BvR 948/00 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 18 Bei der Prüfung des öffentlichen Interesses wird den ausführenden Organen ein ganz erheblicher Beurteilungsspielraum zugestanden.61 Das Bundesarbeitsgericht weist darauf hin, dass die Bejahung des öffentlichen Interesses auch nicht notwendigerweise das Vorliegen eines der Regelbeispiele nach § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG voraussetzt.62 Umgekehrt dürfte der Fall vorstellbar sein, dass auch trotz Vorliegens der Tatbestandsmerkmale eines der Regelbeispiele ein öffentliches Interesse zu verneinen ist. Denn die Vermutungsregel des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG ist im Einzelfall widerlegbar , sodass sie eine freie Ermessensentscheidung ermöglicht.63 Dass die Entscheidung über den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung durch die Neufassung des § 5 Abs. 1 TVG in stärkerem Maße von demokratisch nicht legitimierten Außenseitern dominiert würde, als dies nach der vom Bundesverfassungsgericht zu beurteilenden Rechtslage der Fall war, ist nicht zu erkennen. Ein Demokratiedefizit dürfte insoweit mithin nicht anzunehmen sein. Die vorgenannten Überlegungen gelten nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch für die Regelung § 5 Abs. 1a TVG. Denn diese Bestimmung „verlangt für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung ebenfalls die abschließende Gesamtbeurteilung durch das BMAS, ob ein öffentliches Interesse besteht, und die zustimmende Befassung durch den zuständigen Minister oder Staatssekretär [...].“64 7.2. Grundrecht der Koalitionsfreiheit 7.2.1. § 5 Abs. 1 TVG Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Das Grundrecht schützt Einzelne in ihrer Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten, aber auch ihr fernzubleiben oder sie zu verlas- 61 Giesen in Rolfs, Christian/Giesen, Richard: BeckOK Arbeitsrecht. Beck'scher Online-Kommentar, § 5 TVG, Rn. 9 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG zur Rechtslage bis 15. August 2014; Thüsing, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 30. Juni 2014 in Berlin zum a) Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) - Drucksache 18/1558 b) […] Ausschussdrucksache 18(11)161 vom 25. Juni 2014, S. 52-61 [wie Fn. 46], S. 59 f. 62 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 111 (zit. nach juris); a. A. Giesen Rolfs/Giesen, BeckOK Arbeitsrecht [wie Fn. 61], § 5 TVG, Rn. 10. 63 Jöris, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem neuen § 5 TVG [wie Fn. 32], S. 1317. 64 BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 621/16, Rn. 146 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 19 sen (negative Koalitionsfreiheit), sowie die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und allen ihren koalitionsspezifischen Verhaltensweisen.65 Einzelne Autoren befürchten, die Neufassung des § 5 Abs. 1 TVG könne gegen die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG verstoßen.66 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt die negative Koalitionsfreiheit nicht davor, dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt.67 Für das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung kann insoweit nichts anderes gelten. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bereits einen Eingriff in dieses Grundrecht durch Allgemeinverbindlicherklärung nach der bis zum 15. August 2014 geltenden Rechtslage verneint (siehe oben Punkt 3.3, S. 7). Die Neufassung des § 5 Abs. 1 TVG hat, auch wenn sie die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages im Einzelfall vereinfachen sollte, keinen Einfluss auf einen davon ausgehenden Druck auf Außenseiter-Arbeitgeber, einer Koalition beizutreten. Insoweit ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Änderung gegenüber der damals zu beurteilenden Rechtslage eingetreten . Daher dürfte davon auszugehen sein, dass - unabhängig von der im Einzelnen geäußerten Kritik an den vorgenommenen Änderungen - der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit weiterhin nicht berührt ist.68 Auch hinsichtlich der positiven Koalitionsfreiheit, deren Schutzbereich das Bundesverfassungsgericht durch die Regelung der Allgemeinverbindlichkeit ebenfalls nicht berührt sah, hat die neue Rechtslage keine Veränderungen herbeigeführt, die zu einer abweichenden Einschätzung führen könnten. Dies gilt auch in Bezug auf die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Abs. 1a TVG.69 65 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. zuletzt Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 et al., Rn 130 zit. nach juris). 66 Vgl. z.B. Thüsing, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 30. Juni 2014 in Berlin zum a) Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ) - Drucksache 18/1558 b) […] Ausschussdrucksache 18(11)161 vom 25. Juni 2014, S. 52-61 [wie Fn. 46], S. 61; Henssler, Mindestlohn und Tarifrecht [wie Fn. 48], S. 44 ff. 67 BVerfG Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 68 (zit. nach juris). 68 So im Ergebnis auch Franzen, Verfassungsrechtliche und konzeptionelle Fragen der AVE Reform durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 30], S. 19; Henssler/Höpfner, Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit - Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten [wie Fn. 43], S. 77; Klumpp in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht: Band 3, Kollektives Arbeitsrecht I 2019, § 248, Rn. 34 mit weiterem Nachweis aus der Rechtsprechung des BVerfG. 69 Franzen, Verfassungsrechtliche und konzeptionelle Fragen der AVE Reform durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 30], S. 19 f.; BAG Beschluss vom 21. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 146 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 20 7.2.2. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG Das Bundesverfassungsgericht erkannte in seinem Urteil vom 24. Mai 1977 in den Regelungen zur Allgemeinverbindlicherklärung keinen Verstoß gegen die positive Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG, weil allgemeinverbindliche Tarifverträge danach keinen generellen Vorrang vor mitgliedschaftlich legitimierten Tarifverträgen genössen.70 Einen solchen Vorrang ordnet nun aber § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG für allgemeinverbindliche Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien an. Sofern ein mitgliedschaftlich legitimierter Tarifvertrag tatsächlich verdrängt wird, dürfte daher ein Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit nicht oder anders organisierter Arbeitgeber und die kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht verneint werden können.71 Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist insbesondere eine Abwägung mit anderen schützenswerten Verfassungsgütern erforderlich. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der sozialstaatlich erwünschten gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien und deren Schutz vor missbräuchlicher Umgehung erfordert die Einbeziehung aller Arbeitgeber einer Branche. Vor diesem Hintergrund dürfte der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG nicht unverhältnismäßig und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.72 Die Bezugnahme in § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG auf die Bestimmung des § 7 Abs. 2 AEntG, wonach die Repräsentativität des Tarifvertrages zu berücksichtigen ist, stellt außerdem sicher, dass konkurrierende Tarifverträge nicht von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen verdrängt werden können, die keine nennenswerte Verbreitung aufweisen.73 Das Bundesarbeitsgericht geht mit dieser Argumentation in einem jüngeren Urteil von der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der durch das Sozialkassensicherungsgesetz angeordneten Erstreckung von Sozialkassentarifverträgen aus: „Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit, mit denen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gesichert und Bedingungen für einen fairen Wettbewerb geschaffen werden sollen, sind gerechtfertigt.“74 70 BVerfG Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, Rn. 85 (zit. nach juris). 71 Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 38], S. 26; offengelassen von BAG Beschluss vom 20. März 2018 - 10 ABR 62/16, Rn. 148 (zit. nach juris). 72 Franzen, Verfassungsrechtliche und konzeptionelle Fragen der AVE Reform durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 30], S. 20; Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 38], S. 27; Preis/Povedano Peramato, Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 33], S. 78 ff. 73 Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz [wie Fn. 38], S. 27. 74 BAG Urteil vom 8. Mai 2019 - 10 AZR 559/17, Orientierungssatz 4 (Satz 2) und Rn. 35 ff. (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 21 7.3. Grundrecht der Arbeitsvertragsfreiheit Im Einzelfall wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, die Regelungen des § 5 TVG über die Allgemeinverbindlicherklärung stellten eine Verletzung der Freiheit der Berufsausübung der Außenseiterunternehmer nach Art. 12 Abs. 1 GG in ihrer Ausprägung als Arbeitsvertragsfreiheit dar.75 „Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Erwerbszwecken dienende Tätigkeit auch vor staatlichen Beeinträchtigungen , die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind […]. Die Berufsfreiheit ist auch dann berührt, wenn sich die Maßnahmen zwar nicht auf die Berufstätigkeit selbst beziehen, aber die Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern und in Folge ihrer Gestaltung in einem so engen Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen, dass sie objektiv eine berufsregelnde Tendenz haben […].“76 Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner oben dargestellten Entscheidung aus dem Jahr 1977 (siehe oben Punkt 3, S. 5 ff.) zur Allgemeinverbindlicherklärung nach altem Recht auf eine mögliche Verletzung der Arbeitsvertragsfreiheit nicht eingegangen. In seiner Entscheidung aus dem Jahr 1980 zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Auferlegung der im konkret angegriffenen Tarifvertrag auferlegten Zahlungspflicht zu den Sozialkassen nicht an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sei, da objektiv eine Tendenz zur Regelung unternehmerischer Tätigkeiten wie derjenigen der Beschwerdeführer nicht erkennbar sei.77 Die Neufassung der Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG hat an den Auswirkungen der Geltungserstreckung auf nicht tarifgebundene Unternehmer nichts geändert . „Die berufsregelnde Tendenz braucht nur objektiv vorhanden zu sein, weshalb auch Regelungen an Art. 12 Abs. 1 [GG] gemessen werden können, bei denen die Beeinträchtigung beruflicher Betätigung nicht intendiert ist.“78 Fehlt jedoch einer Regelung die berufsregelnde Tendenz, ist die Berufsausübungsfreiheit nicht betroffen. „Die Gegenansicht lässt für eine Beschränkung der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 [GG] jede spezifische, rechtlich oder faktisch wirkende Betroffenheit des Einzelnen bei seiner beruflichen Tätigkeit ausreichen, ohne an eine ‚berufsbezogene Tendenz‘ anzuknüpfen.“79 „Ihr ist zwar grundrechtsdogmatische Konsequenz zugute zu halten, da Art. 12 Abs. 1 [GG] rechtssystematisch wie jedes andere Grundrecht behandelt wird. 75 Henssler/Höpfner, Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit - Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten [wie Fn. 43], S. 77 ff. 76 BAG Urteil vom 20. November 2018 - 10 AZR 121/18, Rn. 55 (zit. nach juris) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG; ebenso BAG Urteil vom 8. Mai 2019 - 10 AZR 559/17, Rn. 44 (zit. nach juris). 77 BVerfG Beschluss vom 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74 und 1 BvR 439/79, Rn. 48 ff. (zit. nach juris). 78 Kämmerer in von Münch/Kunig: Grundgesetz Kommentar, Präambel bis Art. 69 2012, Art. 12 GG, Rn. 46. 79 Ebd., Art. 12 GG, Rn. 46 mit Nachweisen aus Schrifttum und Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 22 Der Maßstab der objektiv berufsregelnden Tendenz kann jedoch den Vorteil größerer Praktikabilität für sich verbuchen.“80 Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeichnet sich der Kommentarliteratur zufolge insoweit durch ein hohes Maß an Kasuistik aus; auch die übrige Rechtsprechung zur berufsbezogenen Tendenz vermag danach „ein kohärentes Bild […] nicht zu vermitteln und ist als Anknüpfungspunkt allgemeingültiger Lehrsätze wenig geeignet.“81 Henssler/Höpfner nehmen Bezug auf zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts, wonach bei der Prüfung arbeitsrechtlicher Normen auf den Nachweis der berufsbezogenen Tendenz verzichtet worden sei.82 In den genannten Fällen handelte es sich jedoch um gesetzliche Bestimmungen, durch die Arbeitgebern unmittelbar zusätzliche Kostenlasten bzw. Haftungsverpflichtungen aufgebürdet wurden, die sich aus der Beschäftigung von Arbeitnehmern ergaben. Es erscheint zweifelhaft , ob die dort vertretene Sichtweise auf die abstrakt-generelle Regelung des § 5 TVG übertragbar ist, die dem BMAS den Erlass von Allgemeinverbindlicherklärungen ermöglicht. Hier ist es in jedem Einzelfall Aufgabe des BMAS, die Vorteile für den Schutz der strukturell unterlegenen Arbeitnehmer gegen die Nachteile für die nicht oder anders organisierten Arbeitgeber abzuwägen , um zu einer verfassungsrechtlich vertretbaren Entscheidung zu gelangen.83 Das Bundesarbeitsgericht hatte in einer jüngeren Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit der Inbezugnahme verschiedener Fassungen eines konkreten Sozialkassentarifvertrags durch das Sozialkassensicherungsgesetz (SokaSiG)84 zu prüfen, der den Betrieben des Baugewerbes Zahlungspflichten auferlegt, die dazu verwendet werden, die Urlaubsentgeltansprüche der Arbeitnehmer im Baugewerbe zu erfüllen, ihre Aus- und Fortbildung sicherzustellen und den in Bauberufen tätig gewesenen Arbeitnehmern eine zusätzliche Altersrente zu gewähren. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts greift diese Inbezugnahme nicht als Berufsausübungsregelung in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte unternehmerische Betätigungsfreiheit der verpflichteten Arbeitgeber ein. Die durch die Beitragspflicht bezweckte Umlagefinanzierung des Urlaubskassenverfahrens, der Berufsbildung und der zusätzlichen Altersversorgung im Baugewerbe betreffe lediglich den Interessenausgleich zwischen den branchenzugehörigen Arbeitgebern untereinander und zu den Arbeitnehmern auf übertariflicher Ebene.85 80 Ebd., Art. 12 GG, Rn. 46. 81 Ebd., Art. 12 GG, Rn. 48. 82 Henssler/Höpfner, Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit - Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten [wie Fn. 43], S. 78 unter Bezugnahme auf BVerfG Beschluss vom 8. November 2003 - 1 BvR 302/96 (Verfassungsmäßigkeit des vom Arbeitgeber zu zahlenden Zuschusses zum Mutterschaftsgeld). 83 Vgl. z. B. Franzen in Müller-Glöge, Rudi/Preis, Ulrich/Schmidt, Ingrid: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. München 2020, § 5 TVG, Rn. 17 f.; Löwisch/Rieble in Löwisch, Manfred/Rieble, Volker: Tarifvertragsgesetz Kommentar. München 2017, § 5 TVG, Rn. 148. 84 Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz - SokaSiG) vom 16. Mai 2017 (BGBl. I S. 1210). 85 BAG Urteil vom 20. November 2018 - 10 AZR 121/18, Rn. 55 (zit. nach juris) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/19 Seite 23 8. Fazit Die Neufassung des § 5 TVG durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz hat im Schrifttum zu zahlreicher Kritik an Systematik, Konzeption und Zweckmäßigkeit der Neuregelung sowie deren praktischer Relevanz und Anwendbarkeit geführt. Es werden aber auch verfassungsrechtliche Bedenken vor allem im Hinblick auf die demokratische Legitimation, die Koalitionsfreiheit, aber auch die Arbeitsvertragsfreiheit erhoben. Nach überwiegender Ansicht im Schrifttum dürfte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1977 und 1980 zur Verfassungsmäßigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung nach damaligem Recht auch hinsichtlich der geänderten Bestimmungen im Wesentlichen weiter Geltung beanspruchen. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält keine eindeutigen Hinweise auf eine veränderte Einschätzung. Das Bundesarbeitsgericht hat in den bisher zur Neufassung ergangenen Entscheidungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben. Literaturverzeichnis Bepler, Klaus: Stärkung der Tarifautonomie - welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag. München 2014. Berg, Peter: Tarifvertragsgesetz Basiskommentar zum TVG. Frankfurt am Main 2017. 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