© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 115/16 Rechtliche Voraussetzungen für Pilotprojekte zum Grundeinkommen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 2 Rechtliche Voraussetzungen für Pilotprojekte zum Grundeinkommen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 115/16 Abschluss der Arbeit: 27. Oktober 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Das aktuelle finnische Pilotprojekt 4 3. Pilotprojekte als sogenannte experimentelle Gesetzgebung 5 4. Abstrakte verfassungsrechtliche Voraussetzungen experimenteller Gesetzgebung 6 5. Konkrete formelle verfassungsrechtliche Voraussetzungen bei der Umsetzung eines Pilotprojekts zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens 7 5.1. Formelle Verfassungsmäßigkeit eines bundesweiten Pilotprojekts 7 5.2. Formelle Verfassungsmäßigkeit eines räumlich begrenzten Pilotprojekts 9 6. Konkrete materielle verfassungsrechtliche Voraussetzungen bei der Umsetzung eines Pilotprojekts zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens 12 6.1. Personelle Begrenzung 14 6.2. Räumliche Begrenzung 14 6.3. Zeitliche Begrenzung 15 6.4. Zwischenergebnis 15 6.5. Verhältnismäßigkeitsprüfung 15 6.5.1. Testbedürfnis 15 6.5.2. Testgeeignetheit 16 6.5.3. Testerforderlichkeit 16 6.5.3.1. Verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit jenseits des Pilotprojekts 16 6.5.3.1.1. Formelle Verfassungsmäßigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens 17 6.5.3.1.2. Existenzminimum und Lohnabstandsgebot 19 6.5.3.1.3. Eigentumsrechtlicher Schutz erworbener Rentenanwartschaften und -ansprüche 21 6.5.3.2. Zwischenergebnis 21 6.5.4. Testverhältnismäßigkeit im engeren Sinne 21 7. Europarechtliche Bezüge 22 8. Fazit 25 9. Quellenverzeichnis 26 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 4 1. Einleitung Als bedingungsloses Grundeinkommen wird eine vom Staat ausgezahlte bedarfsunabhängige finanzielle Zuwendung bezeichnet, die jeder zur Sicherung des Lebensunterhalts und der sozialen Teilhabe erhält, ohne dass hierfür eine Gegenleistung erbracht werden muss oder besondere Voraussetzungen zu erfüllen sind. Es wird ohne Überprüfung der eigenen Einkommensverhältnisse oder sonstige Nachweise von Aktivitäten gewährt.1 Als Einkommen ohne Vorleistungen und ohne Bedarf steht das bedingungslose Grundeinkommen dem Leistungsprinzip des aktuellen Sozialsystems gegenüber, das eine Grundsicherung von der Arbeitsbereitschaft abhängig macht und im Zweifel auf strenge bürokratische Kontrollen setzt. Das bedingungslose Grundeinkommen soll insoweit sämtliche anderweitigen Sozialleistungen ersetzen. Es gibt eine Reihe von Modellen, die sich in ihrer konkreten Ausgestaltung unterscheiden, zum Beispiel in Bezug auf die Leistungshöhe, den berechtigten Personenkreis, die Art der Finanzierung und weitere Rahmenbedingungen. In Finnland soll ab 2017 ein Pilotprojekt beginnen. Nachfolgend wird geprüft, ob ein an dem finnischen Modell orientiertes Pilotprojekt, in dem ein bedingungsloses Grundeinkommen an zufällig ausgewählte Personen oder Bewohner einer bestimmten Gebietskörperschaft befristet gezahlt werden soll, nach deutschem Recht möglich wäre. 2. Das aktuelle finnische Pilotprojekt Mit dem finnischen Pilotprojekt sollen die Auswirkungen der Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens auf das Verhalten von Arbeitsuchenden untersucht werden, um das bestehende Sozialhilfesystem, das Hilfebedürftige eher lähme als motiviere, verbessern zu können. Das Experiment zielt insoweit darauf ab, herauszufinden, ob die Gewährung von bedingungslosem Grundeinkommen Beschäftigung fördern kann.2 Für die Durchführung des Experiments ist die Sozialversicherungsanstalt Finnlands (Kela) verantwortlich , die Empfängern von Arbeitslosenunterstützung für zwei Jahre ein Grundeinkommen gewähren soll. Altersrentner und Studenten gehören nicht zur Zielgruppe, da sie in der Regel keinem Erwerb nachgehen und sie insoweit nicht vom Ziel des Experiments, Beschäftigung zu fördern, erfasst werden. Unter den Empfängern von Arbeitslosenunterstützung soll eine stichprobenartige Testgruppe von 2.000 Personen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Die ausgewählten Personen müssen zwingend an dem Versuch teilnehmen. Die Höhe des Grundeinkom- 1 Vgl. u. a. FISCHER, Das Bedingungslose Grundeinkommen - Drei Modelle. Abrufbar im Internet unter https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/223286/das-bedingungslose-grundeinkommen-drei-modelle, zuletzt abgerufen am 13. Oktober 2016. 2 HANNEMANN, Das Orakel von Finnland. Brand Eins 05/16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 5 mens soll 560 Euro pro Monat betragen und richtet sich nach dem Betrag der bisherigen Arbeitslosenunterstützung .3 Damit soll die bisherige Auszahlung von Sozialleistungen durch die pauschale Zahlung einer einzigen Sozialleistungs-Fixsumme ersetzt werden.4 Im Nachhinein soll die Testgruppe mit einer Kontrollgruppe verglichen werden, die ebenfalls aus der Zielgruppe stammt, aber kein Grundeinkommen erhalten hat.5 3. Pilotprojekte als sogenannte experimentelle Gesetzgebung Im Grunde sind sämtliche Gesetze in mehr oder weniger starker Ausprägung Experimente, denn Gesetze werden für die Zukunft geschaffen. Dieser Experimentiercharakter findet Ausdruck in den zahlreichen Gesetzesänderungen und -novellierungen, die der Gesetzgeber vornimmt, um die Gesetzeslage der sich ständig ändernden Realität anzupassen.6 Dies ist jedoch vorliegend mit dem Begriff des Experimentiergesetzes nicht gemeint, sondern eine Gesetzgebung, die als Pilotprojekt nur einen Ausschnitt vornimmt, sodass bei komplexen und von Unsicherheit geprägten Situationen Erfahrungen realitätsnah gesammelt und die Regelungen unter Realbedingungen getestet werden können, damit im Nachhinein eventuell ein „echtes“ Gesetz ausgearbeitet und beschlossen werden kann.7 Der Sinn eines solchen Pilotprojektes ist es, in einem personellen, räumlichen und zeitlich beschränkten Rahmen Erfahrungen im Hinblick auf die Einführung eines Grundeinkommens zu sammeln. Das dem Pilotprojekt zugrunde liegende Gesetzeswerk ist daher sogenannte experimentelle Gesetzgebung.8 Welche Anforderungen insbesondere verfassungsrechtlicher Art an derartige Gesetzgebung zu stellen sind, ist umstritten. 3 RUDOLF, Finnland startet Pilotversuch, unter: http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/bedingungslosesgrundeinkommen -finnland-startet-pilotversuch-ld.17575 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2016). 4 Bedingungsloses Grundeinkommen in Finnland: Dieser Test ist eine Mogelpackung! Abrufbar im Internet unter: http://finanzmarktwelt.de/41095-41095/, zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2016. 5 Vgl. Ministry of Social Affairs and Health requests opinions on a basic income experiment, unter: http://www.kela.fi/web/en/news-archive/-/asset_publisher/lN08GY2nIrZo/content/ministry-of-social-affairsand -health-requests-opinions-on-a-basic-income-experiment?_101_INSTANCE_3a1vR0IztzeZ_redirect =%2Fweb%2Fen (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2016). 6 MAAß, Experimentierklauseln für die Verwaltung und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2001, 29. 7 DURNER, Verfassungs- und Völkerrechtsfragen der anonymen Geburt: Plädoyer für ein Experimentiergesetz, Zeitschrift für Gesetzgebung 20 (2005), 243, 258. 8 MAAß, Experimentierklauseln für die Verwaltung und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2001, 33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 6 4. Abstrakte verfassungsrechtliche Voraussetzungen experimenteller Gesetzgebung Dem Gesetzgeber steht bei komplexen Sachverhalten eine angemessene Zeit zum Sammeln von Erfahrungen zur Verfügung und er darf sich in diesem Anfangsstadium mit stärkeren Typisierungen und Generalisierungen begnügen.9 Dies darf aber nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass durch das Gesetzgebungsexperiment, eine „Spielwiese“ für verfassungswidrige Normen entstünde .10 Vielmehr verlangt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eindeutig, dass das Grundgesetz auch für zeitlich und örtlich begrenzte Versuche gelte, weil diese den gleichen Grundrechtsbezug wie eine definitive Regelung hätten.11 Zu klären ist daher, wie weit dieser anerkannte Spielraum gehen darf, ohne zur „Spielwiese“ zu werden. Es gibt im Schrifttum zwei äußerste Positionen zu dieser Frage: Auf der einen Seite wird die experimentelle Gesetzgebung bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG für möglich erachtet, da diese eine Vorform der Verfassungsänderung darstellen könne.12 Auf der anderen Seite werden enge Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Gesetzgebungsexperiments aufgestellt. Voraussetzungen seien neben der grundsätzlichen Legitimität und praktischen Durchführbarkeit, dass ein Bedürfnis für einen Test besteht und dieser geeignet, erforderlich und im Ganzen verhältnismäßig ist. Gesetzgebungsexperimente seien zudem nur dann zulässig, wenn die politische Willensbildung noch nicht abgeschlossen ist. Der Gesetzgebungstest sei zudem zu befristen, realitätsnah und ergebnisoffen zu gestalten und bedürfe der sachverständigen und objektiven Evaluation. Das Gesetzgebungsexperiment dürfe außerdem nicht zu einer irreversiblen Rechtslage oder zu unzumutbaren Opfern bei den Beteiligten führen. Daher seien entsprechende Vorsorge- und Auffangregelungen für die Zeit nach Ablauf des Experiments zu entwickeln. Eine grundsätzliche Lockerung der Verfassungsbindung im Bereich der experimentellen Gesetzgebung wird hingegen abgelehnt.13 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung dem experimentierenden Gesetzgeber in demselben Urteil, in dem es daran erinnerte, dass auch für ein Versuchsgesetz das Grundgesetz gelte, zugleich eine erheblich größere Gestaltungsfreiheit zugestanden, da solche Versuche der Aufgabe dienten, Erfahrungen zu gewinnen.14 In conreto geht es dabei vor allem um die Reduzierung gleichheitsrechtlicher Anforderungen. Zunächst muss nach dem Bundesverfassungsgericht eine genuine Versuchssituation vorliegen. Eine 9 STETTNER, Verfassungsbindung des experimentierenden Gesetzgebers, NVwZ 1989, 806 f. (806). 10 STETTNER, Verfassungsbindung des experimentierenden Gesetzgebers, NVwZ 1989, 806 f. (811). 11 BVerfGE 57, 295 (325). 12 STETTNER, Verfassungsbindung des experimentierenden Gesetzgebers, NVwZ 1989, 806 f. (812), m.w.N. 13 KLOEPFER, Gesetzgebung im Rechtsstaat, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 40, 1981, 93-96. 14 BVerfGE 57, 295 (325). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 7 solche verlangt, dass eine „normale“ Gesetzgebung, aufgrund hinreichender Aufklärbarkeit zukünftiger Sachverläufe nicht möglich ist und zugleich eine Güterabwägung ergeben hat, dass das Testziel nicht gegenüber einem höherrangigen Verfassungsgut als nachrangig zu bewerten ist. Außerdem muss eine Möglichkeit zum Abbruch des Experiments gegenüber konkurrierenden Vertrauenstatbeständen nach Ablauf der zwingend erforderlichen Experimentfrist bestehen bleiben .15 Solange unter diesen Bedingungen nach der Einschätzungsprärogative des Versuchsgesetzgebers keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verfassungsverletzung durch das Testgesetz spricht, darf normiert werden. Dies selbst dann, wenn die Möglichkeit eines Verfassungsverstoßes letztlich nicht auszuschließen ist und quasi als “Restrisiko” verbleibt.16 5. Konkrete formelle verfassungsrechtliche Voraussetzungen bei der Umsetzung eines Pilotprojekts zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens 5.1. Formelle Verfassungsmäßigkeit eines bundesweiten Pilotprojekts Das skizzierte Projekt betrifft Fragen des Sozialrechts und würde bei Umsetzung Änderungen des Sozialgesetzbuches (SGB) voraussetzen. Fraglich ist, ob es sich um den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 72 Abs. 1 GG handelt. Hierzu könnte der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „Sozialversicherung“ herangezogen werden. Die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung versteht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und heute allgemein anerkannter Auffassung als verfassungsrechtlicher Gattungsbegriff, der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt. Die Kompetenznorm ermöglicht die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem der Sozialversicherung, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen , insbesondere in der organisatorischen Bewältigung ihrer Durchführung, dem Bild entsprechen , das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist.17 Um die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG herzuleiten, genügt es also nicht, das Gesetz dem Bereich der „sozialen Sicherheit” zuzuordnen; vielmehr muss geprüft werden, ob dieses Ziel auf dem spezifischen Wege der „Sozialversicherung” im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erreicht werden soll.18 Das Bundesverfassungsgericht verlangt für die Einbeziehung von Sachverhalten unter den Begriff Sozialversicherung, dass „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ organisiert 15 STETTNER, Verfassungsbindung des experimentierenden Gesetzgebers, NVwZ 1989, 806 f. (812). 16 STETTNER, Verfassungsbindung des experimentierenden Gesetzgebers, NVwZ 1989, 806 f. (812). 17 MAUNZ in: MAUNZ/DÜRIG, GG, Art. 74 Rn. 161-176, beck-online. 18 BVerfGE 11, 105 (111). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 8 wird.19 Insbesondere ist somit Voraussetzung für eine Versicherung, dass die Mittel der Versicherung durch Beiträge der Mitglieder aufgebracht werden.20 Das vorgeschlagene Modellprojekt bezöge seine Mittel aber aus Steuergeldern und nicht aus Beiträgen , sodass die Einordnung als Sozialversicherung fraglich erscheint. Dagegen wird argumentiert , dass die Einnahmeseite der Sozialversicherung zunehmend von versicherungsfremden Bundeszuschüssen geprägt und somit steuerfinanziert sei. Der Versicherungscharakter und die konstruktive Basis der Beitragsäquivalenz seien schon heute weitgehend Fiktion und könnten daher nicht Typus prägend sein.21 Dieser Ansatz begegnet jedoch Bedenken. Zwar erfordert der Begriff der Sozialversicherung nicht, dass der gesamte Bedarf aus Beiträgen gedeckt wird.22 So erhält beispielsweise die gesetzliche Rentenversicherung gemäß Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG allgemeine Deckungszuschüsse aus Bundesmitteln. Auch wird der Typus der Sozialversicherung noch nicht verlassen, wenn der Staat gezielt Zuschüsse für die Sozialversicherung bestimmter Gruppen - wie etwa an die landwirtschaftliche Sozialversicherung - zahlt, um z. B. auch die Einbeziehung älterer Personen, die vorher keinen Beitrag gezahlt haben, zu ermöglichen.23 Das Bild ändert sich aber, wenn sich der Staat nicht auf Zuschüsse zu den Versicherungsaufwendungen beschränkt, sondern von der Teilfinanzierung zur Vollfinanzierung übergeht. Hier geht das „Versicherungselement “ verloren.24 Genauso liegt es hier, denn das bedingungslose Grundeinkommen soll einzig aus Steuergeldern finanziert werden. Dies ist auch sachgerecht, da die Zielgruppe aus Empfängern der Grundsicherung besteht. Es kann somit für die experimentelle Gesetzgebung die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht herangezogen werden. Möglicherweise genügt aber die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge ) als Grundlage. Der Kompetenztitel für die „öffentliche Fürsorge“ befugt den Bundesgesetzgeber zur kollektiven Unterstützung bei individueller Bedürftigkeit.25 Er hat sich historisch aus der örtlichen Armenpflege entwickelt und fand sich noch in der Weimarer Reichsverfassung. Fürsorge im traditionellen Sinne ist daher die Hilfe zum Lebensunterhalt für Hilfebedürftige, und zwar zur Führung eines Lebens, das der Menschenwürde entspricht. Darunter fallen finanzielle, wirtschaftliche, gesundheitliche, geistige und seelische Hilfeleistungen für einzelne Personen. Die Hilfe kann in finanziellen Leistungen und in Sachleistungen bestehen. Die Fürsorge erstreckt sich auch auf die Ausbildung zur Gewinnung einer beruflichen Existenz und Hilfe zum Aufbau 19 BVerfGE 11, 105 (112). 20 ISENSEE, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, 47. 21 OETER, in: v. Mangoldt/Klein 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rn. 105. 22 V. MÜNCH, GG Komm 6. Aufl. 2012, Art. 74 Rn. 56. 23 MAUNZ in: MAUNZ/DÜRIG, GG, Art. 74 Rn. 161-176, beck-online. 24 ISENSEE, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, 47. 25 SEILER in: BeckOK GG/ GG Art. 74 Rn. 23-27, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 9 und zur Sicherung der Lebensgrundlage.26 Dieses Verständnis wurde für die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sowie für die „Sozialhilfe“ nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) angewandt. Dies ist aber nicht abschließend , denn über die klassische Sozialhilfe hinaus werden auch in diesem Titel neue Lebenssachverhalte einbezogen. Voraussetzung ist aber, dass die entsprechenden Leistungen oder Maßnahmen einer Hilfebedürftigkeit des Fürsorgeempfängers abhelfen sollen.27 Das Problem ist insofern das Erfordernis der Hilfebedürftigkeit, denn ein bedingungsloses Grundeinkommen soll ja gerade bedingungslos, also losgelöst von einer etwaigen Hilfebedürftigkeit, ausgezahlt werden. Mit Blick auf das finnische Beispiel ist jedoch, zumindest für das Pilotprojekt , die Gesetzgebung mittels Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG möglich, solange die Teilnehmer aus der Zielgruppe der Bedürftigen (wie auch in Finnland) stammen. Im Ergebnis handelt es sich insofern also um konkurrierende Gesetzgebung. Auf den Gebieten des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht, sodass bei einem bundesweiten Pilotprojekt, in dem die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip ausgewählt würden, die Gesetzgebungskompetenz beim Bund läge. 5.2. Formelle Verfassungsmäßigkeit eines räumlich begrenzten Pilotprojekts Das Modellprojekt in Finnland ist landesweit geplant. Sollte für ein Pilotprojekt in Deutschland eine räumliche Begrenzung – z. B. auf ein Land oder eine Kommune – vorgesehen werden, könnte erneut Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG der einschlägige Gesetzgebungstitel sein. Es ergeben sich für die formelle Verfassungsmäßigkeit nun aber weitere Aspekte: Art. 72 Abs. 2 GG begrenzt die Kompetenz des Bundes und bindet sie an bestimmte materielle Voraussetzungen. Während die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes im Rahmen des Katalogs des Art. 73 GG uneingeschränkt besteht, stellt sich Art. 72 Abs. 2 GG neben den Grenzen der Kompetenztitel des Art. 74 GG als zusätzliche Schranke für die Ausübung der Bundeskompetenz dar. Ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG besteht nicht. Ihrer Stellung im System des Grundgesetzes, ihrem Sinn und dem Willen des Verfassungsgebers kann die Norm nur dann gerecht werden, wenn ihre Voraussetzungen nicht subjektiv von demjenigen bestimmt werden dürfen , dessen Kompetenz beschränkt werden soll.28 Die Erforderlichkeitsklausel unterscheidet alternativ drei mögliche Ziele als Voraussetzung zulässiger Bundesgesetzgebung. Deren Konkretisierung muss sich am Sinn der besonderen bundesstaatlichen Integrationsinteressen orientieren. 26 MAUNZ in: MAUNZ/DÜRIG, GG Art. 74 Rn. 106-118, beck-online. 27 SEILER in: BeckOK/ GG, GG Art. 74 Rn. 23-27, beck-online. 28 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002, 2 BvF 1/01= NJW 2003, 41, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 10 Als Ziele der Gesetzgebung sind, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse aufgeführt . Das Erfordernis der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist nicht schon dann erfüllt, wenn es nur um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen geht. Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist vielmehr erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet. Die Erwägung, dass die Gesetzgebungskompetenz auf Grund der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet beim Bund läge, greift in diesem Falle nicht, wird doch gerade eine Aufspaltung vorgenommen. Die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit betrifft unmittelbar institutionelle Voraussetzungen des Bundesstaats und erst mittelbar die Lebensverhältnisse der Bürger. Eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene erfüllt die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG erst dann, wenn sie eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann. Die „Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit” liegt im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Rechts- oder Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtssetzung geht. Der Erlass von Bundesgesetzen zur Wahrung der Wirtschaftseinheit steht dann im gesamtstaatlichen, also im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten.29 Schutzgut ist mithin die Funktionsfähigkeit, nicht die Einheitlichkeit der Rechts- oder Wirtschaftsordnung, die gerade durch die Unterschiedlichkeit oder das Fehlen landesrechtlicher Regelungen gefährdet sein müsste. Das zu erlassende Gesetz müsste „erforderlich“ sein, um die Zielvorgabe zu erfüllen. Dieses Kriterium bezieht sich sowohl auf die Frage, ob überhaupt ein Bundesgesetz benötigt wird („wenn“), als auch auf die Folgefrage , welche Regelungsdichte und Reichweite es erlangen darf („soweit“). Es müsste begründet werden können, dass das Schutzgut „Rechtseinheit“ ohne das Bundesgesetz nicht oder nicht hinreichend verwirklicht werden könnte. Bei lediglich gleicher Eignung gebührt den Ländern der Vorrang.30 Diese Erforderlichkeit festzustellen erscheint äußerst zweifelhaft, wenn eine räumliche Begrenzung vorgenommen werden soll, denn dann ist gerade keine Rechtseinheit gewünscht, sodass bei einer Begrenzung der Bund keine Gesetzgebungskompetenz für das Experimentiergesetz hätte. Nun darf aber nicht der zunächst naheliegende Schluss gezogen werden, dass damit automatisch die Länder die Gesetzgebungskompetenz hätten. Wie vorangestellt, ist das Experimentiergesetz konkurrierende Gesetzgebung. Klarstellend muss insofern auf den missverständlichen Charakter des Begriffs „konkurrierend“ hingewiesen werden. Bund und Länder sind, abgesehen von Art. 72 Abs. 3 GG, nur alternativ, nicht parallel zur Gesetzgebung zuständig. Gemeint ist allein, dass der 29 BVerfGE 106, 62 (145). 30 SEILER in: BeckOK GG/ GG Art. 72 Rn. 15, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 11 Bund seine zuvor nur latente Kompetenz in ansonsten, d.h. bislang und im Übrigen, von den Ländern zu regelnden Bereichen kraft Ausübung seines Zugriffsrechts aktualisieren und die Länderzuständigkeit hierdurch beseitigen kann. Die konkurrierende Kompetenz kann also nicht Ausgangspunkt einer gleichzeitigen Regelung derselben Frage sowohl im Bundes- als auch im Landesgesetz sein, sondern ermöglicht stets nur eine Normierung auf einer Ebene (Bund oder Länder ). Die Länderzuständigkeit wird aber nur dann vollständig verdrängt, wenn der Bund eine Materie abschließend geregelt hat. Erlässt der Bund eine Vorschrift, die nur auf Teilfragen ihres Normbereiches eine ausdrückliche Antwort gibt, ist das Gesetz im Wege der Interpretation zu befragen, ob es hiermit eine abschließende Regelung der gesamten Materie bezweckt („beredtes Schweigen “) oder ob es die übrigen Fragen unbeantwortet lässt. Kann ihm der Bedeutungsgehalt entnommen werden, dass die angeordneten Rechtsfolgen in anderen als den unmittelbar geregelten Fällen nicht gelten sollen oder dass in den geregelten Fällen andere als die vorgesehenen Rechtsfolgen ausgeschlossen sein sollen, handelt es sich insoweit um eine abschließende Regelung, deren Sperrwirkung den Ländern die Zuständigkeit entzieht. Schweigt das interpretierte Bundesgesetz dagegen zu weitergehenden Fragen, bleibt die Länderkompetenz insofern bestehen.31 Die bundesgesetzliche Regelung hat für die Gesetzgebung der Länder somit eine Sperrwirkung zur Folge, wenn und soweit sie die betreffende Materie erschöpfend regelt. Ob dies der Fall ist, muss einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes entnommen werden.32 Von einer erschöpfenden und abschließenden Regelung ist daher auch dann auszugehen, wenn der Sache nach ergänzende Regelungen zwar möglich, nach dem erkennbaren Regelungswillen aber ausgeschlossen sein sollen.33 Momentan sind die Regelungen im SGB II und XII in diesem Sinne abschließend, da die in § 2 SGB II normierte Forderkomponente, die experimentell entfallen würde, einen wesentlichen Bestandteil des Sozialrechts ausmacht. „Diese Vorschrift regelt die Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Der erwerbsfähige Hilfebedürftige muss sich vorrangig und eigeninitiativ um die Beendigung seiner Erwerbslosigkeit bemühen. Er muss seine Bedürftigkeit so weit wie möglich beseitigen und aktiv an allen Maßnahmen mitwirken, die seine Eingliederung unterstützen sollen, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Zentrale Forderung des neuen Leistungssystems ist die Eigenverantwortung des Erwerbsfähigen, der alle Möglichkeiten nutzen und vorrangig seine Arbeitskraft einsetzen muss, um seinen und der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Erwerbsfähige soll nicht abwarten dürfen, dass die Agentur für Arbeit ihm eine Arbeitsstelle vermittelt, sondern er muss sich eigenständig um seine berufliche Eingliederung bemühen. Die Eingliederungsleistungen der Agentur für Arbeit unterstützen diese Bemühungen. Ziel ist es, den Erwerbsfähigen möglichst unabhängig von der 31 SEILER in: BeckOK GG/ GG Art. 72 Rn. 1-5.1, beck-online. 32 BVerfGE 7, 342; 49, 343; 67, 299. 33 BVerfGE 32, 319. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 12 Eingliederung in Arbeit durch die Agentur für Arbeit zu machen. Auf Verlangen der Agentur für Arbeit sind erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Erwerbstätigkeit finden können, verpflichtet , eine angebotene Arbeit anzunehmen.“34 Selbst wenn, wie beim Blindengeld, der Landesgesetzgeber die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) nicht tangieren würde, sondern jedem Berechtigten mit Wohnsitz oder ständigem Aufenthalt in dem jeweiligen Bundesland eine Leistung gewähren würde, und zwar unabhängig von Einkommen und Vermögen, wäre dies unzulässig, da damit anders als beim Blindengeld , die besondere Voraussetzungen (Bedürftigkeit) außer Kraft gesetzt würden, was mit der Sperrwirkung der bundesgesetzlichen Regelung nicht vereinbar wäre.35 Nach alledem sind die Regelungen somit der Zugriffsmöglichkeit des Landesgesetzgebers entzogen und entgegenstehende landesrechtliche Bestimmungen würden insofern vom Bundesrecht gebrochen (Art. 31 GG).36 Nach jetzigem Rechtsstand besteht daher weder für den Bund, noch für die Länder eine Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich eines Experimentiergesetzes mit räumlicher Beschränkung, so dass ein Pilotprojekt nicht ohne Weiteres eingeführt werden kann. Diesem Dilemma könnte über eine Öffnungsklausel im SGB II begegnet werden, für die wiederum der Bund die Gesetzgebungskompetenz hätte. Eine vergleichbare Klausel wurde beispielsweise für die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in den Ländern in der Verwaltungsgerichtsordnung im § 68 S. 2 verankert. Dort heißt es: „Einer solchen Nachprüfung bedarf es nicht, wenn ein Gesetz dies bestimmt… “ Es müsste daher für ein räumlich begrenztes Pilotprojekt zunächst im Bundesrecht eine Öffnungsklausel geschaffen werden und hiernach könnte der Landesgesetzgeber im Rahmen seiner konkurrierenden Gesetzgebung tätig werden. 6. Konkrete materielle verfassungsrechtliche Voraussetzungen bei der Umsetzung eines Pilotprojekts zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens Das dem in Finnland angekündigten Pilotprojekt nachempfundene Experiment soll sich ausschließlich an Personen richten, die Leistungen nach dem SGB II beziehen. Die Teilnehmer des Pilotprojektes sollen das Grundeinkommen ohne weitere Verpflichtungen erhalten (insbesondere keine Verpflichtung zu Bewerbungen oder Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen) und für die übrigen Leistungsempfänger würde der Status quo bestehen bleiben. Dies würde zu einer Ungleichbehandlung zwischen den Bedürftigen, die nun das bedingungslose Grundeinkommen erhalten , und anderen Bedürftigen, die weiterhin die regulären Leistungen erhalten, führen, da nur 34 Bundestagsdrucksache 15/1516, 51. 35 Vgl. BVerwGE 117, 172-179. 36 BVerfGE 10, 20 (49); 14, 197 (221). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 13 die erst genannte Gruppe das Grundeinkommen ohne weitere Verpflichtungen erhalten würde. Es würde daher wesentliches Gleiches ungleich behandelt.37 Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber aber nicht jede Ungleichbehandlung . Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich für den Gesetzgeber unterschiedliche Anforderungen an den Differenzierungsgrund, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Der Gleichheitssatz ist umso strikter, je mehr er den Einzelnen als Person betrifft und umso mehr für gesetzgeberische Gestaltungen offen, als allgemeine Lebensverhältnisse geregelt werden. Die durch das Bundesverfassungsgericht geprägten Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung variieren je nach Intensität des Eingriffes in den Gleichheitssatz.38 So ist nach dem sogenannten Willkürverbot der Gleichheitssatz nur verletzt, „wenn sich ein vernünftiger , sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss.“39 Danach rechtfertigt grundsätzlich jede vernünftige Erwägung eine Ungleichbehandlung. Das bloße Willkürverbot greift aber nur bei Eingriffen mit geringer Intensität. Bei Eingriffen mit größerer Intensität kann eine Rechtfertigung nur unter den strengeren Voraussetzungen der sogenannten „neuen Formel vorliegen“. Diese besagt, dass Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl keine Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.“40 Dieses Stufendenken hat das Bundesverfassungsgericht jedoch verlassen.41 Es sei der Prüfungsmaßstab nicht abstrakt zu bestimmen, sondern es komme auf eine Gesamtschau an. Einflussfaktoren seien insbesondere: die Anknüpfung an Persönlichkeitsmerkmale – mit zusätzlicher Verschärfung, wenn diese Merkmale für den Einzelnen nicht verfügbar seien oder sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annäherten ,42 einschlägige Freiheitsgrundrechte und die Möglichkeit für den Betroffenen, durch sein Verhalten die Verwirklichung der Differenzierungskriterien zu beeinflussen. 37 BVerfGE 3, 58 (135). 38 BVerfGE 88, 87 (96 f.). 39 BVerfGE 1, 14 (52). 40 BVerfGE 55, 72 (88). 41 BVerfGE 129, 49 = NVwZ 2011, 1316. 42 BVerfGE 129, 49 = NVwZ 2011, 1316. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 14 Es besteht ein gleitender Prüfungsmaßstab.43 Zu klären ist daher, welcher Maßstab an ein solches Pilotprojekt zu stellen ist. Hierzu werden die einzelnen Aspekte der Ungleichbehandlung zunächst einzeln und dann summiert betrachtet. 6.1. Personelle Begrenzung Ausgangspunkt dieser persönlichkeitsprägenden Kriterien ist Art. 3 Abs. 3 GG. Ein Persönlichkeitsmerkmal , jenseits dieser Auflistung, ist vom Wortlaut her ein Kriterium, das an der Person haftet und in Abgrenzung zu verhaltensbezogenen Merkmalen steht. Diese Auslegung wird gestützt durch das Telos des Art. 3 Abs. 3 GG, der an eine Unterscheidung aufgrund eines derartigen Kriteriums, besonders hohe Anforderungen stellt, denn die Persönlichkeitsmerkmale sind dem Einfluss der jeweiligen Person entzogen. Diese Nichtverfügbarkeit persönlicher Merkmale ist von der sachlichen, verhaltensbezogenen Unverfügbarkeit zu unterscheiden. Sie ist als identitätsbildende Eigenheit eines Menschen in der Nähe von Freiheitsrechten und des Art. 3 Abs. 3 GG geschützt.44 Zwar könnte man annehmen, dass es sich bei dem Merkmal „Hilfebedürftigkeit“ in gewissem Maße um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt, aber dieses Merkmal bildet nur die Gruppe. Die Unterscheidung selbst hingegen beruht letztlich nur auf der Tatsache, dass einige an dem Pilotprojekt teilnehmen und andere nicht, sodass kein Persönlichkeitsmerkmal berührt scheint. Insofern wird wohl für die personelle Begrenzung keine allzu hohe Anforderung an den sachlichen Grund zu stellen sein, auch wenn die Zugehörigkeit des Bürgers zu dem jeweiligen Personenkreises nicht beeinflusst werden kann. Der sachliche Grund für die Ungleichbehandlung ist in der Erwägung zu sehen, dass der Gesetzgeber ein schutzwürdiges Interesse daran hat, die mit der Erprobung naturgemäß verbundenen Unwägbarkeiten eingrenzen und das Vorhaben praktikabel zu gestalten.45 6.2. Räumliche Begrenzung Durch eine räumliche Begrenzung des Pilotprojektes würden die Hilfebedürftigen je nach Wohnort ungleich behandelt werden. Aber auch der Wohnort stellt, anders als der Geburtsort, nach dem oben Gesagten kein personenbezogenes Merkmal dar, sodass eine allgemeine Willkürprüfung ausreichen würde. Der sachliche Grund würde sich wie oben auch aus dem Experimentiercharakter ergeben. Zu berücksichtigen ist aber, dass die Testregionen nach strukturellen Kriterien ausgewählt werden müssen, damit später belastbare Rückschlüsse auf das Staatsgebiet insgesamt möglich sind, 43 KISCHEL, in: BeckOK GG/ GG Art. 3 Rn. 45-47, beck-online. 44 KIRCHHOF in: MAUNZ/DÜRIG, GG, Art. 3 Rn. 268. 45 VerfGHE BY 59, 219-231. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 15 denn nur dann können die während des Pilotprojektes gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse auch als aussagekräftige Grundlage für die Entscheidung über eine flächendeckende, dauerhafte Einführung dienen.46 Die Auswahl einer Region, welche ihrer Größe und Struktur nach als durchschnittlich bezeichnet werden kann, wäre demnach wohl nicht zu beanstanden. 6.3. Zeitliche Begrenzung Eine Befristung ist begrifflich bei einem Pilotprojekt impliziert und ist grundsätzlich zur Gewinnung von Erfahrungen und Erkenntnissen zulässig. 47 Dies gilt umso mehr, wenn wie hier ein besonders umstrittenes Konzept getestet werden soll. Der konkrete Zeitraum muss jedoch so gewählt werden, dass die Sammlung sachlich fundierter Daten möglich ist. 6.4. Zwischenergebnis Jeder Punkt scheint für sich keine hohen Hürden für seine Rechtfertigung aufzustellen, jedoch ist nicht absehbar, wie das Bundesverfassungsgericht die Summe aller dieser Punkte werten würde. Aufgrund der Unsicherheit hinsichtlich der Prognose bezüglich des Maßstabs, wird im Weiteren die strengste Form der Rechtfertigung überprüft, mithin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen . 6.5. Verhältnismäßigkeitsprüfung In diesem Zusammenhang sind die eingangs erwähnten Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Gesetzgebungsexperiments zu prüfen, nach denen ein Bedürfnis für einen Test verlangt wird und dieser geeignet, erforderlich und im Ganzen verhältnismäßig sein muss.48 6.5.1. Testbedürfnis Das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens wird auch in Deutschland viel diskutiert ,49 aber aufgrund fehlender empirischer Erkenntnisse erscheint eine auf Dauer angelegte, flächendeckende Einführung im Rahmen einer „normalen“ Gesetzgebung momentan politisch nicht durchführbar, sodass eine Versuchssituation zu attestieren ist. Ein Testbedürfnis liegt somit vor. 46 VerfGHE BY 61, 214-226. 47 VerfGHE BY 59, 219-231. 48 KLOEPFER, Gesetzgebung im Rechtsstaat, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 40, 1981, 93-96 (94). 49 Beispielhaft: WERNER, Einkommen für alle, 2007. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 16 6.5.2. Testgeeignetheit Die personell, räumlich und zeitlich beschränkte Einführung eines Grundeinkommens stellt kein von vornherein ungeeignetes Mittel dar, um diese notwendigen Erfahrungswerte zu erzielen. Insoweit wäre ein Test geeignet, Kenntnisse über die Auswirkungen der Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens zu erhalten. 6.5.3. Testerforderlichkeit Bloße Modellrechnungen oder Planspiele können nicht gleich aussagekräftige Ergebnisse leisten. Zwar wird in Finnland ein grundsätzlich vergleichbares Modellprojekt ab 2017 durchgeführt werden, jedoch sind die Verhältnisse dort nicht 1:1 auf Deutschland übertragbar. Beispielhaft sei insofern aufgeführt, dass sich Finnland jahrelang in der Rezession befand und erst seit dem vierten Quartal 2015 wieder Wachstum verzeichnet.50 6.5.3.1. Verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit jenseits des Pilotprojekts Die Testerforderlichkeit eines Pilotprojektes und damit dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit kann jedoch nicht losgelöst von einer Einschätzung hinsichtlich einer flächendeckenden Einführung beurteilt werden, denn nur, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen auch jenseits eines Pilotprojektes verfassungsrechtlich umsetzbar wäre, ist auch die Erprobung zulässig. Zwar besteht insofern ein geringerer Maßstab, sodass ein Restrisiko verbleiben darf, aber die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit darf sich nicht aufdrängen. Es werden daher nun die rechtlichen Probleme, die mit einer flächendeckenden Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens verbunden wären, skizziert und eingeschätzt. Zwar wird im Schrifttum vereinzelt vertreten, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen grundsätzlich rechtswidrig wäre, dabei wird aber unzulässigerweise nicht die Verfassung, sondern die Lehre Kants als Maßstab gesetzt.51 Zudem wird die Frage nach der politischen Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung mit der rechtlichen Machbarkeit vermischt, sodass diese Sicht letztlich nicht überzeugen kann; denn der Maßstab, an dem eine derartige Regelung zu überprüfen ist, ist allein das Grundgesetz, das aber anpassungsfähig ist. Die Verfassung ist jenseits der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG nicht in „Stein gemeißelt“. 50 Wirtschaft wächst wieder, Finnland kommt aus seiner Rezession, unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft /konjunktur/finnland-kommt-aus-rezession-dank-wirtschaftswachstum-14097039.html (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2016). 51 SÜCHTING, Die Rechtswidrigkeit des bedingungslosen Grundeinkommens. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 17 6.5.3.1.1. Formelle Verfassungsmäßigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens Diese Ewigkeitsgarantie ist zwar nicht betroffen, dennoch erscheint bereits die formelle Verfassungsmäßigkeit problematisch, denn es müsste ein vollständiger Umbau des Sozialstaats erfolgen . Durch die Regelung des Art. 87 Abs. 2 GG über die Institution der bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträger wird das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG dahingehend ergänzt, dass die Schaffung sozialer Sicherungs- und Ausgleichssysteme zum Schutz der sozialen Existenz gegen die „Wechselfälle des Lebens“ eine „Grundaufgabe des Staates“ ist. Eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder seiner tragenden Organisationsprinzipien entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Art. 87 Abs. 2 GG allerdings nicht, sodass ein Umbau grundsätzlich möglich erscheint.52 Dennoch stößt die, für das Pilotprojekt noch ausreichende, Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG nun an ihre Grenzen, da die soziale Fürsorge von Bedürftigkeit oder zumindest einem Nachteilsausgleich gekennzeichnet ist. So sind gesetzliche Regelungen wie das Contergan-Gesetz vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG eingeordnet worden. Demnach spielt es für die Hilfsmaßnahmen keine entscheidende Rolle mehr, ob die Betroffenen sich wirtschaftlich selbst helfen oder Hilfe von nahen Angehörigen erhalten können. Im Vordergrund steht vielmehr der Gesichtspunkt des Ausgleichs für erlittene oder noch vorhandene besondere Notlagen oder Belastungen unabhängig von Einkommen oder Vermögen. Aufgrund dieser Entwicklung kann Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG wohl auch als die maßgebliche Kompetenz für das Bundeskindergeldgesetz herangezogen werden.53 Zusammengefasst ist Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG also sowohl dann eröffnet, wenn die geregelte Materie wirtschaftliche Hilfebedürftigkeit, als auch dann, wenn sie anderweitige besondere Belastungssituationen vermindern soll. Jedoch ist selbst dieses weite Verständnis nicht ausreichend für den in Rede stehenden Umbau des Sozialstaats, denn ein bedingungsloses Grundeinkommen wird gerade durch die Bedingungslosigkeit geprägt, sodass keine Form einer Bedürftigkeitsprüfung für die Sozialleistung mehr stattfinden dürfte. Es greift insofern auch nicht der Gedanke des sog. „argumentum a maiore ad minus“, denn die Regelungen für die Fürsorge mit dem Erfordernis der Bedürftigkeit sind kein „Weniger“ sondern ein „Mehr“ an Anforderungen. Nur umgekehrt würde der „Erst-recht- Schluss“ greifen, wenn also eine Kompetenznorm für Sozialleistungen ohne Bedürftigkeitsprüfung bestehen würde, so dürften erst Recht auf Grund dieser Kompetenznorm auch Sozialleistungen mit Bedürftigkeitsprüfung normiert werden. Ein entsprechender Kompetenztitel existiert aber wegen des in § 2 SGB II normierten Grundsatzes des Forderns konsequenterweise nicht. 52 IBLER in: MAUNZ/DÜRIG, GG, Art. 87 Rn. 162, beck-online. 53 MAUNZ in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 106-118, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 18 Dies beruht auf dem bisherigen Verständnis von Sozialleistungen. Vor diesem Hintergrund ist dem Grundgesetz ein derartiger Kompetenztitel fremd und dem Bund steht keine verfassungsrechtlich normierte Gesetzgebungskompetenz zu, sodass die Länder gem. Art. 70 GG die Gesetzgebungskompetenz innehätten. Möglicherweise könnte sich der Bund aber auf die ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz „Kraft Natur der Sache“ berufen. Kompetenzen kraft Natur der Sache resultieren nach klassischer Definition aus einem „ungeschriebenen, im Wesen der Dinge begründeten, mithin einer ausdrücklichen Anerkennung durch die Reichsverfassung nicht bedürftigen Rechtssatz, wonach gewisse Sachgebiete, weil sie ihrer Natur nach eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheiten des Reichs darstellen, vom Reiche und nur von ihm geregelt werden können“.54 Das Bundesverfassungsgericht hat sich diesem Verständnis inhaltlich angeschlossen. Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Zuständigkeit kraft Natur der Sache ist vor diesem Hintergrund zunächst, dass es sich bei der fraglichen Regelungsbefugnis um eine Kompetenz handelt, die verfassungsgesetzlich nicht ausdrücklich geregelt und namentlich nicht eindeutig den Ländern zugeordnet ist, begrifflich aber zwingend ausschließlich dem Bund zustehen kann. Eine solche, begriffsnotwendige Zuständigkeitswahrnehmung alleine durch den Bund liegt nur dort vor, wo eine landesgesetzliche Regelung unmöglich ist. Dies engt den Anwendungsbereich der Kompetenz kraft Natur der Sache von vornherein erheblich ein. So ist eine landesgesetzliche Regelungsfähigkeit bereits dann gegeben, wenn die Bundesländer zwar nicht einzeln, wohl aber im Wege der Selbstkoordinierung durch eine gegenseitig abgestimmte Gesetzgebung in der Lage sind, entsprechende Regelungswerke zu erlassen. Nicht ausreichend für die begriffsnotwendige Zuordnung einer Sachmaterie zum Bund ist auch ein alleiniger Rückgriff auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen oder auf die Überregionalität einer Sachmaterie. Bereits deshalb sind die Anforderungen für die Bejahung einer Bundeskompetenz kraft Natur der Sache erheblich. In der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ist eine Bundeskompetenz kraft Natur der Sache vor diesem Hintergrund bejaht worden für die Festlegung des Sitzes der Verfassungsorgane des Bundes, für die Bestimmung der Bundessymbole sowie für die Festlegung nationaler Feiertage. Demgegenüber ist sie durch das Bundesverfassungsgericht z. B. verneint worden für das öffentliche Baurecht und für die bundeseinheitliche Regelung der Führung der Berufsbezeichnung „Ingenieur“, außerdem – wegen der Möglichkeit der Selbstkoordination der Länder – auch für Regelungen, die die einheitliche deutsche Rechtschreibung betreffen.55 Es erscheint daher zweifelhaft, dass für den Bund bei einer so weit reichenden Entscheidung, wie der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, diese ungeschriebene Kompetenz ausreichen würde. Zwar ist zu beachten, dass es sich insofern um eine raumbedeutsame gesetzgeberische Entscheidung für die gesamte Bundesrepublik handeln würde. Mit Blick auf die letztgenannte Entscheidung erscheint es aber möglich, dass diese Kompetenz jedoch nicht eingreift, sodass eine Gesetzgebung jenseits des Experiments für den Bund nur mit einer Verfassungsänderung möglich wäre. Diese Frage kann letztlich aber nur das Bundesverfassungsgericht klären. 54 ANSCHÜTZ, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, 363 ff. (367). 55 UHLE in: MAUNZ/DÜRIG, GG, Art. 70 Rn. 75-78, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 19 6.5.3.1.2. Existenzminimum und Lohnabstandsgebot Fraglich ist, welche Höhe eines Grundeinkommens rechtlich möglich ist. Rechtlich unbedenklich erscheint eine Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens, die sich an der Höhe der momentanen Regelsätze orientiert und somit nur das Existenzminimum sichert. Ob aber ein höheres Grundeinkommen wie etwa in Höhe von 1.200 Euro, wie es die ursprünglichen Ansätze vorsahen ,56 ebenfalls umsetzbar wäre, bedarf einer weiteren Prüfung. Das bedingungslose Grundeinkommen ist kein feststehender, sondern ein in der Entwicklung befindlicher Begriff. Dementsprechend gibt es insofern auch verschiedene Ansätze. Einer der ältesten Ansätze ist die sogegannte „negative Eigentumssteuer“. Dieser besagt vereinfacht, dass der Staat für Erwerbseinkommen einen Grenzwert festlegt, oberhalb dessen Steuern zu bezahlen sind und unterhalb dessen ein Anspruch auf einen Zuschuss besteht.57 Die Personen, die oberhalb dieser Grenze Einkommen erzielen, haben ihrerseits zwar keinen Anspruch auf bedingungsloses Grundeinkommen, finanzieren aber das Grundeinkommen der Personen, die unterhalb dieser Grenze über Einkommen verfügen, ohne dass diese Personen zwangsläufig im klassichen Sinne bedürftig sein müssten. Problematisch ist hierbei die Wahrung des Lohnabstandsgebots, das auf dem 2. Haushaltsstrukturgesetz aus dem Jahr 1981 beruht. Die Bundesregierung war seinerzeit der Ansicht, dass in Zeiten geringer Lohnzuwächse und steigender Lebenshaltungskosten dem nicht erwerbstätigen Sozialhilfeempfänger für den Lebensunterhalt nicht mehr zur Verfügung stehen dürfe als einem Berufstätigen. Es müsse erstrebenswert bleiben, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit sicherzustellen und unabhängig von Sozialhilfe zu leben.58 Bis zum 31. Dezember 2010 war dieses Gebot mit leichten Änderungen in § 28 Abs. 4 SGB XII verankert. Im Zuge der Neugestaltung der Regelbedarfe durch das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz sind § 28 Abs. 4 SGB XII und die Regelsatzverordnung mit Wirkung zum 1. Januar 2011 ersatzlos entfallen. Grund hierfür war der konsequente Ausbau des Niedriglohnsektors, denn dieser hatte dazu geführt, dass sich das Lohnabstandsgebot in bestimmten Marktsegmenten geradezu umgekehrt hatte. Vielfach lagen die Regelsätze dort nicht mehr unterhalb der erzielbaren Nettoarbeitsentgelte , sondern lagen bestimmte Nettoarbeitsentgelte unter dem Niveau der Regelsätze. Eine noch tiefere Absenkung der Regelsätze wäre jedoch verfassungsrechtlich unzulässig gewesen, sodass der Sinn und Zweck der Regelung entfiel und die Regelung aufgehoben wurde. Mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens oberhalb der Regelsätze, mithin des Existenzminimums , könnte das Lohnabstandsgebot möglicherweise wieder relevant werden. Möglicherweise ist eine solche Regelung nicht nur eine politische Frage, sondern entfaltet auch eine verfassungsrechtliche Relevanz. Konkret ist zu klären, ob ein Lohnabstandsgebot verfassungsrechtlich zwingend wieder eingeführt werden müsste. 56 dm-Chef Werner zum Grundeinkommen "Wir würden gewaltig reicher werden", unter: http://www.spiegel .de/wirtschaft/dm-chef-werner-zum-grundeinkommen-wir-wuerden-gewaltig-reicher-werden-a-386396.html (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2016). 57 SHINDLER, Replace Welfare With a Negative Income Tax, unter: http://economics21.org/html/replace-welfarenegative -income-tax-1479.html (zuletzt abgerufen am 25. Oktober 2016). 58 Bundestagsdrucksache 9/842, 87. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 20 Die damalige Debatte ergibt hierzu keinen Aufschluss, sodass insofern nur grundsätzliche Erwägungen angestellt werden können. In Betracht käme wieder ein möglicher Verstoß gegen Art. 3 GG. Zunächst ist festzuhalten, dass alle Bürger vor dem Staat gleich sind und dementsprechend grundsätzlich auch gleich behandelt werden müssten. Jedoch bekommt derzeit die eine Gruppe Leistungen, während die andere keine erhält. Hierbei ist zu beachten, dass momentan ein sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung besteht, da die Bürger, die Leistungen empfangen ansonsten nicht menschenwürdig leben könnten. Dies sichert aber nur die Voraussetzungen zu, die für die physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.59 Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden, entständen mehrere Probleme. Wie oben dargestellt, würden systembedingt die Bedingung der Hilfebedürftigkeit und damit auch der sachliche Grund für die Ungleichbehandlung wegfallen. Es müsste daher ein neuer sachlicher Grund geschaffen werden, der sich darauf beschränken würde, dass die Bürger ihr Leben frei gestalten können sollen. Des Weiteren müsste auch eine grundsätzlich zu rechtfertigende Ungleichbehandlung angemessen sein. Dies hätte zur Folge, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen der Höhe nach so ausgestaltet sein müsste, dass die Zahlungen keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber den Personen darstellen würde, die keine Leistungen erhalten, da sie durch Arbeit im herkömmlichen Sinne ihren Lebensunterhalt aufbringen könnten. Sollte die Ambition dahingehen, einen feststehenden Betrag oberhalb des Existenzminimums zu bestimmen, wäre dies verfassungsrechtlich somit nur zulässig, wenn erst gar keine Ungleichbehandlung bestände. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass tatsächlich alle Personen die gleiche Geldsumme erhalten würden, unabhängig von der Frage, ob sie hinzu Geld aus ihrer Arbeit erhielten und insofern auf das Geld an sich gar nicht angewiesen wären. Eine derartige Konstruktion würde jedoch voraussichtlich durch eine Anpassung des Marktes an die Einkommensverhältnisse aufgehoben werden, sodass die neue Nulllinie nach einer gewissen Zeit praktisch den zuvor festgelegten Betrag erreichen würde. Außen vorgelassen ist hierbei die Frage, wie der Leistungsbetrag festgelegt werden könnte, da das Bundesverfassungsgericht insofern ausgeführt hat, dass die Ermittlung des Anspruchsumfangs durch den Gesetzgeber in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren vollzogen werden muss.60 Ein Grund, von dieser Praxis bei einem bedingungslosen Grundeinkommen abzurücken, ist nicht ersichtlich. 59 BVerfGE 125, 175 – 260. 60 BVerfGE 125, 175 - 260. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 21 6.5.3.1.3. Eigentumsrechtlicher Schutz erworbener Rentenanwartschaften und -ansprüche Rentner sind zwar nach dem finnischem Pilotprojekt keine potentiellen Teilnehmer, müssten aber bei der flächendeckenden Einführung eines Grundeinkommen einbezogen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbene Anwartschaften und Ansprüche öffentlich-rechtliche vermögenswerte Positionen darstellen, die dem Einzelnen nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet sind und daher vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst werden.61 Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens müsste darauf entsprechende Rücksicht nehmen und wäre daher nur mit Übergangsregelungen denkbar und kann letztlich erst für zukünftige Generationen tatsächlich umgesetzt werden . 6.5.3.2. Zwischenergebnis Es bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Hürden für eine flächendeckende Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Insbesondere würde diese wohl eine Verfassungsänderung verlangen. Eine Änderung der Verfassung wäre aber, einen entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, rechtlich möglich, da die Ewigkeitsklausel nicht betroffen wäre. Die Hürden wären somit überwindbar und es besteht daher letztlich Testerforderlichkeit für ein Pilotprojekt. 6.5.4. Testverhältnismäßigkeit im engeren Sinne Schließlich stellt sich somit die Frage nach der Testverhältnismäßigkeit im engeren Sinne, mithin der Angemessenheit. Hierzu müssen die zu erreichenden Erkenntnisse und die mit dem Pilotprojekt verbundenen Gefahren und möglichen Schäden ins Verhältnis gesetzt werden. Insbesondere müssen die Risiken möglichst gering gehalten werden. Dies wird durch die Befristung gewährleistet. Für tatsächlich verwertbare Erkenntnisse muss das Pilotprojekt realitätsnah und ergebnisoffen durchgeführt werden. Insbesondere darf keine Präjudizierung durch die Versuchsanordnung geschaffen werden und es dürfen keine irreversiblen Sach- und Rechtslagen entstehen . Die sich anschließende Auswertung muss durch weisungsfreie Kommissionen erfolgen. Ferner müssen Vorsorge und Auffangregeln für die Teilnehmer geschaffen werden. Sobald das Pilotprojekt begonnen hat, darf es nicht ohne triftigen Grund vorzeitig abgebrochen werden.62 Es ist, wie oben dargestellt, sowohl eine Befristung der Auszahlung des Grundeinkommens, als auch eine Auswertung der gewonnen Erkenntnisse, nach Abschluss der Auszahlungsphase vorgesehen . Vor Durchführung eines Pilotprojektes müsste allerdings beurteilt werden, welche Kosten mit einem Fehlschlag des Versuches einhergehen würden und wie diese zu bewältigen wären . Außerdem wäre durch entsprechende Regelungen sicher zu stellen, dass die Teilnehmer keine Nachteile erlitten. Sodann könnte ein Experimentiergestz geschaffen werden. 61 BVerfGE 69, 272 (300). 62 KLOEPFER, Gesetzgebung im Rechtsstaat, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Heft 40, 1981, 93-96 (95). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 22 7. Europarechtliche Bezüge Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens geben jedoch zu bedenken, dass solch tiefgreifenden Veränderungen nur in einem Länderverbund, also europaweit eingeführt werden könnten, da anderenfalls die Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens eine Sogwirkung entfalten könnte und eine massive Migrationswelle aus ärmeren Mitgliedstaaten zur Folge haben könnte.63 Die Unterstützer des Volksentscheids zum Grundeinkommens in der Schweiz wollten bei ihrer Initiative dieser Entwicklung mit einer Wartefrist für Einwanderer entgegentreten. Dies würde zumindest zu einer Verzögerung eines Anspruchs führen. Fraglich ist daher, ob EU-Ausländer, zumindest zeitlich begrenzt, von derartigen Ansprüchen ausgeschlossen werden können oder darin eine, mit dem EU-Recht unvereinbare Regelung zu sehen wäre. Im Zentrum des Streits stehen im Wesentlichen zwei europäische Regelwerke, die das Problem der Zuwanderung innerhalb der Grenzen der EU geradezu konträr lösen: Die europäische „Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ (VO Nr. 883/2004) stellt in Art. 4 klar, dass alle EU-Bürger gleich behandelt werden müssen. Dieser lautet: „Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“ Die gleiche Frage regelt Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG der „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen “, allerdings mit dem umgekehrten Ergebnis, denn diese „Unionsbürgerrichtlinie“ erlaubt es den Mitgliedstaaten ausdrücklich, EU-Ausländer von der Sozialhilfe auszunehmen. Dort heißt es: „Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“ Ausgangspunkt war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das erlaubt, Sozialhilfe erst dann zu gewähren, wenn der Arbeitsuchende eine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt des Aufenthaltsstaats hergestellt hat.64 Von dieser Ausnahme hat Deutschland mit § 7 SGB II Gebrauch gemacht. 63 TRIBELHORN, Bedingungsloses Grundeinkommen, Oswald Siggs Realismus, unter: http://www.nzz.ch/schweiz/aktuelle-themen/bedingungsloses-grundeinkommen-oswald-siggs-realismusld .15922 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2016). 64 EuGH, Urt. v. 20. September 2001, C-184/99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 23 Wegweisend für die weitere Entwicklung war im Folgenden das Urteil in der Rechtssache Dano.65 Der EuGH musste sich in diesem Fall mit der Frage auseinandersetzen, ob EU-Ausländer von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können, wenn sie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen und in einen anderen Mitgliedstaat ziehen, ohne sich dort ernsthaft um Arbeit zu bemühen. Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten nicht erwerbstätige Unionsbürger, die sich allein mit dem Ziel, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, von bestimmten Sozialleistungen ausschließen dürfen. Eine Gleichbehandlung mit den Bürgern des Mitgliedstaats könne durch einen EU-Ausländer nur verlangt werden, wenn er oder sie mit dem Aufenthalt die Voraussetzungen der Unionsbürgerrichtlinie66 erfüllt. Ein Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, der diese Voraussetzungen erfüllt, besteht über drei Monate hinaus nach Art. 7 RL 2004/38/EG aber nur, wenn der Betreffende einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder aber seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten kann und über eine Krankenversicherung verfügt. Nur dann hat er neben dem tatsächlichen Aufenthalt auch einen zulässigen Aufenthalt. Zusammengefasst bedeutet dies, dass im Rahmen des Vorliegens eines den Anspruch begründenden Inlandswohnsitzes (§ 7 Abs. 1 Nr.4 SGB II) nicht nur dessen faktische Existenz, sondern auch dessen aufenthaltsrechtliche Zulässigkeit geprüft und gegeben sein muss. Es wurde damit klar gestellt, dass ein anspruchsbegründender Inlandswohnsitz nur besteht, falls der Berechtigte auch im Inland aufenthaltsberechtigt ist. Weitergeführt wurde dies dann in der Rechtssache Alimanovic.67 Das Bundessozialgericht hatte einen Fall zur Vorabentscheidung vorgelegt und wollte wissen, ob ein derartiger Ausschluss auch bei Unionsbürgern zulässig sei, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnahmemitgliedstaat begeben hätten und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben. Der EuGH führte aus: „Für Arbeitsuchende ... gibt es ... zwei Möglichkeiten, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen: Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr gearbeitet hatte und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung, behält er seine Erwerbstätigeneigenschaft und sein Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. Wenn ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitsuchender nicht aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnahmemitgliedstaat jedoch jegliche Sozialhilfeleistung verweigern.“ Flankiert werden diese Entscheidungen durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Garcia- Neto.68 Der EuGH erklärte konsequenterweise, dass die Staaten in den ersten drei Monaten nach 65 EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Rs. C-333/13.eil 66 Richtlinie 2004/38/EG. 67 EuGH, Urteil vom 15. September 2015, C 67/14. 68 EuGH, Urteil vom 25. Februar 2016, C-299/14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 24 der Einreise keine Sozialleistungen zahlen müssen, denn dem EuGH zufolge haben EU-Bürger zwar das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten für bis zu drei Monate aufzuhalten. Die EU-Richtlinie erlaube den Mitgliedstaaten aber, "zur Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts" ihrer Sozialsysteme den Betroffenen in diesem Zeitraum "jegliche Sozialhilfeleistungen zu verweigern". Unter Sozialleistungen versteht der EuGH aber nur Sozialleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004, mithin die beitragsunabhängigen Leistungen. Ausschlaggebend für die Einordnung als beitragsunabhängige Leistung ist, ob sie auf der einen Seite dem Betroffenen ein Existenzminimum aus dem Steueraufkommen sichern und auf der anderen Seite die Leistung auf Grund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands und ohne eine auf Ermessensausübung beruhende Einzelfallprüfung erfolgt.69 Insofern sei auf den Anhang X der Verordnung Nr. 883/2004 verwiesen ; in diesem wird die Grundsicherung richtigerweise als beitragsunabhängige Geldleistung aufgeführt . Sozialleistungen, die wie die Leistungen nach dem SGB XII ein Ermessen beinhalten, werden hingegen als „echte“ Sozialhilfe gewertet. Das Bundessozialgericht (BSG) hat als Reaktion auf die Entscheidung des EuGH in der Sache Alimanovic letztlich entschieden, dass materiell nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger im Einzelfall Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Recht der Sozialhilfe als Ermessensleistung beanspruchen könnten; das Ermessen des Sozialhilfeträgers sei im Regelfall bei einem verfestigten Aufenthalt nach mindestens sechs Monaten auf null reduziert. Es führte aus: „Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zu erlangen seien, sei der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stünden. Als Menschenrecht - und dies ist hier entscheidend - stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zu (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 159 = SozR 4-3520 § 3 Nr. 2 RdNr 89, unter Hinweis auf BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr. 12). Eine pauschale Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der existenzsichernden Leistungen ausdrücklich abgelehnt (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, 164 = SozR 4- 3520 § 3 Nr. 2 RdNr 99).“ 70 69 FRINGS, Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger unter dem Einfluss der VO (EG) Nr. 883/2004, ZAR 9/12, 320. 70 BSG Urteil vom 3. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 25 Als Reaktion auf die dargestellte Rechtsprechung liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, der darauf abzielt, dass EU-Bürger temporär von Sozialleistungen ausgeschlossen werden.71 Es erscheint somit die Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen unter den Begriff der Sozialhilfe fiele oder eine beitragsunabhängige Geldleistung wäre, denn von erstgenannten Leistungen dürfen die EU-Ausländer nicht ausgeschlossen werden. Es ist nicht vorhersehbar, wie der EuGH die oben genannten Voraussetzungen auf das bedingungslose Grundeinkommen übertragen würde. Viel spricht allerdings dafür, dass er diese als beitragsunabhängige Geldleistung bewerten würde, da wegen der systemimmanenten Bedingungslosigkeit kein Ermessen erfolgen dürfte. Dies hätte zur Folge, dass EU-Ausländer, unter den oben angegebenen Voraussetzungen, zeitlich ausgeschlossen werden könnten. 8. Fazit Die betroffene gesetzgeberische Materie des Experimentiergesetzes dürfte in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung fallen. Für ein bundesweites Pilotprojekt könnte der Bund befugt sein, ein Erprobungsgesetz zu erlassen. Aufgrund der personellen Begrenzung des Modellprojektes käme es dabei zu einer Ungleichbehandlung. Sachlicher Grund dieser Ungleichbehandlung wäre der Experimentiercharakter des Erprobungsgesetzes. Das Bundes verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber im Bereich der sozialen Sicherung einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt , sodass diese Ungleichbehandlung wohl gerechtfertigt wäre, solange die Auswahl innerhalb der Zielgruppe zufällig erfolgen würde. Für ein auf einzelne Länder oder Kommunen begrenztes Pilotprojekt müsste zunächst im Bundesrecht eine Öffnungsklausel im SGB II geschaffen werden, die den Ländern gestatten würde, im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung tätig zu werden. Die räumliche Begrenzung des Projekts wäre verfassungsrechtlich zulässig, soweit die Auswahl der Modellregion anhand von sach- und systemgerechten Kriterien stattfände und die Gewinnung aussagekräftiger Erfahrungswerte gewährleistet wäre. Auch die zeitlichen Beschränkungen des Modellprojekts wären verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden . Es müssten zudem Regelungen über die Evaluierung der gesammelten Erfahrungen nach Ablauf der Erprobungsfrist geschaffen werden. Die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten bei einer eventuellen späteren flächendeckenden Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wären mutmaßlich zu bewältigen und einer Sogwirkung auf EU-Bürger aus ärmeren Mitgliedstaaten könnte wohl im Einklang mit dem Unionsrecht gesetzgeberisch entgegen getreten werden. 71 Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch , Bundesrats-Drucksache 587/16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 115/16 Seite 26 9. 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